Mira Beller

UNARTIG


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in die Hocke. Mit angewinkelten Beinen verschränkt sie ihre Arme vor dem Gesicht. Was war nur los mit ihr? Was hat sie eben geträumt? Und wieso hat sie Paolo deshalb belogen?

      Nach ein paar Minuten Grübelei richtet sie sich ganz langsam wieder auf und geht zum Spiegel über dem Waschbecken. Sie wirft einen Blick in das blasse, vom Schlaf zerknitterte Gesicht. Unter ihren Augen liegen dunkle Schatten. Ihre Unterlippe blutet leicht, weil sie wie wild darauf biss. Sie atmet kurz und tief durch, spritzt sich eiskaltes Wasser ins Gesicht und betätigt zu guter Letzt die Toilettenspülung. Paolo soll nicht denken, dass sie nur vorgab, auf die Toilette zu müssen.

      Sie verlässt das Badezimmer und kuschelt sich im Bett ganz dicht an Paolo. Dieser ist bereits wieder eingeschlafen, was sein leises Schnauben verrät. Immerhin ist er nicht zu besorgt, denkt sie. Sie liegt noch einige Zeit wach und versucht das Rätsel zu entwirren, bis die Müdigkeit die Oberhand gewinnt und sie in einen weiteren tiefen Schlaf verfallen lässt. Dieser Albtraum wird nicht der letzte sein, denn dies ist nur der Anfang eines langen realen Albtraums im Leben von Laure Winter.

      SCHLAF KINDLEIN, SCHLAF

      1.

      Melodisches Vogelgezwitscher, erste sanfte Sonnenstrahlen und der zarte Duft von erwachenden Blumen. Ein wunderschöner Spätfrühlingsmorgen kündigt sich an. Laure sitzt bereits auf der Terrasse und schlürft an ihrem Cappuccino. Nachdenklich starrt sie in den vor ihr liegenden gehegten Garten. Dieser wurde mit Liebe zum Detail von Paolo bepflanzt. Neben einem wunderschönen Rosenbogen erblühen ringsum rosafarbene, hellgelbe, blaue und weiße Blumen in den klar abgetrennten Rabatten. Der Sommer macht sich bereit, um seine volle Kraft zu entfalten. Eigentlich kann Laure die heiß ersehnte Jahreszeit kaum noch erwarten. Endlich kann sie das Hallenbad verlassen und ihre Bahnen nun wieder im Freibad zurücklegen und sich darüber hinaus eine schöne Bräune zulegen.

      Doch was sie sonst an einem so wunderschönen Tag erfreut, ist heute gänzlich unwichtig. Denn an diesem Morgen starrt sie wie hypnotisiert in die zarten Blütenknospen. Ihre Gedanken liegen ganz fern. Sie sinniert wieder über den Traum der letzten Nacht.

      Wieso kam ihr diese Situation so bekannt vor? Hat sie sie schon einmal in einem Film gesehen? Darüber in einem Thriller gelesen oder hat ihr jemand schon einmal davon erzählt?

      Vielleicht ist es nur eine harmlose Traumsymbolik. Doch was sollte es bedeuten? Angst vor dem Versagen beim Sender?

      Derzeit läuft alles bestens. Ihr Chef hatte sie letztens besonders gelobt und ihr zudem weitere Recherchearbeit für eine neue Sendung zugesagt. Für diese soll sie ein spannendes Konzept für ein außergewöhnliches Reisemagazin entwickeln. Sie freut sich schon sehr auf diese neue Herausforderung und über das Vertrauen, dass in ihre Fähigkeiten gelegt wird.

      Also Ängste um den Job können es wohl nicht sein. Welche logischen Schlüsse könnte man noch aus diesem Traum ziehen? Denn auch mit Paolo läuft es wunderbar. Sie sehen sich regelmäßig und verbringen ihre Wochenenden in den Bergen oder gemeinsam im Garten. Paolo interessiert sich sehr für Laures Aufgaben im Sender und macht regelmäßig Scherze über ihre Ernsthaftigkeit und Verbissenheit im Alltag, bis auch sie wieder darüber lachen kann.

      Wie auch beim letzten Mal, als sie beide ihren Abend in einer angesagten Bar verbrachten. Anstelle ihres Lieblingsdrinks - einen Gin Fizz - bekam sie eine Margarita.

      Als sie den Kellner wenige Minuten darauf ansprach, dass sie diesen Drink nicht bestellt habe, erwiderte dieser, dass sie nun schon davon getrunken habe und dies ebenso ein guter Cocktail sei. Warum sie sich darüber nun so aufrege? Sie lief hochrot an und wollte gerade den Mund öffnen, um den Kellner die Meinung zu geigen, als Paolo mit einem lässigen Augenzwinkern sagte: „Lass gut sein, Liebling. Ich nehm das Getränk, nimm‘ du dafür meinen Wein. Den magst du doch auch so gern.“ Der Kellner zog von Dannen und Laure starrte Paolo verdutzt und zugleich wütend an. „Paolo, ich wollte dem Kellner gerade klar machen, dass ich ein anderes Getränk bekommen habe und dass er mir ein neues bringen soll. Dies ist seine Aufgabe. Ich dachte mir eigentlich, dass man bei einem Fehler dem Gast entgegen kommt. Eine Entschuldigungsgeste wäre wohl nicht zu viel erwartet. Und als ich ihn gerade deswegen aufmerksam machen wollte, lenkst du wieder ein. Das ist so typisch für dich!“ Paolo schmunzelt vergnügt. „Aber Laure, typisch für dich ist, dass du dich so leicht aus der Fassung bringen lässt.“ Und er lächelt weiterhin, als er weiterspricht: „Der Kellner hat einen Fehler gemacht und er ist nicht gut in seinem Job, weil er dir nicht entgegenkommt. Oder aber der Chef von ihm fordert dies so. Fakt ist auf jeden Fall, dass dies kein Drama ist. Natürlich kannst du ihn darauf aufmerksam machen, doch wollen wir uns den Abend verderben, indem der Kerl dann anschließend in deine zweite Margarita spuckt, die du letztendlich trinken würdest?“

