Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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Schreibtisch und blickte seinen unerwarteten Besucher auffordernd an.

      "In der Buchhandlung wurde mir gesagt, dass Ellen dort nicht mehr arbeite", begann Georg und es klang wie eine Rechtfertigung. "Aber die Atmosphäre war frostig, als mir auf mehrfaches Fragen endlich geantwortet wurde. 'Frostig' ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck; 'beklommen' oder 'beschämt' trifft das Klima in dem Laden wahrscheinlich besser. Jedenfalls schlug die Stimmung unmittelbar um, als ich Ellen zu sprechen verlangte, und niemand war bereit, mir mehr zu sagen als dass sie nicht mehr dort beschäftigt sei. Ich hatte das Gefühl, dass die meisten Mitarbeiter in dem Laden am liebsten geleugnet hätten, Ellen überhaupt gekannt zu haben."

      Der alte Herr hinter seinem Schreibtisch strich wie aus Verlegenheit über sein dichtes graues Haar, ließ seine Augenlider müde fallen, um schließlich verwundert festzustellen:

      "Sie besitzen ein feines Gespür für die Menschen. Das habe ich gar nicht bemerkt, als wir uns kennenlernten."

      Es klang wie ein Vorwurf an sich selbst.

      Aber falls Georg wirklich feinfühlig war – er selbst hätte das niemals von sich behauptet –, er war auch hartnäckig. Auf die Bemerkung des alten Herrn ging er nicht ein, sondern wartete stumm auf eine Antwort. Er wollte wissen, wo Ellen sich befand.

      "Ich sehe schon - - Sie sind unnachgiebig in Ihrem Wissensdrang."

      Wieder überzog ein väterlich verzeihendes Lächeln sein Gesicht. Er seufzte, und Georg glaubte schon, das sei alles, was er als Antwort erhielte. Aber dann entschloss er sich doch noch zu einer Erklärung:

      "Ich bin Jude."

      Noch einmal lächelte er. Resigniert und belustigt zugleich.

      "Ellen war sehr verwundert, dass Ihnen unser Name nicht sofort verraten haben sollte, welchem Glauben meine Väter anhingen."

      Er machte eine Pause. Es fiel ihm sichtlich schwer, mit einem im Grunde Fremden über seine Außenseiterstellung zu sprechen. Aber Georg war fest entschlossen, nicht eher zu gehen, bis er wusste, wo Ellen sich aufhielt. Und der alte Herr schien es zu wissen.

      "Das moderne Deutschland, dessen Aufstieg vor einem Jahr oder vielleicht schon eher begann, mag uns nicht. Wir seien bestenfalls unliebsame Gäste, wird uns bedeutet; auch wenn wir hier schon seit Generationen leben, und erst recht, wenn unsere Anpassung so weit gediehen ist, dass Ehen zwischen Christen und Juden kaum noch ungewöhnlicher sind als solche zwischen Katholiken und Protestanten."

      Sein Blick, der aus dem bunten Fenster hinaus in den Hinterhof gegangen war, kehrte zu Georg zurück:

      "Sie müssen wissen, dass meine Frau selbstverständlich Christin geblieben ist, und Ellen wurde mehr oder weniger ohne Religion erzogen. Ich selbst bin etwa das, was man im Katholizismus als nicht praktizierend bezeichnen würde. Mein Glaube ist mir im Schützengraben vor Verdun irgendwie abhanden gekommen."

      Seine Stimme war traurig.

      "Aber ich bin nicht konvertiert. Es wäre eine Art Verrat an meinen Vätern und Vorvätern gewesen, und auch Heuchelei gegenüber dem einen Gott, an den Christen und Juden gleichermaßen glauben - -glauben sollten. Wissen Sie, Religion hat viel mit Gewohnheiten, Traditionen und einer Vergangenheit zu tun, die nicht mehr verändert werden kann."

      Das alles war nichts Neues und Georg hatte nicht gewollt, dass der alte Herr ihm seinen Glauben oder andere Dinge anvertraute, die nur ihn etwas angingen. Dennoch wandte er beschämt seine Augen ab, als ihn der resignierte Blick des weißhaarigen Provisors traf. Woher nahm er das Recht, den alten Mann derart zu bedrängen?

      Aber nun hatte Ellens Vater sich entschlossen, über seine Lebensangst und die Ausweglosigkeit seiner Existenz zu sprechen. Vielleicht zum ersten Mal überhaupt.

      Georg war gerührt. Gleichzeitig schien ihm die Situation beschämend: ein alter Mann, der traurig und ohne expliziten Vorwurf vom Zusammenbruch seiner Familie und seines Lebens berichtete, in der Offizin, die gleichsam sein Lebenswerk darstellte, - - und er, Georg, der nicht betroffen war, als unbeteiligter, peinlich berührter Zuschauer - - aber vielleicht war er gar nicht unbeteiligt - - als deutscher Volksgenosse, wie er neuerdings genannt wurde - - Opfer und Täter seien sie gewesen, der alte Provisor und er, so würde es später heißen - - ohne Hass, ohne Aggression, aber Feinde auf Befehl. Weil die Politik es wollte.

