wurde nicht gesprochen. Georg war sicher, dass er guten Glauben geltend machen könnte, falls die wahrscheinlich zwangsweise Enteignung der Vorvorbesitzer später einmal einer juristischen Prüfung nicht standhalten würde.
Aber vorläufig waren Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Verdrängung der Juden aus der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft nicht angebracht. Im Gegenteil, die Olympischen Spiele in Berlin waren zu einem internationalen Propagandaerfolg geworden. Die Weltöffentlichkeit hatte den Nationalsozialisten zugejubelt. Nun verkündeten sie ihren Vierjahresplan und trieben Deutschlands Aufrüstung unangefochten voran. Und das deutsche Volk stand geschlossen hinter seinem bewunderten Führer, der alle politische Macht auf seine Person konzentrierte. Er war Reichskanzler, Kriegsminister und Oberbefehlshaber der Wehrmacht. An seinem Geburtstag keine Hakenkreuzfahne zu schwenken, war ein Sakrileg – auch für die begeisterten Volksgenossen, die nicht die Ehre hatten, der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei als Mitglied angehören zu dürfen; denn längst nicht mehr jeder wurde aufgenommen; zu groß war der Andrang.
Und so taumelte Deutschland außer sich vor Selbstüberschätzung einer tausendjährigen goldenen Zukunft mit fünfzig Millionen Kriegstoten entgegen.
Natürlich konnte auch Georg sich der allgemeinen Euphorie nicht entziehen. Aber er hielt es für zulässig, neben der Auferstehung eines Großdeutschen Reichs auch an seinen eigenen ganz und gar persönlichen Vorteil zu denken. Falls er sich zu öffentlichen politischen Äußerungen hinreißen ließ, entsprachen sie dem, was ein stolzer Staat von seinen braven Bürgern erwarten durfte. Jedermann kannte die Sprachregeln. Georg wäre zutiefst befremdet gewesen, wenn ihn jemand nach einer eigenen Meinung gefragt hätte. Er besaß keine. Und er weigerte sich, persönliche Überzeugungen zu entwickeln. Andere Ansichten als seine Gäste zu vertreten, wäre dem Geschäft abträglich gewesen. Es war kontraproduktiv, überhaupt über Politik nachzudenken.
Die politischen Reden, Glückwünsche und Demutsadressen, die seine Gäste an den nationalsozialistischen Feiertagen von ihm erwarten durften, ließ er von einem eloquenten Oberkellner mit Bauch und Grandezza halten. Auch seine Angestellten, die sich über die Zwangspausen freuten, die ihnen die Feierlichkeiten bescherten, hörten mit ernsten Mienen zu. Sie kannten den Redner eher als unermüdlichen Erzähler mehr oder weniger geistreicher Zoten – aber wenn er sich bei diesen politischen Gelegenheiten zum Volkstribun aufschwingen wollte - - ihnen war es recht.
Und Georg stand im Hintergrund und achtete darauf, dass die Unterbrechung des Service nicht zu lange dauerte.
Er stottere, wenn er öffentlich reden müsse, behauptete Georg und sang laut und in einer falschen Tonart das Horst-Wessel-Lied und die Nationalhymne mit Inbrunst und zum deutschen Gruß erhobenem Arm wie alle es taten, wenn Norbert Sander, der wortgewaltige Oberservierer seine weitschweifigen Elogen endlich beendet hatte.
Er lehnte es ab, darüber nachzudenken, was er da eigentlich tat. Es entsprach den allgemeinen Erwartungen, war politisch korrekt und wurde von seinen Gästen honoriert. Es wäre unzuträglich gewesen, auch nur einen ernsthaften Gedanken an Außenseitertum zu verschwenden.
Die Verpächterin des Astoria bat ihn, den Betrieb im Seehotel weiterzuführen, bis ein neuer Pächter ihn übernähme. Eine auch nur kurzfristige Schließung würde sich negativ auf das Geschäft auswirken. Dem war nichts entgegenzuhalten. Er stimmte zu und vereinbarte rechtzeitig die kontinuierliche Übergabe des Inventars und der Ware, um den laufenden Geschäftsbetrieb nicht zu stören. Die gefundenen Gartenmöbel waren zu einem angemessenen Preis in der Inventarliste enthalten.
Während dieser beruflich ausgefüllten Zeit erhielt er einen langen, gefühlvollen Brief aus Heidelberg. Zuerst empfand er ihn als peinlich. Er konnte und wollte sich kaum noch an Ellen erinnern, und nun öffnete sie ihr Seelenleben vor ihm als sei inzwischen nichts geschehen. Als sei er ihr Bruder oder Geliebter. Als sei sie keine Gefahr für ihn. Es war unziemlich, taktlos, ärgerlich.