      Sie musste zugeben, dass er einerseits Recht hatte. Warum aufregen und sich die Laune verderben. Andererseits erschien ihr das als ungerecht und sie fordert nun mal gern stets ihr Recht ein. Dass Paolo diese Situation abbricht und sie somit ausbremst, passt ihr gar nicht. Doch wenn sie ihm in die sanften braunen Augen blickt kann sie nicht umhin, als ihm sofort zu verzeihen. „Ist schon ok, ich werde ihn trinken. Schmeckt ja auch gut. Und dann ist unser Abend gerettet.“ Sein Lächeln wird noch breiter. „Ja, allerdings. Danke, Schatz! Und nun lass uns von etwas anderem reden. Wie war‘s beim Sender?“

      2.

      Grünlich schimmerndes und dennoch klares Wasser. Golden funkelt die Sonne in den sich kräuselnden Wellen. Ein sattes Abendrot beleuchtet die umliegenden hügeligen Felder und das flache Ufer. Laure schließt die Augen und atmet sanft durch. Nur einzelnes Vogelgezwitscher erklingt. Fröhlich und aufmunternd. Ein Trost der Natur. Sie lässt den Blick über den See schweifen, der ganz zärtlich vom Wind gestreift wird.

      Heute hat sie früher Feierabend gemacht und ist mit dem Auto zu ihrem Lieblingssee in der Nähe aufgebrochen. Dort sitzt sie nun auf einer einsam liegenden Bank und beobachtet das harmonische Treiben der Natur.

      Hier kann sie abschalten, den Alltag einen Moment lang vergessen. Die vollkommene Harmonie. Ein wunderbarer Ort. Hier kann einem nichts Böses geschehen. Oder doch?

      Es herrscht scheinbar der sprichwörtliche Frieden auf Erden. Dennoch sträuben sich bei Laure alle Nackenhaare auf. Ihr Puls rast und sie hat das Gefühl, dass sich ganz in der Nähe jemand oder etwas aufhält. Eine eigenartige Bedrohung in einem verlassenen Flecken Natur. Sie mahnt sich, ihre Gedanken auf etwas anderes zu richten. Doch die Nervosität nimmt immer weiter zu. Ihre Handflächen beginnen bereits zu schwitzen und ihre Finger zittern unkontrolliert. Nun bebt auch noch ihr kompletter Oberkörper. Zur Beruhigung wiegt sie sich vor und zurück. Die sich in ihr breitmachende Panik gewinnt jedoch die Oberhand. Die Bedrohung scheint nun ganz nah zu sein.

      Obwohl sie nichts oder niemanden sehen kann, steigt ihr ein vertrauter Duft in die Nase. Süßlich herb und dazu leicht rostig. Plötzlich spürt sie außerdem ein bleiernes Gewicht auf ihren Schultern, als würde jemand fest daran ziehen und sie gegen die Erde drücken wollen. Und dann dieser Schmerz. Dieser unsäglich grässliche Schmerz. Er befindet sich tief in ihrem Inneren. Doch wenn sie sich stark darauf konzentriert, erkennt sie, dass sein Ursprung woanders liegt. Er zieht sich vom Bauch bis hin zu einer unteren Region. Dabei fühlt er sich wie tausend kleine Messerstiche an. Zugleich dumpf als auch bohrend. Unendlich andauernd. ‚Es wird nie wieder gut werden‘, dröhnt es durch ihren Kopf. ‚Brav sein und schön still sein‘, befiehlt ihr eine innere Stimme. Wieso hört diese Qual nicht auf? Was oder wer ist dafür verantwortlich?

      Als ihre Schmerzen ins schier Unermessliche steigen, ist es von einem Moment zum anderen stockfinster. Das Gefühlschaos hat nun ein Ende. Oder hat es erst begonnen?

      Der beruhigende Takt des antiken Weckers auf ihrem Nachtkästchen erfüllt den sonst totenstillen Raum. Daneben ist nur noch ein ganz leises Schnauben wahrnehmbar. Der Duft ist verschwunden. Stattdessen riecht es frisch und süßlich nach einer lauen Sommernacht.

      Laure fühlt sich federleicht. Einzig allein der Schmerz in ihrer Intimregion ist noch zu verspüren, hat aber an Intensität bereits abgenommen. Neben ihr liegt Paolo, friedlich schlummernd. Sie richtet sich in ihrem Bett auf und wirft einen Blick in das dunkle Schlafzimmer.