Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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lachte hellauf und zog mit ihrer dunklen Stimme die Blicke des Nachbartisches auf sich.

      Waltraud und Georg wurden keine Freunde. Er blieb der Chef, sie die Angestellte. Aber ein tiefes Vertrauen verband die beiden. Nie machte Georg Witzchen über ihre Vorliebe, und wenn er von Fremden gefragt wurde, riss er seine Augen groß auf, machte ein scheinbar verständnisloses Gesicht und verbat sich stumm oder mit ärgerlichen Worten jede Neugier. Solange sie zum Team gehörte, blieb sie für ihn 'Frau König'; erst später, als sie nur noch in seiner Erinnerung lebte, nannte er sie für sich selbst 'Walter' und vor den anderen 'Herr König'.

      Sein Pachtvertrag begann mit der Übernahme des Restaurantinventars. Der Hotelbetrieb gehörte nicht dazu. Er wurde von einem Hotelfachmann geführt und kannte keine finanziellen Schwierigkeiten. Georg würde sich mit dem fremden Hotelmanagement arrangieren müssen.

      Die Übernahmeverhandlungen verliefen plangemäß. Erst gegen Ende der Zählungen wurde es ein wenig chaotisch. Das war nichts Besonderes. Die Zahlen stimmten. Die Brauerei hatte den Besitzübergang gründlich vorbereitet. Erst nach ein paar Wochen entdeckte Georg in einem bislang verschlossenen Lagerraum, von dem der Hotelpächter behauptete, er gehöre zum Restaurantbetrieb, eine beträchtliche Anzahl ungebrauchter Gartenmöbel. Im Übergabeprotokoll waren sie nicht aufgeführt, und in keiner sonstigen Inventarliste erschienen sie.

      Georg verwendete sie für die Einrichtung eines Gartenrestaurants. Es war nicht der übliche Biergarten im Kiesbett, sondern die Fortsetzung des Hotelrestaurants im Freien. Die Tische standen in einzeln abgeteilten Nischen hinter Heckenpflanzen in Trögen, waren damastgedeckt, und die Gäste wurden jeweils von einem befrackten Oberkellner separat bedient. Das Ambiente des Gartenrestaurants trug viel zum guten Ruf des Hauses bei. Geld allerdings wurde vorwiegend in der Bar verdient. Während des ersten Pachtjahres führte Georg selbst Regie hinter dem Bartresen. Dann bildete er ein Barteam, das die Geschäfte auf eigene Rechnung führte, und nach einiger Zeit verpachtete er die Bar. Seine Pachteinnahmen aus dem Nachtbetrieb waren hoch genug, die laufenden Forderungen der Brauerei für das gesamte Hotelrestaurant zu befriedigen.

      Natürlich blieb sein finanzieller Erfolg nicht verborgen. Er weckte die Begehrlichkeit der Brauereioberen, die so lange – die beiden ersten Pächter waren ein Verlustgeschäft für sie gewesen – auf sichere Pachteinnahmen hatten warten müssen. Nun machte sich die Sorgfalt bezahlt, die Georg auf die Formulierung des Vertragstextes verwandt hatte. Die bayerischen Bierbrauer, deren Produkt in dem anspruchsvollen Restaurant nicht eben in Strömen floss, partizipierten nur wenig am Erfolg ihres Pächters.

      Falls er in ein paar Jahren den Vertrag würde verlängern wollen, müsste er sich etwas einfallen lassen, sonst würde er sich unerfüllbaren Forderungen der Brauerei gegenübersehen. Aber so viel er auch darüber nachdachte und mit seinen Beratern – aus dem Team, aus der Jurisprudenz und aus der Wirtschaftsprüfung – diskutierte, ein gangbarer Ausweg aus dem durch seinen Erfolg selbst geschaffenen Dilemma war vorläufig nicht in Sicht. Aber das Ende des Pachtvertrags für das Seehotel-Restaurant Astoria mit Bar lag ja noch in weiter Ferne.

      Der alte Mann sitzt in seinem Arbeitszimmer

      Er ist wieder allein. Stapelfeld und die Dachdecker sind gegangen. Den Hörer seines Telefons hält er unschlüssig in der Hand. Der Peters hatte er gesagt, dass sie nachmittags hierher ins Privathaus kommen soll, um den Text seiner morgigen Dankesrede mit ihm zu besprechen. Aber eigentlich könnte auch er ins Büro fahren. Wenn er auf eine ausgedehnte Mittagsruhe verzichtete, käme er ihr zuvor. Sie würde ihre Abfahrt ohnehin vorher ankündigen. Vielleicht sollte er seinen Tagesplan spontan ändern und sich im Büro ankündigen.

      Oder er fährt unangemeldet in die Stadt. Es ist immer richtig, hin und wieder seine Angestellten zu überraschen.

      Grinsend legt er den Hörer zurück.

