Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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alte Mann steigt langsam

      die Treppe in den Wohnbereich hinunter. Zum Glück hat er damals, als sie das Haus zu planen begannen, Utas Drängen, ein repräsentatives Domizil zu errichten, nicht nachgegeben. Der Bau ist ein bequemes Heim geworden, in dem er, wenn es sein muss, auch ohne viel fremde Hilfe allein leben kann. Die Zeit, in der es ihm Spaß machte, mit seiner Wohlhabenheit zu protzen, ist schnell vorübergegangen. Untertreibung, findet er, steht ihm auch jetzt noch gut zu Gesicht.

      Stapelfeld, der Architekt, ist bei Verabredungen meistens pünktlich. Er gehört zur Generation der früh aus alliierten Kriegsgefangenenlagern zurückgekehrten jungen Offiziere, die der alte Mann um sich scharte, als er nach dem Krieg seine ersten, schnellen wirtschaftlichen Erfolge feierte. Damals war er wie viele der Meinung, dass sich Leute mit einer erfolgreichen Militärlaufbahn auch im zivilen Leben durchsetzen würden. Aber Verallgemeinerungen erweisen sich selten als stichhaltig. Er lernte schnell, dass es unter den jungen Militärs ebenso viel Versager gibt wie in anderen Berufen. Dennoch behielt er eine gewisse Vorliebe für Wehrmachtsoffiziere in seinem Angestelltenstab. Zur offiziellen Begründung in engem Kreis führte er die Zigarettenindustrie an, von der behauptet wurde, dass sie ihren Vertrieb vorwiegend mit ehemaligen Offizieren aufgebaut habe. Er war sich der Richtigkeit dieser Apologien nicht sicher. Vielleicht hatte er während des Kriegs zu oft unter der Arroganz seiner Offiziersgäste gelitten und kompensierte nun als ihr Arbeitgeber – mehr oder weniger subtil – seine damalige Unterlegenheit. Aber vielleicht sind dergleichen Rechtfertigungen auch nur psychologisches Küchengeschwätz.

      Der junge Stapelfeld jedenfalls, der sich in kurzen Hosen und einer abgetragenen Uniformjacke bei ihm vorstellte, hatte sich als lohnende Investition erwiesen. Er war nicht nur ein tüchtiger Bauleiter für Um- und Ausbauten kriegsbeschädigter Gebäude, sondern auch ein begnadeter Verhandler bei der Gestaltung von Bauverträgen, die den Bauherrn einseitig begünstigten. Einen nicht geringen Anteil seines Erfolgs bei der Errichtung kostengünstiger Wohnhäuser verdankte der alte Mann dem Architekten Stapelfeld, dessen Studium – neben der Arbeit als sein angestellter Leiter des Bauwesens – er ihm wenigstens zum Teil finanzierte.

      Auch das Privatleben des jungen Stapelfeld verlief erfolgreich. Er heiratete die einzige Tochter eines lokalen Kaffeerösters, desselben Mannes, mit dem Georg seine ersten Sozialbauten errichtete – eine alte Familie der Stadt mit umfangreichem Grundbesitz – und dankte seinem vorübergehenden Mäzen, indem er den emporgekommenen Gastwirt in die gute Gesellschaft der Stadt einzuführen versuchte. Georg hielt sich zwar scheinbar bescheiden im Hintergrund – eigentlich verachtete er das großbürgerliche Gehabe der alten und neuen Honoratioren nach dem Krieg; jedenfalls glaubte er das –, aber die Einladungen zu den Gesellschaften des Kaffeerösters und das eine oder andere gemeinschaftlich realisierte Bauvorhaben trugen nicht wenig dazu bei, von den tonangebenden Familien der Stadt als zumindest halbwegs dazugehörig betrachtet zu werden.

      "Wie geht es Ihren Kindern?", fragt der alte Mann. Er weiß, dass Stapelfeld ein stolzer Vater ist.

      "Danke. Gut. Ich glaube, sie werden ihren Weg machen."

      Sie kennen sich seit Jahrzehnten, aber herzlich sind sie noch nie miteinander umgegangen. Sie sind beide keine einfachen Charaktere. Offenherzigkeit liegt ihnen nicht. Hinzu kommt der Altersunterschied. Und sie kennen die Beweggründe des jeweils anderen. Keine Atmosphäre für tiefes gegenseitiges Vertrauen.

      Stapelfeld weiß, dass die Frage nach seinen Kindern ihn für den alten Mann einnehmen soll; er will etwas von ihm, ohne dass es etwas kostet. Und der alte Mann weiß, dass Stapelfeld seine Absichten kennt. Sie belauern einander. Ohne Feindschaft. Aber aufmerksam. Auch jetzt, obgleich beide wissen, dass heute nichts Wichtiges auf dem Spiel steht.

      Sie sprechen obenhin über die architektonische Umgestaltung des Stadtzentrums. Small talk. Nach der Vereinigung Deutschlands hat die während der Teilung dahinsiechende Stadt zu ihrer alten Bedeutung zurückgefunden. Nun passt sie sich architektonisch ihrer Geltung an. Stapelfeld ist kein Stadtplaner. Aber die Grundstücke der Familie seiner Frau werden von ihm betreut. Es gibt parallele Interessen. Auch Georg besitzt ein paar Teile der Stadt in den neuen Vororten. Man spricht miteinander.

