bekannte Größe an der Militärärztlichen Akademie geworden war, ließ er sich aus alter Freundschaft herbei, ihn für kriegsdienstverwendungsuntauglich zu erklären. So kam es, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg ohne ihn verlor.
Den Sportunfall erlitt Georg gleich nachdem er aus Altona nach Berlin zurückgekehrt war. Er hatte sich länger als vorgesehen bei seinen Eltern aufgehalten. Seine Mutter war doch noch an ihn herangetreten, um ihn bei der Organisation der innerbetrieblichen Abläufe im Café um seinen Rat zu bitten. Er richtete vernünftige Kontrollmechanismen ein. In der Berliner Bierschwemme hatte er einige Erfahrungen gesammelt, und das übrige Wissen hatte er aus seinen Fachbüchern geschöpft.
Sein Vater war skeptisch. Er vertraute mehr auf die Ausstrahlung seiner Person als auf Organisationspläne. Wahrscheinlich war es alles zusammen, Wilhelms misstrauisches Auge, die Gewissenhaftigkeit seiner Mutter bei der Papierarbeit und Georgs nicht zu leugnendes Organisationstalent, das die Anfangsverluste des Cafés klein hielt. Jedenfalls fuhr Georg zufrieden nach Berlin zurück. Auf Überraschungen war er nicht gefasst.
Die erste erlebte er, als er voller Erwartung die Tür zu Maries Wohnung öffnete. Überall standen gepackte Koffer, Kisten und Kartons. Möbel waren abgebaut, auseinandergenommen, und die Einzelteile in der Wohnung verstreut. Schränke standen leer, Gardinen waren von den Fenstern genommen und der elektrische Strom gesperrt. Georg kam abends in Berlin an. Beim Pächter der Bierschwemme hatte er sich schriftlich für den nächsten Morgen angemeldet. Antwort auf seinen Brief hatte er nicht erhalten. Marie wusste nicht, dass er heute zurückkehrte. Er hatte ihr nur eine Ansichtskarte von St. Pauli geschickt und seine Rückreise ohne festen Termin angekündigt.
Die Ankunft in Berlin war offenbar zu einem einzigen Desaster geraten.
Grimmig schleuderte er eine der dreiteiligen Matratzen, die damals in Mode kamen, auf den Fußboden, klemmte die Einzelstücke zwischen Wand und einen schweren Sessel, warf ein Federbett ohne Bezug dazu und war enttäuscht. Seit Wochen hatte er keine Frau mehr angerührt. Er hatte sich ausgemalt, dass er mit Marie alles nachholen würde, was er versäumt hatte. Und nun dies. Eine verlassene Wohnung.
Am nächsten Morgen rannte er aus dem Haus, ohne seinen Koffer ausgepackt oder die Wohnung aufgeräumt zu haben. Nur einen Zettel, den er aus dem kleinen Heft riss, in das Marie sorgfältig ihre Einkünfte eintrug, heftete er an die innere Wohnungstür:
Was ist los? Wo bist du? G.
Im Büro des Pächters erwartete ihn die nächste Überraschung. Zunächst musste er fast eine Stunde warten. Dann wurde er von einem hochnäsigen Sekretär abgefertigt:
"Wir wussten nicht, wann Sie kommen. Wir wussten nicht einmal, ob Sie überhaupt zurückkommen. Ihr Posten ist inzwischen anderweitig besetzt."
Damit war er entlassen. Der Sekretär übergab ihm seine Arbeitspapiere.
Während der gesamten Wirtschaftskrise, in der alle Anderen um ihren Arbeitsplatz fürchteten, hatte er seine Stellung behalten. Tausende waren entlassen worden, Millionen mussten stempeln gehen. Aber er, Georg Schäfer, hatte sein Geld verdient. Und nun, auf einmal, als alles besser zu werden schien, wurde er auf die Straße gesetzt. Einfach so. Wie einer dieser Tagelöhner im heruntergekommenen Kellnerfrack, die immer wieder versucht hatten, ihn hinter dem Tresen zu betrügen.
Wutentbrannt rannte er durch die Straßen der Stadt. Er verachtete Verzweiflungstrinker noch mehr als Gewohnheitssäufer. Sonst hätte er sich heute sinnlos betrunken. Verächtlich lachte er auf und wartete darauf, dass einer der Passanten ihn dumm anschwatzte. Er hätte ihn verprügelt.
Plötzlich stand er vor Ellens Buchladen. Natürlich wusste er, dass sie nicht die Inhaberin war. Sie war angestellt. Wie er. Aber für ihn bestand die Buchhandlung nur aus Ellen. Sie war wichtig. Alles andere, ihre Kollegen, die Kassiererin, selbst die Bücher bedeuteten nichts.
Er nahm das alles nur wahr, weil Ellen zwischen ihnen zwölf Stunden ihres täglichen Lebens verbrachte.