Sie berichtete, was er bereits wusste: dass man ihrer Mutter nahegelegt habe, sich von ihrem Vater zu trennen. Die Ehe sei blutschänderisch, ihre Aufhebung von nationalem Interesse, der Fortbestand unehrenhaft für eine deutsche Frau, vielleicht strafbar. Ellen sei als Halbjüdin und nach Maßgabe der Nürnberger Gesetze zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre bestenfalls als Tochter einer durch Scheidung reingewaschenen deutschen Mutter tragbar. Offenbar sei die Eheschließung durch den damaligen Verfall der guten Sitten begünstigt und sie als deutsches Jungmädel fehlgeleitet gewesen. Die Partei wolle sich im Falle der Scheidung gern dafür einsetzen, dass die dann geschiedene deutsche Ehefrau nicht für den Schaden haftbar gemacht werde, der dem deutschen Volk durch das schuldhafte Verhalten des jüdischen Ehemanns entstanden sei, indem er feige die Verantwortung für den hohen Krankenstand im Einzugsbereich seiner Apotheke geleugnet und mit unbekanntem Ziel geflüchtet sei. Aber zuerst müsse der Scheidungsantrag gestellt werden, mit dessen alsbaldiger Bewilligung zuversichtlich zu rechnen sei.
Die angebliche Flucht ihres Vaters bestehe im Übrigen, berichtete Ellen, in seiner Verhaftung durch unbekannte zivile Beamte einer unbekannten Behörde, die nach Angaben auskunftswilliger Nachbarn eines Morgens in die Apotheke gekommen seien und ihren Vater ohne Angabe von Gründen mitgenommen und mit unbekanntem Ziel verschleppt hätten.
Ihre Mutter, schrieb sie weiter, habe das Ansinnen der Parteileute entrüstet zurückgewiesen. Sie betrachte es als unmenschliche Zumutung, habe sie mutig behauptet. Die Folge sei – und das mache sie sich nun zum Vorwurf –, dass ihr nach wenigen Wochen ihres Ehemanns Taschenuhr und der Ehering ausgehändigt wurden, nachdem ihr zuvor schriftlich mitgeteilt worden war, dass Günter Kleeberg, geboren am dritten Juni achtzehnhunderteinundachtzig in Berlin, Jude, bei dem Versuch, die deutsche Grenze illegal zu übertreten, verhaftet und wenig später an einer Lungenentzündung verstorben sei.
Sie und ihre Mutter, schrieb Ellen, tröste das Bewusstsein, wenigstens zu wissen, was ihrem Vater angeblich zugestoßen war. Andere aus dem Bekanntenkreis ihres Vaters seien einfach spurlos verschwunden, und niemand wolle wissen oder sagen, ob sie noch lebten oder wo sie sich befänden.
Georg geriet in einen Strudel widersprüchlicher Gefühle. Eine Art Selbsterhaltungstrieb drängte ihn, den Bericht zu vergessen, zu verdrängen, zu ignorieren, zu vernichten. Er wollte das alles nicht wissen. Andererseits hörte er nicht auf, den Brief wieder und wieder zu lesen, ihn nach Nuancen zu durchsuchen, die ihm bisher entgangen waren und ihn erschreckten. Gleichzeitig war er empört. Wie konnte sie es wagen, ihn zum Mitwisser zu machen? Wurde ihre Post, ihr Gang zum Briefkasten etwa nicht kontrolliert, der ordentlich mit ihrem Absender versehene Brief nicht geöffnet und von irgendeiner Geheimpolizei gelesen?
Er konnte es nicht leugnen: er hatte Angst. Angst um seine Zukunft, um seinen Beruf, um sein Leben. Und er wusste nicht, wie er mit dieser Angst umgehen sollte. War sie verwerflich? War sie überhaupt berechtigt? War sie lächerlich? Er wusste nur eines: Wissen war gefährlich und er hatte nicht die Absicht, sich wegen eines weinerlichen Briefs aus Heidelberg zum Systemgegner stempeln zu lassen. Nicht wegen einer verschmähten Scheidung. Es genügte, wenn die Weigerung der deutschen Ehefrau, sich von ihrem jüdischen Ehemann auf behördliches Verlangen zu trennen, letztlich zum Tod des alten Kleeberg geführt hatte. Seinen, Georgs, Untergang sollte sie nicht auch noch in Gang setzen.
Ellens Brief war eine Zumutung. Wütend zerriss er das Papier und spülte die Fetzen in die Kanalisation.
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