      Was ihn immer wieder wundert, wenn er an die Zeit in Berlin und an seine beruflichen Anfänge zurückdenkt, ist die willige Bereitschaft, mit der die politischen Veränderungen damals von allen akzeptiert wurden. Kaum jemand, den er kannte, stellte die Thesen der neuen Machthaber in Frage. Natürlich gab es Gegner der nationalsozialistischen Doktrinen. Ein paar Querdenker sind immer anderer Meinung als die Mehrheit. Aber einen allgemeinen Aufschrei gegen das Führerprinzip, den Einparteienstaat, gegen die Identität von Partei und Staat, die Herrschaft einer vermeintlichen Elite oder die Allmacht des Staats gab es nicht. Die überwältigende Mehrheit des deutschen Volks stand geschlossen hinter ihrem geliebten Führer. Die Absichten der Machthaber, die für Ruhe und Ordnung auf den Straßen gesorgt hatten, wurden nicht hinterfragt. Die Arbeitslosigkeit war erkennbar überwunden, die Wirtschaft erlebte den versprochenen Aufschwung, Deutschlands Ehre – und was die Wählerscharen dafür hielten – war im Begriff, wiederhergestellt zu werden.

      Der alte Mann verzieht seine faltigen Lippen zu einem verächtlichen Lächeln und formuliert laut in das leere Zimmer:

      "Eine elende Masse, aufgefordert zwischen Wohlstand und Sicherheit auf der einen und der persönlichen Freiheit auf der anderen Seite zu wählen, wird sich immer für Unfreiheit und das unhaltbare Versprechen staatlicher Fürsorge entscheiden – damals, heute und immer wieder."

      Er wird einen solchen Satz niemals in der Öffentlichkeit von sich geben. Sein Inhalt entspricht nicht dem aktuellen Selbstverständnis der Dummen, die überall dominieren. Seine Meinung von den Menschen ist von Geringschätzung geprägt.

      Er übernahm den ersten Pachtbetrieb seiner beruflichen Laufbahn, während die Olympischen Spiele in Berlin begannen. Adolf Hitler war Führer und Reichskanzler der Deutschen. Dass im Jahr zuvor die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei bei den Reichstagswahlen nur vierundvierzig Prozent der abgegebenen Stimmen erreicht hatte, war längst vergessen. Die Rückgliederung des Saarlands wurde mit einundneunzig Prozent Ja-Stimmen begrüßt. Die Nürnberger Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre schufen die Voraussetzungen für die Herrschaft der deutschen Herrenrasse, deren Repräsentanten – klein, schwarzhaarig, behindert – ihrem Idealbild eines deutschen Mannes so gar nicht ähnlich waren; und die nach dem Ersten Weltkrieg entmilitarisierte Zone des Rheinlands wurde besetzt. Deutschland geriet wieder zu einer Macht in Europa. Das war nicht nur die Aussage der politischen Propagandamaschine, sondern die feste Überzeugung der Mehrheit der Deutschen, die auch zu glauben begonnen hatten, dass sie zuvor durch den Versailler Friedensvertrag gedemütigt worden waren.

      Hinzu kam der sichtbare Erfolg der deutschen Wirtschaft. Die Leute waren überzeugt, dass es ihnen besser ging als je zuvor. Ein neues Bürgertum bildete sich, das es sich leisten konnte, Ferien an der Ostsee zu machen. Und eine neue politische Kaste war entstanden, weniger elitär als bisher, aber ebenso ausgabefreudig. Dem Gastwirtssohn aus Altona, den es an die Ostsee verschlagen hatte, waren beide recht, der politische Bürger und der bürgerliche Politiker – wenn sie nur bei ihm speisten. Und es war ihm einerlei, wer die Rechnungen bezahlte. Aber mit Politik wollte er nichts zu tun haben. Er war Gastwirt und hielt sich für verpflichtet, seine Türen für alle geöffnet zu halten – wenn sie denn ihre Zeche zahlten. Und fast alle konnten es. So gut ging es den Deutschen unter den neuen Herren. Selbst die Skeptiker waren dieser Meinung.

      Georgs Selbstbewusstsein erlaubte ihm nicht, sich über den Erfolg seines Astoria im Seehotel zu wundern. Sein ehrgeiziges Ziel war es, das erste Haus am Platze zu führen. Er hatte keine Angst vor großen Plänen, und es mangelte ihm nicht an Durchsetzungskraft, sie zu verwirklichen. Für ihn gab es keinen Unterschied zwischen Berufs- und Privatleben. Das Astoria war ihm beides. Es gab keine Minute seines Lebens, die – wenn es sich als nötig erwies – nicht dem Astoria vorbehalten war. Darüber hinaus war ihm seine Gastwirtsrolle auf den Leib geschneidert. Er besaß eine Art unbeholfenen Charmes und eine Beflissenheit, die seine Gäste zu Fürsten machte. Jedermann fühlte sich ihm überlegen, und er pflegte seine forcierte Bescheidenheit. Wenn er – als er sie noch nicht unterverpachtet hatte – hinter der Bar stand und die Cocktailtrinker bediente, die er nicht weniger verachtete als die Schnapssäufer vor seines Vaters Theke in Altona, spielte er immer den servilen Bartender. Manchmal sprach er sogar von einem gestrengen Chef, den es zu befriedigen gelte. Und wenn er Trinkgeld bekam, nahm er es wie selbstverständlich und betrachtete es als