Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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sie weinte. Er hatte sie in Verlegenheit gebracht.

      Ein paar Mal passte er sie ab, wenn sie den Laden verließ. Sie duldete nicht, dass er sie begleitete. Auf seine Argumente, seinen fröhlichen Optimismus, mit dem er ihre Angst vor Diffamierung und Diskriminierung ins Lächerliche zu ziehen versuchte, reagierte sie wütend oder mit traurigem Weinen. Sie war der festen Überzeugung, dass es sich als Verhängnis erweisen würde, wenn er weiterhin ihre Nähe suchte. Gleichzeitig versuchte sie, ein normales Leben zu führen. Sie ging ins Theater, besuchte ihren Gesangslehrer, bediente die Kunden in der Buchhandlung und besuchte hin und wieder ihren Vater in der Apotheke – Wände und Fenster waren von den Schmierereien wieder befreit – und ging gemeinsam mit ihm Arm in Arm nach Haus.

      Nur seine, Georgs, Gegenwart mied sie.

      Er fand das alles heraus, weil er sie von ferne beobachtete und verfolgte. Manchmal glaubte er, sie habe ihn gesehen, aber nicht beachtet. Er kam sich dumm vor und gedemütigt.

      Was gingen ihn diese Schläger an, die sich in den Straßen prügelten? Mochten sie kommen, er würde mit ihnen fertig werden. Vorsichtshalber hatte er eine teleskopartige Stahlrute erworben, die er ständig bei sich trug. Illegal. Zwar fürchtete er niemand, aber die Zeiten waren unsicher, und viele Hunde können auch eines Bären Verderb sein. Dennoch verstand er Ellens Angst nicht. Mit ihrem alten Vater ging sie allein durch die Straßen. Das war gefährlich. Aber ihn schickte sie fort.

      Zur Eröffnung des Cafés fuhr er nach Altona. Seine Mutter wollte es allein führen. Wilhelm blieb in der Eckkneipe. Vorsorglich. Falls das Café sich als Reinfall erweisen würde, könnte die Schnapsbude – seine Mutter fand immer neue Namen für 'Wilhelms Zeitvertreib' – zum sicheren Hort werden. Sollte aber Wilhelms Schenke den guten Ruf des bürgerlichen Cafés gefährden, würde er den Pachtvertrag mit der Brauerei unverzüglich kündigen. Das hatte er versprochen.

      Für die Bahnreise hatte Georg ausreichend Lektüre mitgenommen. Obgleich Ellen unverkennbar die Nase gerümpft hatte, war er schon vor Monaten einem Buchclub beigetreten. Nun wurden ihm regelmäßig Bücher ins Haus gesandt. Georg hatte eine Vorliebe für die plötzlich in Mode gekommenen russischen Autoren entwickelt. Aber er konnte sich in seinem Zugabteil nicht konzentrieren. Seine Gedanken kreisten unentwegt um Ellen, ihren Vater, dessen Ehe mit einer Christin, Ellens Zukunftsangst und um die Frage, wie er, Georg, überhaupt in ihr Weltbild passte.

      Sie war älter als er, vernünftiger, gebildeter. Warum hatte sie sich mit ihm abgegeben? In ihren Augen musste er nichts weiter sein als ein kräftiger Kellner, der bisher bestenfalls die erste Stufe der Hierarchieleiter in der Gastronomie erklommen hatte. Sein Verstand reichte gerade aus, ein paar Erörterungen über Tischdekorationen in einem Lexikon des Gastgewerbes zu verstehen. Dostojewski für interessante Literatur zu halten, fiel ihm nicht leicht, obgleich er fasziniert war von den Beschreibungen der Gedankengänge seiner Titelhelden.

      Und was wollte er von Ellen? Liebte er sie? Fühlte er sich von ihrem nicht zu leugnenden Interesse an ihm geschmeichelt? Sie kannten sich fast zwei Jahre, und eigentlich war nichts zwischen ihnen geschehen. Kein Kuss, nicht einmal eine flüchtige Zärtlichkeit.

      Konnte sie ihn überhaupt für einen Mann halten? Sie nannten sich immer noch bei ihren Familiennamen.

      Und was war sie für ihn? Wenn er die Frage ehrlich beantwortete - - eigentlich konnte er sich nicht vorstellen, so vorbehaltlos und fröhlich mit ihr zu schlafen wie mit Marie oder mit - - . Wollte er überhaupt mit ihr schlafen? Gab es doch so etwas wie Freundschaft zwischen Frauen und Männern? Angenommen, er betrachtete sie überhaupt nicht als Frau - - was faszinierte ihn? Warum suchte er immer noch ihre Nähe? Und wie passte Marie ins Bild?

      Als er den Zug verließ, hatte er nur ein paar Seiten über Raskolnikows Leben gelesen. Die längste Zeit war er in eigene Gedanken versunken gewesen. Die Antworten auf seine Fragen war er sich schuldig geblieben. Die einzige Gewissheit, die er mitnahm in die neue Wohnung seiner Eltern über dem Café, war die Erkenntnis, dass Ellen ihm umso fremder wurde, je mehr er über sie nachdachte. Er ahnte, dass all die unbeantworteten Fragen das Band zwischen ihnen – falls es jemals mehr als ein spinnwebdünner Faden gewesen sein sollte – verwirrt, wahrscheinlich zerrissen hatten.

