Gerd Pfeifer

...des Lied ich sing'


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Turnhalle er mit Hanteln trainieren konnte. Zwar besaß er keinen Wettkampfehrgeiz mehr, aber er wollte in Form bleiben. Zwei Vormittage in der Woche blieben dem Training vorbehalten, auch wenn es ihm immer schwerer fiel, rechtzeitig aufzustehen. Nachmittags und abends bediente er die Gäste in der Brauereigaststätte. Nachts war er oft bis in die frühen Morgenstunden mit den Mädchen unterwegs, und wenn Marie nicht einschlafen konnte – und sie legte es darauf an, munter zu bleiben –, verführte sie ihn zu ständig neuen Spielen in ihrem breiten Bett. Es schien Georg, als wolle sie ihm und allen Anderen beweisen, dass sie ihren Beruf liebte, und manchmal fühlte er sich als Laborratte, mit der sie experimentierte, bis sie mit einer neuen Stellung, einem bisher unbekannten Reiz oder einer anderen Überraschung zufrieden war und damit gleichsam an die Öffentlichkeit gehen konnte. Es war ein anstrengendes Leben. Aber er lernte viel bei ihr.

      "Deine zukünftige Frau – falls du jemals heiraten solltest, du bist nicht der Typ dafür – wird es mir danken", machte sie sich über seine gelegentlichen puritanischen Skrupel lustig. Dann lachte er zwar, war aber nicht sicher, dass sie mit ihren bedenkenlos genossenen Sottisen wirklich den besseren Teil des Lebens durchspielte.

      Glücklicherweise fiel ihm seine Arbeit am Gast nicht schwer. Er besaß eine natürliche Gabe für das rechte Maß an Ergebenheit, ohne unterwürfig zu wirken. Die Leute, denen er die Bestellungen servierte, waren der Meinung, er sei sein Trinkgeld wert. Mit seinen Kollegen, denen er mit Sicherheit an Körperkraft, aber wohl auch geistig überlegen war, kam er gut aus, ohne Freundschaften zu schließen. Den in größeren gastronomischen Betrieben schnell entstehenden betrügerischen Interessengruppen zum Nachteil der Eigentümer schloss er sich nicht an. Er machte rasch deutlich, dass er auf der Seite der Arbeitgeber stand, denen er sich durch seine Herkunft als zugehörig betrachtete. So blieb er meist ein Fremder unter den Bedienern, die ihm mit unverkennbarem Misstrauen begegneten.

      "Er bildet sich ein, etwas Besseres zu sein", hörte er mehr als ein Mal von verschiedenen Serviererinnen, deren Schmeicheleien er uninteressiert belächelt hatte. Er geriet in den Ruf eines Einzelgängers, wurde bespöttelt, bewundert, beneidet und schließlich in Ruhe gelassen. Man hatte sich an ihn gewöhnt. Er war es zufrieden, tat seine Pflicht, war nichtssagend freundlich zu jedermann, wich Freundschaften aus und ließ sich auf keine Klüngelei ein. Dennoch lernte er schnell, wie man als angestellter Kellner mit kleinen oder größeren Betrügereien seinen kärglichen Lohn aufbessern kann. Wenn sich eine gefahrlose Gelegenheit ergab und er keine Mitwisser fürchten musste, brachte er Bier am Bufettier vorbei zum Gast, löste entwertete Bons mehrfach am Ausschank ein, prellte angetrunkene Gäste, hinterging die Brauerei bei der Anlieferung der Bierfässer, betrog bei der Eintragung seiner Arbeitszeiten, behielt größere Trinkgelder für sich, statt sie in den Tronc zu zahlen, aus dem nach einer fest gefügten hierarchischen Ordnung die Servicekräfte einen zusätzlich Lohn erhielten, und bereitete sich mit dem so erworbenen Wissen über die Umgehungsmöglichkeiten der Kontrollen auf seine zukünftige Rolle als Gastronom vor.

      Dass er ein Fremdkörper im Personalbestand war, fiel zuerst den Oberkellnern auf, denen er zugeteilt wurde. Manche förderten ihn, aber die meisten betrachteten ihn als potentiellen Konkurrenten. Er überlegte, ob er ihnen erzählen sollte, dass er keinerlei Ambitionen besaß, in der geknechteten Gilde der Kiestreter – die Bedienungen im Biergarten und auf der kiesbestreuten Terrasse wurden so genannt – Karriere zu machen. Sein Ehrgeiz war größer. Er sah sich als Pächter bedeutender brauereieigener Unternehmen und später – wahrscheinlich – als Eigentümer von Restaurants und Hotels. Aber solche Pläne gingen niemand etwas an. Er hielt es für besser, sich keinem anzuvertrauen. Weder hinsichtlich seiner Zukunftshoffnungen noch sonstiger beruflicher Ideen. Pläne gedeihen erfolgreich im Stillen. Dabei blieb er. Auch als er eines Tages in das Büro des Pächters der Neuköllner Bierschwemme gerufen wurde.

      "Direktor Obermeier hat sich nach dir erkundigt", sagte der Pächter mit einigem Befremden in der Stimme.

