Maxi Hill

Die Nacht der Schuld


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in ihrem Refugium.

      Verlustangst, so nannte später Renée seinen unbändigen Willen, dass alles so bleiben möge wie es ist. Dazu gehörte, dass sie beide nichts auf der Welt trennen solle.

      Mit all ihren Fehlern hatte er sich abgefunden. Wenn sie nur bei ihm bleiben, ihm die Blamage einer Trennung ersparen würde, konnte er sogar seine feste Überzeugung verschmerzen: Renée kann nicht mehr lieben. Ob sie nur ihn nicht mehr lieben mochte, oder ob etwas mit ihr geschehen war, dass sie es nicht mehr konnte, um dieser Frage auf den Grund zu gehen, hatte er nie die nötige Energie aufgebracht.

      Freilich muss er sich nicht selbst belügen: Es gab da diverse Gründe für sein Misstrauen, da konnte sie schön tun wie sie wollte. Und wer weiß, was wieder in sie gefahren war, dass sie ihn an diesem Abend, in dieser Nacht, nicht lieben wollte.

      An ihrem Krankenbett, in dem sie lag und nicht mehr das war, was seine geliebte Frau einst ausmachte, hatte er versucht, ihr alles zu erklären. Man hört so einiges über komatöse Menschen. Sie würden alles hören, alles verstehen, könnten nur mit keinem Muskel reagieren. In den drei Nachmittagen hat er ihr zum Glück sein ganzes stimmiges Szenario eingehämmert, das ihnen beiden auch später nicht schaden würde.

      Vielleicht kehrt nach den traumatischen, fast lähmenden Tagen, gerade jetzt, seit er für eine ungewisse Zeit von diesem Anblick befreit ist, sein gesunder Alltag zurück. Ruhiger ist er nicht. Wer weiß schon, was diese Weißkittel hinter den sterilen Mauern mit ihr anstellen? Wenn ein Patient sich nicht wehren kann, ist er für allerlei medizinische Experimente das ideale Medium. Seine Angst, aber auch der Schmerz, sie dem Tode so nah im Bett liegen zu sehen und nichts tun zu können, hat Spuren in ihm hinterlassen.

      Wie lange war er beherrscht vom Hass auf seine Ungewissheit, Renée betreffend. Bisweilen war ihm die Idee gekommen, mit einem Handstreich alles zu beenden. Aber immer, wenn sie beide wieder zur Ruhe gekommen waren — und sofern Renée seine Liebe erwidert hatte — war ihm klar geworden, wie abwegig seine Gedanken spielten. Er ist kein lauter Mensch. Aber er kann verdammt wütend werden, wenn er sich betrogen fühlt. Wie oft im Leben wünscht man sich, anders zu sein, als man ist. Wer kann schon über seinen eigenen Schatten springen?

      Holger Bach lauscht untätig dem Ticken der Pendeluhr über dem Sideboard. Die Welt kann so friedlich sein.

      Die Wunden, die ihr gemeinsames Leben gerissen hat, werden irgendwann verheilen. Langsam aber stetig. Dennoch soll die neue Energie, die er seit diesem Morgen spürt, nicht nutzlos sein. Endlich einmal bringt er die Zeit auf, nachzuholen, was ihn die Umstände bisher versagt haben.

      Der Schlüssel an Renées Schreibtischtür steckt. Über Nacht zieht sie ihn nie ab, aber es wäre keine gute Idee gewesen, in ihren Unterlagen herumzuwühlen, solange die Gefahr bestand, dass sie plötzlich hinter ihm steht.

      Vielleicht gibt es noch andere Anzeichen, über die er diesen Hauptkommissar Weiler unterrichten sollte. Bisher hat er ihm nur einen Namen genannt — sein rotes Tuch: Marc Bergé.

      Irgendwann waren seine Träume von der ewigen Liebe geplatzt. Auf eine denkbar brutale Weise musste er mit anhören, wie Renée diesen Marc umgarnte. Und das vom heimischen Telefon aus, während er den Staubsauger durch alle Räume ihres gemütlichen Zuhauses schob. Er, der Trottel. Und dann war es passiert. Ein Adrenalin-Stoß entfaltete neue Wut. Nach einem fassungslosen Moment war er sich wie ein Raubtier vorgekommen, das lange genug gelauert hat und endlich zupacken sollte.

      Mit einem ähnlichen Energieschub wie an diesem bewussten Tag steht er auf und beugt sich über jenes Fach, das er seit langem heimlich ins Visier genommen hatte. Wenn Renée so viel Wert darauf legt, seinen Inhalt vor jedermanns Augen zu verbergen, kann es nur etwas in sich tragen, was ihm zu allem, was er sich nie beantworten konnte, Aufschluss bringt.

