Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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mit den aufgespießten Kassenbons.

      Während der nächsten Wochen brachte sie ihn des Öfteren außer Fassung, weil sie glaubte, ihm Dankbarkeit erweisen zu müssen. Sie bot sich ihm an:

      "Lass’ es uns machen – wie in früheren Zeiten. Ich bin nicht in Eile."

      Einmal brachte sie ihm goldfarbene Manschettenknöpfe. Prächtig geschmacklos. Erst nachdem er Marie gebeten hatte, ihr die Demutsbezeugungen auszureden, konnte er wie mit den anderen weiblichen Bedienungen kollegial mit ihr verkehren.

      Nach drei Monaten wurde sie fristlos entlassen und erhielt Hausverbot. Sie hatte mehreren Gästen zu offensichtlich Avancen gemacht. Er sah sie nicht wieder.

      Im Dezember – es hatte den ersten richtigen Schnee gegeben und Berlin war zwei Tage lang in bräunlichem Schneematsch versunken – erhielt er einen langen Brief von seiner Mutter. Die Gäste blieben aus, klagte sie. Sein Vater sei müde, lustlos und unleidlich zu den Gästen. Und nun sei er auch noch von der Spanischen Krankheit befallen. Nur mit Mühe sei er morgens zu bewegen, sein Bett zu verlassen, und sie leide darunter, dass die Suche nach einem geeigneten Haus für ihr Café nicht weiterkomme.

      Es war die unausgesprochene Bitte, nach Haus zu kommen.

      Zum zweiten Mal machte er sich auf den Weg von Berlin nach Altona. Schweren Herzens diesmal, denn was sollte aus seinen eigenen Zukunftsplänen werden, wenn seinem Vater etwas zustieße? Reichten die durch Inflation und Wirtschaftskrise nun doch dezimierten Ersparnisse seiner Eltern für einen auskömmlichen Lebensabend? Und waren die Pläne seiner Mutter mit dem Café überhaupt noch realistisch?

      Aber die häuslichen Verhältnisse waren weniger desolat als seine Mutter sie beschrieben hatte. Die schwere Erkältung – als nichts anderes stellte sich die angebliche Spanische Krankheit heraus – war so gut wie überwunden, als Georg in der Weihnachtswoche die mit einem nadelnden Adventskranz geschmückte Schankstube in Altona betrat. Dennoch konnte er sich eines gewissen Gefühls der Fremdheit nicht erwehren – mehr noch als bei seinem ersten Besuch nach den Jahren in Berlin. Er wunderte sich, dass sein Vater der Erste war, der diesen emotionalen Abstand von seinem Elternhaus spürte. Eigentlich hatte er erwartet, dass seine Mutter vor allen anderen wahrnehmen würde, wie er sich von ihnen löste. Aber sie schien seine Fremdheit nicht zu bemerken. Sie war völlig von der Idee gefangen, endlich ihr lang ersehntes Café zu eröffnen.

      Vielleicht war es nur Wunschdenken, wenn sie unentwegt von einer gemeinsamen familiären Zukunft in ihrem Caféhaus sprach – möglicherweise wider besseres Wissen oder Ahnen. Die Gefühle seiner Mutter erschlossen sich ihm weniger als Wilhelms heimliche Wünsche nach Stille, Ruhe und Abgeschiedenheit. Er war die Säufer, die er bediente, ihre abgeschmackten Sprüche, die sich nie veränderten, die verzweifelte Sucht nach Vergessen, die seine Stammkunden immer wieder vor den Tresen trieb, einfach leid. Selbst das Geld, das er hinter der Theke verdiente, wurde ihm mehr und mehr gleichgültig. Manchmal glaubte Georg, in der scheinbaren Altersweisheit seines alten Herrn einen Hauch von Todessehnsucht zu spüren.

      Noch vor wenigen Monaten wäre er damals in lautes Gelächter ausgebrochen, wenn ihm jemand derart makabre Gedanken unterstellt hätte. Sie sind unproduktiv, sogar gefährlich; davon war er überzeugt.

      Aber gleichzeitig fühlte er sich von ihnen auf eine Weise angezogen, die ihm zugleich fremd und vertraut schien. Als beträte er Neuland, von dem er ahnte, dass es einmal seine Heimat sein würde. Er fühlte, dass er sich verändert hatte. Über Wilhelms Beweggründe nachzudenken, die Psyche seiner Mutter ergründen zu wollen und seinen eigenen Charakter spöttisch zu hinterfragen, waren ihm bisher nicht bekannte Beschäftigungen. Die Buchhändlerin hatte sie ihm während der letzten Monate erschlossen.

      Als er das neue Lexikon des Gastgewerbes abholte, hatte er vor dem Schaufenster gewartet, bis sie eine Kundin nach einem längeren Gespräch verabschiedete. Dann ging er geradewegs zu ihr, präsentierte die Kopie des Bestellzettels und sagte:

      "Ich möchte dies Buch abholen."