      Er suchte nach einem Gefühl des Bedauerns, nach Trauer oder Schmerz. Aber er empfand nur eine gewisse Leere – und auch die war, kaum gefühlt, schon vorbei.

      Als seine Mutter, die trotz aller professioneller Härte ein gutes Gespür für seine Gefühle besaß, ihn nach Ellen fragte – sogar ihr Name war ihr noch geläufig –, schüttelte er seinen Kopf und meinte:

      "Du hattest Recht. Das war nichts."

      Und er wunderte sich, wie wenig er bei diesen Worten empfand.

      Der alte Mann steigt aus der Wanne

      Er stöhnt leise. Wenn er längere Zeit in einer Stellung verharrt, fällt es ihm schwer, sich daraus zu erheben. Zwar kann er noch immer jede Stelle seines Körpers erreichen, aber plötzliche Bewegungen muss er vermeiden. Meistens schmerzen sie. Vielleicht erwartet er den Schmerz auch nur. Jedenfalls hat er es sich zur Gewohnheit gemacht, jede ungewöhnliche Bewegung zunächst im Geist zu vollziehen, ehe er sie tatsächlich ausführt. Das lässt ihn oft schwerfällig erscheinen, aber es bewahrt ihn vor dem plötzlichen Schmerz, mit dem ihn sein unwilliger Körper für abruptes Agieren bestraft.

      Langsam richtet er sich auf. Dann betrachtet er seine faltige Haut in dem großen Spiegel, der fast die gesamte Wand hinter den Handwaschbecken einnimmt. Wenn er schlecht gelaunt ist, fragt er sich selbstquälerisch, welche perverse Neigung ihn immer wieder veranlasst, seinen resignierten Blick auf das verfallene Fleisch seiner behaarten Physis zu lenken. Hängende Falten, wo noch vor kurzem schwellende Muskeln prangten. Der weiße Teint des rothaarigen Indoorsportlers, blauschimmernde Adern unter der Epidermis, dünne Waden, knotige kalte Finger, schütteres Haupthaar - - schamhaft und ein wenig angeekelt verbirgt er seinen Greisenkörper in einem weiten Badelaken und denkt mit seinem eingeübten ironischen Lächeln an eine Zukunft, in der vielleicht alte Männer Schönheitsidole sein werden.

      Im Ankleidezimmer – mehr ein Durchgang mit Einbauschränken zu beiden Seiten – hängt sein Anzug für den heutigen Tag. Schon vor Jahrzehnten hat er begonnen, grauen Flanell in allen üblichen Schattierungen zu tragen. Während einiger Jahre tendierte er zu immer helleren Tönen, bis ihn die Peters auf ein paar alte Männer in lächerlich junger Begleitung aufmerksam machte, die zu ihren hellgrauen Anzügen Krawatten aus grellblauer gestrickter Seide und einen absurd hellgrauen Hut trugen. Da kehrte er reumütig zu gedeckteren Farben zurück.

      Den Hang, sich mit jungen Mädchen in der Öffentlichkeit zu zeigen, hat er zum Glück nie besessen. Aber wenn er in naher oder fernerer Zukunft auf einen Rollstuhl angewiesen sein sollte, wird er sich von einer Kurvenschönheit in Schwesterntracht kutschieren lassen. Das steht fest. Wenigstens vorläufig. Aber so recht ist er nicht davon überzeugt, dass er diesen Plan in der Tat realisieren wird.

      Heute Vormittag erwartet er die Leute, mit denen er die Dachrenovation besprechen will. Er wird sie ins Arbeitszimmer bitten. Das ist klein, eigentlich zu klein und unbequem für die mindestens vier Männer, die kommen werden. Sie werden ihre Kaffeetassen in den Händen halten oder auf den Fußboden stellen müssen, wenn er seinen Schreibtisch nicht doch noch aufräumt. Vielleicht beeilen sie sich dann mit ihren Vorschlägen. Viel Neues wird es ohnehin nicht zu besprechen geben. Jedenfalls wird er nicht mit ihnen in den Garten gehen, um den Schaden, soweit er sichtbar ist, zum wiederholten Mal zu begutachten. Er kann also die bequemen Schuhe aus geflochtenem Leder anziehen, von denen die Peters behauptet, dass sie unpassend für ihn seien.

      Seit dem kleinen Unfall damals im Preußischen Verein für Kraftsport e.V. schmerzt sein rechter Fuß beinahe ständig, wenn er nicht diese unförmigen Gesundheitsstiefel trägt. Er hat die Hantel nicht richtig umgesetzt, ist aus dem Gleichgewicht geraten - - und dann waren alle Bewegungsabläufe durcheinandergeraten, das Gewicht fiel auf seinen Fuß, ein Knochen brach, wurde mit einem Draht gerichtet und wuchs nicht ordentlich zusammen.

      Doktor Max war, als der Unfall geschah, keine große Hilfe. Er durfte noch nicht praktizieren.