      Georg erkannte das Absurde der Situation und wusste im gleichen Augenblick, dass ihm diese Stunde in der engen Offizin für immer im Gedächtnis bleiben würde. Obgleich sie sinnlos war. Nutzlos. Nichts würde sie ändern.

      Schließlich meinte der alte Herr: "Ich habe Ellen und meine Frau veranlasst, Berlin zu verlassen. Sie werden in Zukunft bei ihren christlichen Verwandten leben. Meine Frau hat sich geweigert, einvernehmlich in eine Scheidung einzuwilligen, die ihr von den Behörden nahegelegt wurde. Es wäre die einzige Sicherheit gewesen, die ich ihr noch hätte geben können. Aber wenigstens die räumliche Trennung habe ich durchgesetzt."

      "Und Sie?", fragte Georg.

      "Ich werde hier bleiben, meine Apotheke weiter betreiben, die nächsten Schmierereien abwaschen, meine Kunden bedienen, von denen es immer weniger geben wird, bis ich schließlich allein hier sitzen werde und auf meine endgültige Vertreibung warte - - "

      "Aber - - "

      Der alte Herr hob lächelnd und abwehrend eine Hand:

      "Ich weiß, was Sie sagen wollen. Aber ich bin zu schwach, mich zu wehren. Vielleicht nehmen wir alle, die wir uns Juden nennen, zu gern unsere Opferrolle an. Vielleicht ist es unser Schicksal." Er schaute Georg zweifelnd an. "Und ich besitze keine Verwandten in einem fernen, fremden Land, dessen Sprache ich nicht beherrsche und dessen Gewohnheiten ich nicht kenne. Und ich fühle mich viel zu alt, um in der Fremde von vorn zu beginnen."

      Sie schwiegen beide.

      Der Alte erschöpft und resigniert. Der Junge zornig und deprimiert. Georg war wütend, aber seine Wut hatte kein Ziel. Und selbst wenn er gewusst hätte, gegen wen seine Aggressionen sich richten könnten – wem hätten sie genützt? Er fühlte sich überflüssig. Ohnmächtig. Fast wie der alte Mann ihm gegenüber.

      "Noch ein Wort zu Ellen", sagte ihr Vater, "die ebenso wenig versteht wie Sie. Die ebenso zornig ist."

      Wieder kroch dieses widernatürliche, verzeihende Lächeln in seine Mundwinkel.

      "Aber Ihr Zorn wird sich legen, Sie werden die Realitäten als gegeben hinnehmen. Und wenn Sie gelegentlich Ihre Ohnmacht bedauern, wird das viel sein und einen guten Menschen aus Ihnen machen. Sie werden stolz sein auf ihr sporadisches schlechtes Gewissen. Und Sie werden sich vergeben."

      Er lehnte sich zurück und schien zufrieden mit sich und der Welt. Ein alter weiser Mann, der das Leben nicht wichtiger nahm als sich selbst. Er schaute scheinbar glücklich in den tristen Hinterhof. Offenbar hielt er das Gespräch für beendet.

      Aber Georg blieb hartnäckig. Er beugte sich vor, legte seine Hände auf beide Knie, sah den alten Herrn auffordernd an und schwieg. Er hatte eine Frage gestellt und wartete auf Antwort. Nach einer Weile lächelte der alte Mann wieder und sagte:

      "Ich habe Ellen versprochen, Ihnen nicht zu verraten, wo sie sich befindet. Und ich stimme ihr zu: es ist besser für Sie, die Bekanntschaft nicht fortzusetzen. Vergessen Sie uns alle."

      Mehr war von ihm nicht zu erfahren.

      Sie verabschiedeten sich ohne Herzlichkeit voneinander. Der kurze Augenblick einer ungewissen Gemeinsamkeit war vorbei.

      Es hat dem alten Herrn gut getan, dass ich ihm zugehört habe, dachte er nach ein paar Stunden. Und am nächsten Tag fühlte er vage, wie sich sein unbestimmter Zorn gegen den senilen Schwätzer zu richten begann, der es verstanden hatte, ihm wenigstens für einen Augenblick ein Schuldgefühl einzureden, ein Gewissen, das er nicht gebrauchen konnte. Weder jetzt noch später. Es behinderte ihn.

      Er überwand es.

      Erkundigungen über Ellen und ihren Aufenthaltsort zog er nicht ein. Viel Neues beschäftigte ihn während der nächsten Tage und Monate. Seine Berliner Zeit neigte sich ihrem Ende zu. Ein völlig