Aber heute war sie nicht da. Jedenfalls sah er sie nicht. Er war immer noch wütend und nicht in der Stimmung, tatenlos auf sie zu warten. Mit blitzenden Augen stürmte er in den Laden und trommelte ungeduldig mit seinen Fingern auf das silbern glänzende Blech der Registrierkasse. Schließlich wandte sich die Alte mit der hochgeschlossenen Bluse, die das Geld der Buchkäufer huldvoll entgegennahm, seinem streitsüchtigen Gesicht zu. Mit hochgezogenen Augenbrauen schaute sie ihn nicht weniger aggressiv an. Eilige Bücherfreunde schien sie nicht zu mögen.
Eigentlich hätte sie ihn kennen müssen. Aber das fiel ihm erst später ein.
"Wo ist sie?", fragte er ohne Einleitung.
Sie schien zu überlegen. Dann signalisierten ihre Gesichtszüge Wiedererkennen.
"Fräulein Kleeberg?", fragte sie zurück und wieder zuckten ihre Augenbrauen nach oben. Allerdings merkte sie rechtzeitig, dass er sich von ihrer Darstellung einer unwilligen Oberlehrerin nicht beeindrucken ließ und setzte zu einer Erklärung an, noch bevor er ausfallend werden konnte:
"Fräulein Kleeberg arbeitet nicht mehr bei uns." Und als sie erkannte, dass ihm die Antwort nicht genügte, fügte sie säuerlich hinzu: "Sie war nicht mehr tragbar."
Er hatte den Eindruck, dass sie mit ihrer Vorstellung zufrieden war. Auch mit Ellens offensichtlichem Rauswurf.
"Warum?", fuhr er sie an. "Was hat sie getan? Wo ist sie?"
Aber die alte Kassiererin blieb bei der einstudierten Version:
"Fräulein Kleeberg arbeitet nicht mehr bei uns."
Mehr erfuhr er nicht.
Noch einmal blickte er in dem Laden umher. Die Verkäufer schienen sich unter seinem Blick zu winden. Aber das bildete er sich vielleicht nur ein. Aufgebracht stapfte er aus dem Laden.
Als sein innerer Aufruhr langsam zur Ruhe kam, befand er sich ein paar Schritte von Kleebergs Apotheke entfernt. Er hatte den Weg nicht bewusst gewählt. Aber wahrscheinlich wäre er auch nach einigem Überlegen hierhergekommen. Er betrat den Laden, dessen Eingangstür sein Kommen mit dem hellen Klang eines Glockenspiels ankündigte. Der alte Herr erkannte ihn sofort, obgleich er bei der Vorstellung in seiner Wohnung einen eher gleichgültigen Eindruck gemacht hatte. Heute nickte er freundlich, und seine Stimme klang eher belustigt, als er fragte:
"Kommen Sie als Patient?"
Georg bemühte sich, seinen leichten Ton zu treffen, und antwortete mit einem Lächeln und mühsam beruhigter Stimme:
"In einer Apotheke habe ich bisher nur Hustenpastillen gekauft; aber derzeit bin ich nicht erkältet."
Der alte Herr nickte, erwiderte nichts, blickte Georg nur offen und fragend an. Wahrscheinlich ahnte er den Grund des überraschenden Besuchs, war aber nicht gewillt, eine Antwort zu geben, bevor die Frage überhaupt gestellt worden war.
"Wo ist Ellen?", erkundigte sich Georg und erkannte zu spät, wie schroff und ungehörig seine Frage Ellens Vater erscheinen musste.
Der alte Apotheker in seinem weißem Kittel stutzte denn auch einen Moment; aber dann überzog ein verständnisvolles Lächeln sein Gesicht – der verzeihende Ausdruck eines alten Mannes über die Ungeduld der Jugend. Das dauerte ein paar Sekunden, bis er schließlich eher belehrend als unfreundlich meinte:
"Hatte Ellen nicht darauf bestanden, die - - Freundschaft – ", er zögerte ein wenig, ehe er das Wort aussprach, " – mit Ihnen zu beenden?"
Er sah auf die große Standuhr mit den schweren messingbeschlagenen Gewichten, die gleichmäßig die Sekunden zählte, nickte Georg zu und meinte:
"Entschuldigen Sie. Es ist Mittagspause. Ich muss die Tür schließen."
Dabei kam er hinter dem Ladentisch aus dunklem Holz hervor, nahm einen Schlüsselbund aus seiner Westentasche, wählte fast ohne hinzusehen den richtigen Schlüssel und verschloss die Eingangstür mit dem geätzten Glaseinsatz und dem hineingeschliffenen Emblem der Apotheke.
Dann bat er Georg wortlos in die kleine Offizin hinter den Schränken mit den vielen schmalen Schubfächern, forderte ihn mit