      Dann kommen die beiden Dachdecker mit ihren Vorarbeitern. Als der alte Mann sein Privathaus baute, bestand er auf einem Reetdach. Stapelfeld musste monatelang mit den Baubehörden verhandeln. Schilfgedeckte Dächer passen nicht in diese Breiten. Die Beamten des Bauamts schützten Brandgefahr vor. Das Grundstück grenzt an den bewaldeten Stadtpark. Schließlich schlug der alte Mann vor, das Obergeschoss zunächst mit einem feuersicheren Betondach zu versehen, und darauf das Ried zu verlegen. Damit war zwar die Brandgefahr weitgehend beseitigt, aber ein baukünstlerischer Fremdkörper geschaffen worden. Allerdings galt dieses kleine Viertel mit den großen uneinsehbaren Grundstücken ohnehin als Spielwiese ebenso zahlungskräftiger wie eigenwilliger Gewerbesteuerzahler. Die Bauverwaltung gab nach. Bautechnisch aber entstand ein neues Problem: die Durchlüftung des Daches war nicht mehr gewährleistet. Stapelfeld wies unablässig darauf hin, dass die Deckung faulen würde. Und er behielt Recht. In regelmäßigen Abständen mussten bis zum heutigen Tage durchfeuchtete Reetbündel herausgenommen und durch trockene ersetzt werden. Dennoch kommt es im Herbst, in verregneten Sommern und zu anderen Übergangszeiten oft zu Geruchsbelästigungen durch faulendes Ried. Aber der alte Mann ist nicht zu bewegen, es durch ein zweckmäßigeres Material zu ersetzen. Er würde es als Eingeständnis einer falschen Entscheidung betrachten. Er will nichts eingestehen.

      "Was ihr nach meinem Tod mit dem Haus macht, kümmert mich herzlich wenig; aber solange ich hier lebe, will ich ein Reetdach haben."

      Damit entkräftet er jedes vernünftige Argument. Die spezialisierten Dachdecker sind immer wieder begeistert. Das Dach sichert ihnen ein stetes Einkommen. Stapelfeld seufzt unter dem belustigten Blick des alten Mannes, und die Spaziergänger, die das steile Dach mit den komplizierten Gauben durch das Blattwerk der exotischen Parkbäume der Stadt schimmern sehen, spotten über die am falschen Platz befindliche Reminiszenz an Heide und Küste.

      Der alte Mann weiß, dass die Bildungsbürger der Stadt, die stolz sind auf den Fundus ihrer Museen, ihm einen schlechten Geschmack attestieren. Aber Stapelfeld kennt ihn lange und gut genug, um zu wissen, dass er sich im Stillen über ihren philisterhaften Hochmut lustig macht. Er ist stolz auf seine Ignoranz und weiß, dass er sich damit in guter Gesellschaft befindet – auch in der der Pharisäer mit dem allzu tiefen Kunstsinn. Ellens Freundschaft hat ihn nachhaltiger geprägt als ihm lieb ist.

      Georgs Gespräch mit dem alten Herrn in dessen enger Offizin war das Ende seiner ziel- und körperlosen Affäre mit Ellen. Der Starrsinn des weißhaarigen Juden, der seine Opferrolle willig annahm, schloss die Episode endgültig ab. Schon nach ein paar Tagen hatte er jegliches Verständnis für seine Neigung – er fand keinen treffenderen Ausdruck – zu der trockenen Jungfer verloren. Beinahe schämte er sich seiner Freundschaft mit ihr.

      Nach Jahren erst fragte er sich, ob sein plötzlicher Sinneswandel eine Art uneingestandenes Schuldgefühl war. Aber da war es längst zu spät für so etwas wie Reue. Er schob den Gedanken von sich.

      Einen Tag nach seiner Rückkehr in das zum Mittelpunkt des politischen Geschehens erwachende Berlin traf er Marie in der leergeräumten Wohnung. Nach anfänglicher Befangenheit, die sich rasch legte, als sie sicher war, dass er sie weder schlagen noch mit Vorwürfen überhäufen würde, erzählte sie ihm begeistert von Karlfried, dem Mann, der sie heiraten wollte, von seiner Großzügigkeit, seiner Wohlhabenheit, dem Grundbesitz und seiner Liebe, die bestand, obgleich er ihre Vergangenheit kannte.

      "Du kennst die Männer", habe er gesagt, "du wirst mir nicht wegen eines hohlköpfigen Schönlings davonlaufen." Und das sei auch ihre Überzeugung. Georg lachte und wünschte ihr Glück.

      Er konnte sich an Karlfried erinnern. Der nach der letzten Mode auffällig gekleidete, zur Korpulenz neigende Blonde mit dem schütteren Haar war verstohlen durch den Hotelflur gegangen und suchte unauffällig nach der richtigen Zimmernummer. Georg, der in einem der Etagenkorbstühle in einer Zeitung blätterte, hatte er jovial gegrüßt. Offenbar hielt er ihn für einen Hotelgast, den es aus seinem engen Zimmer getrieben hatte. Dann stand er vor der richtigen Tür, klopfte und trat vorsichtig ein, nachdem Marie leise Herein gerufen hatte.