      Obermeier gehörte zum Vorstand der Brauerei.

      "Bist du mit ihm verwandt?"

      Hilfs-Commis wurden geduzt.

      "Nein."

      Georg war bisher nicht bekannt, dass sein Vater – niemand sonst konnte die Aufmerksamkeit des Direktors in München auf ihn in Berlin gelenkt haben – einen so guten Draht zur Brauerei besaß.

      "Und wie gefällt es dir bei uns?"

      "Danke, gut. Ich habe viel gelernt."

      Gewöhnlich wusste er, was die Leute von ihm hören wollten. Das gehörte zur Trinkgeld-Philosophie.

      "Dann berichte das Direktor Obermeier."

      Obermeier war das Mitglied des Vorstands, das für die guten Kontakte zu den Pächtern der Brauerei zuständig war. Als er eines Tages die Berliner Bierschwemme besuchte, fragte er Georg im Büro des Pächters, wo er bisher Dienst getan habe, wofür er sich besonders interessiere und ob er spezielle Wünsche hinsichtlich seiner Ausbildung hege.

      "Ich möchte - - vielleicht später einmal - - -", immer schön bescheiden auftreten, " - - - in der Ausgabekontrolle tätig werden - - - " und diesen Oberkellner-Strebern das Leben schwer machen, fügte er im Geiste hinzu.

      "Mal sehen, was wir machen können - - wenn du dich anstrengst - - - "

      Einstweilen bekam er ein Buch in die Hand gedrückt. Leitfaden für die Gastronomieberufe. Er hatte noch nie davon gehört, dass es Bücher über Kneipen gab. Was das wohl für Sprücheklopfer waren, die Lehrbücher über den Verkauf von Alkohol an schwachköpfige Säufer schrieben.

      Aber dann fand er den Inhalt des Buchs doch ganz interessant. Er war froh, dass er nicht seinem ersten Impuls nachgegeben und den schmalen Band einfach weggeworfen hatte. Der Autor beschrieb Vorgänge im Betriebsablauf, über die er selbst noch nie nachgedacht hatte. Manche Artikel las er immer wieder, bis er sie fast auswendig kannte. Und am Schluss des Textes gab der Autor Hinweise auf andere Bücher. Alles für Gastwirte – von denen die meisten keine Ahnung hatten, dass es gebildete Leute gab, die sich über ihren Beruf Gedanken machten.

      Auch Marie machte sich über ihn lustig, als sie ihn ins Lesen vertieft sah. Aber sie lachte nur ein Mal und dann nie wieder über seine Bücher. Denn es blieb nicht bei diesem ersten, geschenkten Buch. Als er glaubte, alles verstanden zu haben, was der Leitfaden beschrieb, begann er sich zu fragen, was die anderen Autoren, deren Bücher im Anhang aufgeführt waren, wohl über die Gastronomie geschrieben haben mochten. Er überlegte ernsthaft, ob es sich lohnen könnte, sein für die eigene Gaststätte zurückgelegtes Geld für noch ein Buch auszugeben.

      Wenn er unterwegs in der Stadt an einem Buchladen vorbeikam, blieb er vor dem Schaufenster stehen. Aber niemals entdeckte er einen der auf den letzten Seiten seines Leitfadens aufgezählten Titel in der Auslage.

      Noch nie hatte er einen Fuß in eine Buchhandlung gesetzt. In manche der Läden konnte er von außen hineinsehen. Die Wände waren raumhoch mit Büchern verstellt. Die Kunden sprachen mit den Verkäufern, die ein wichtiges Gesicht machten. Oder sie standen vor den Regalen, nahmen ein Buch heraus und begannen, darin zu lesen, ohne es vorher bezahlt zu haben. Manche vermittelten ihm den Eindruck, sie wollten das Buch gar nicht kaufen, sondern im Laden lesen. Vielleicht war das sogar erlaubt, denn niemals sah er einen Buchhändler seinen Kunden ermahnen, das Buch wieder zurückzustellen.

      Der halbverhungerte Theo, der abends immer in das Neuköllner Lokal kam, um seine Zeitungen an die Gäste zu verkaufen, würde zu zetern beginnen, wenn jemand seine frisch gedruckten Blätter erst lesen und dann – vielleicht – bezahlen würde. Und was Georg besonders wunderte, war, dass der eine oder andere Kunde im Buchladen das Buch, in dem er gelesen hatte, wieder in das Regal zurückstellte und ohne überhaupt etwas gekauft zu haben das Geschäft verließ.

      Es dauerte ein paar Wochen, ehe er sich entschloss, eine Buchhandlung tatsächlich zu betreten.

      Die Kunden durften anscheinend wirklich tun und lassen, was sie wollten. Er hatte einen Laden entdeckt, in dem eine junge Verkäuferin die Leser bediente. Junge Frauen fand er weniger furchteinflößend als die alten Männer, die in den meisten anderen Buchhandlungen als Verkäufer angestellt waren. Seinen Leitfaden hatte er mitgenommen. Es konnte sicher