      Der Schlüssel klemmt, doch seine Geduld ist sprichwörtlich. Im oberen Schub liegen feinsäuberlich aneinandergereiht Stifte, Kulis, Pritt-Sticks, zwei Scheren und diverse Textmarker. Im Fach darunter stehen ein paar Ordner, einheitlich beschriftet mit einem eigens dafür angelegten Vorlagenprogramm für die Ordnerrücken. Pedantisch ist sie in diesen Dingen.

      Ganz unten im flachsten der drei Fächer liegen Papiere. Lose wie es scheint, doch das stimmt beim genauen Hinsehen nicht. Sie sind in verschiedene Bündel geheftet, bisweilen mit einem Deckblatt versehen oder in einer leichten Hülle.

      Eines erweckt Holgers Interesse. Ein Briefumschlag steckt mit einer Ecke unter dem Aktendulli. Renée hat ihn noch nicht abgeschickt, auch trägt er keine Briefmarke. Er ist nur mit ihrer Handschrift versehen: Mein Schatz.

      Holger versagen die Knie. Sein Herz schlägt plötzlich wie nie mehr zuvor, als er noch ebenso verliebt war, wie er inzwischen von Zweifeln zerfressen ist. Mit zitternden Fingern öffnet er die Lasche. Zugeklebt ist der Brief gottlob auch nicht…

      Renée schreibt seit langem kaum noch mit der Hand. Auch sie schwimmt in der Flut der Unsitten und benutzt für ihre Korrespondenz den Computer.

      Das Papier ist leicht getönt — nicht rosa oder blau, eher gelblich. Chamois würde Renée es nennen, sofern er sich an ihre Begriffe überhaupt noch erinnert. Manchmal hatte sie eine Art, mit den Dingen umzugehen, die an Pedanterie oder an Haarspalterei erinnerten. Dafür hatte er weder Zeit noch Muße…

      Zweimal gefaltet verbirgt das Papier viele Worte an einen Schatz, der ihr viel bedeuten muss.

      Bevor dieser Gedanke von Holger Bach endlich Besitz ergreift, tragen ihn seine Beine fast willenlos zum Sessel, wo die zitternde Hand zu entfalten gewillt ist, was er sich nie hätte ausmalen können.

       Mein liebster Schatz

       Verzeih mir, ich kann mal wieder nicht mit Dir reden. Wir beide wissen, dass reden bei uns zu nichts Gutem führt…

       Du hast mir sehr weh getan. Wie kannst Du nur denken, ich habe Dich betrogen. Ich habe einen alten Kollegen wiedergetroffen – vor ein paar Wochen schon. Er war lange nicht in der Stadt, weil es etwas gab, was ich Dir nicht erzählt habe. Dieses Etwas war für uns beide nicht wichtig und Du wirst es vermutlich auch nicht billigen.

       Als junge Kollegen teilten Marc und ich unsere Freude über die Arbeit ebenso wie unseren Frust über die devoten Chefs.

       An diesem Morgen war mir eingefallen, wann er Geburtstag hat. Früher in der Abteilung gab es an einem solchen Tage immer eine Überraschung, warum sollte es nicht jetzt noch immer möglich sein.

       Es war nichts als eine profane Gratulation aus alter Gewohnheit. Vermutlich war es Dir erschreckend heimlich vorgekommen, weil wir gerade beim Putzen waren, Du den Staubsauger führtest und ich mit feuchten Händen allerlei Hinterlassenschaften zuleibe rückte. Ein ungewöhnlicher Augenblick – ich weiß. Aber wie schnell bringt uns der Alltag wieder ab von den rein menschlichen Gesten. Und ich hätte vermutlich wieder vergessen, ihm zu gratulieren. Nein, ganz bestimmt sogar…

       Hätte ich Dich um Deine Erlaubnis fragen müssen, Marc anzurufen? Ist es das, was Du von mir erwartest?...

      Sie hat diesen Brief nicht beendet. Vermutlich hat sie doch Skrupel bekommen, weil wenige Tage danach — sie waren für ein paar Tage an die See gefahren — alles wieder ins Lot gekommen war.

      Weit weg von zu Hause war Renée stets weich wie Butter, und nichts anderes brauchte er nach dieser Art Ungewissheit, die sie ihm zuweilen bereitet hat. Es war alles wunderbar geworden. Er hat sie lieben dürfen bei Tag und bei Nacht. Doch dann fand sie diesen Hühnergott…

      Und damit war Marc Bergé schon bald wieder zwischen sie gekommen…

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