      Anscheinend hatte sie ihn gesehen, wie er vor dem Ladengeschäft gewartet hatte. Jedenfalls meinte sie ernsthaft und ohne belehrend zu wirken:

      "Sie müssen nicht draußen ausharren, wenn ich nicht frei bin. Kommen Sie herein und schauen Sie sich um." Und dann fügte sie mit einem kleinen Lächeln hinzu: "Niemand wirft Sie hinaus, wenn Sie in Büchern blättern, die Sie interessieren."

      Er fühlte sich dumm und unwissend. Aber es machte ihm nichts aus. Sie wusste ohne Zweifel mehr über Bücher als er. Das war deutlich erkennbar. Auch ihr. Aber sie wurde darüber nicht herablassend. Sie war einfach nur freundlich. Er fasste Vertrauen zu ihr.

      Noch in der gleichen Nacht, als er in dem neuen Buch nach Dienstschluss zu blättern begann, wusste er, dass sich das Lexikon nicht zum Durchlesen eignete. Aber es enthielt ausführliche Darstellungen von Vorgängen, die in dem ersten Buch, dem Leitfaden, nur kurz erwähnt wurden. Und der Autor beschrieb, wie die Tricks der schwarzen und weißen Brigaden in den Betrieben unterbunden werden können. Wenigstens einige von ihnen. Die meisten Abwehrmaßnahmen kannte er bereits. Bei anderen Beschreibungen musste er grinsen, weil der Autor zu naive Vorstellungen von der betrügerischen Energie eines durchschnittlichen Gaststätten-Angestellten besaß. Dennoch lernte er dazu. Und immer wieder stand ihm das Bild der Buchhändlerin vor Augen, wenn er sein Lexikon aufschlug. Wie sie ihn ansah, wie sie lächelte, als sie ihn belehrte – was sie wohl von ihm dachte? Oder war er nur ein Kunde wie viele, den sie vergaß, sobald er den Laden verließ? Kein Zweifel, sie lebten in grundverschiedenen Welten. Das ahnte er mehr als es ihm wirklich bewusst war. Dennoch wollte er sie wiedersehen. Nicht nur in dem Laden. Sein traditioneller Erfolg bei den weiblichen Bedienungen und Maries Zuneigung – und sie besaß wahrhaftig Erfahrung und hatte es nicht nötig, ihm schöne Augen zu machen – flößten ihm Mut ein.

      Er ging zielbewusst, ohne die Bücher in der Auslage auch nur anzusehen, in den Buchladen, stellte sich an eines der Regale, nahm wahllos ein Buch heraus und blätterte sich durch die Seiten, ohne wirklich zu lesen. Wahrscheinlich hätte er es verkehrt herum halten können, ohne es zu bemerken. Von Zeit zu Zeit blickte er auf und suchte seine Verkäuferin. Er entdeckte sie nicht. Sie war nicht da. Er stellte enttäuscht das Buch zurück, schlenderte an einen der Tische, die in der Mitte des Verkaufsraums aufgestellt waren, nahm auch hier ein Buch in die Hand, las ein paar Zeilen, ohne sich bewusst zu werden, was da geschrieben stand, und überlegte, was er tun könne. Einfach das Buch zurückzulegen und kommentarlos aus dem Laden gehen, erforderte zu viel Selbstbewusstsein. Er fühlte sich jetzt schon beobachtet. Als ob die Blicke des gesamten Ladenpersonals auf ihn gerichtet seien. Alle schienen zu wissen, dass er nicht hierher gehörte.

      Sollte er nach der Buchhändlerin fragen? Er kannte ja nicht einmal ihren Namen. Es wäre auch zu privat. Er würde sich lächerlich machen. Hatte in der Bierschwemme jemals ein Gast nach ihm oder nach seinem Namen gefragt? Aber was konnte er sonst tun? Schon viel zu lange stand er an diesem Tisch.

      Schließlich kam ihm die rettende Idee. Ein Verkäufer, der ihn bereits abschätzend in Augenschein genommen hatte, wie er glaubte, stand in der Nähe. Er wandte sich ihm zu und fragte nach dem Lexikon des Gastgewerbes, das er bereits besaß. Sie hatten es beim ersten Mal, als er es direkt kaufen wollte, nicht auf dem Lager gehabt; wahrscheinlich stand es auch heute in keinem ihrer Regale. Hoffentlich.

      Er hatte Glück. Der Verkäufer sah nach, kam zurück und bedauerte:

      "Wir haben es leider nicht vorrätig."

      Dann bot er ihm an, es zu besorgen. Aber Georg winkte ab, bedankte sich und verließ den Laden. Draußen atmete er erleichtert auf.

      Es dauerte länger als eine Woche, ehe er sich wieder in die Nähe des Buchladen wagte. In der Zwischenzeit überlegte er, ob sie wohl die Stellung gewechselt habe. Vielleicht war sie längst in einer anderen Buchhandlung beschäftigt. Dann hätte er sie verloren. War das wichtig? Warum? Sie war eine Buchhändlerin, die ihm ein Lexikon verkauft hatte. Nichts weiter.

      Aber er wollte sie wiedersehen. Dessen war er sicher, und er verbot sich, tiefer nach seinen Gründen zu graben. Er mochte sie. Na, und? Warum suchte er nach Gründen? Das war müßig. Begründungen gibt es immer. Für alles.

      Diesmal