Inga Peng

Mord ohne Schatten


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kam schlagartig die Erinnerung an ein blauäugiges Mädchen, das ohne Rücksicht auf eigene Verluste eine heftige Prügelei zwischen ihm und ihrem Bruder mit einem tiefen Biss in seinen Arm beendet hatte. Nie mehr in seinem Leben hatte er eine solch kalte Entschlossenheit in den Augen eines weiblichen Wesens gelesen. Dreizehn waren er und der Bruder gewesen – Klassenkameraden – und sie verdroschen sich aus völlig irrationalen Emotionen schier ohne Ende. Zu seiner Schande, das musste er sich eingestehen, ging ein Großteil der Provokation und der daraus resultierenden Handgreiflichkeiten auf sein Konto. Zu keinem Menschen hatte er in einem derartig heftigen Verhältnis gestanden. Weder vorher noch nachher. Warum? Das blieb auch ihm ein unlösbares Rätsel. Bis auf den heutigen Tag. Und nun saß das kleine entschlossene Mädchen als ausgewachsene Frau und Krankenschwester vor ihm. Jetzt erst tauchte das Erkennen in ihrem Gesicht auf. Sie stockte und wandte sich leicht irritiert ab. Das war doch nicht?! Doch, das war der Seeberg! – Du liebes Lottchen, der hatte noch gefehlt! – Nun ja, wahrscheinlich war er nicht mehr das rauflustige Bürschlein von einst. Dafür sprach seine Berufswahl. Christian Seeberg und ihr Bruder Daniel. Das war ein Kapitel für sich gewesen! An dem hinter ihr stehenden Mann hatte sie die einzige Gewalttätigkeit verübt, die sie niemals bereut hatte. Denn danach war es zwischen den beiden zu einer Art Waffenstillstand gekommen. Und nun stand er hier als ermittelnder Beamter, der alles und jeden durchleuchten und das Unterste nach oben kehren würde. Das war nicht nur Leonora klar. Seeberg teilte ihnen knapp mit, dass Hitzbleck einer Überdosis Insulin erlegen war. Eine Hypoglykämie (Unterzuckerung) mit letalem Ausgang. Der Kollege sei bereits dabei, die Insulinbestände der Station zu überprüfen. Die Zahl Insulinampullen würde mit den täglichen Insulingaben verglichen werden. Saskia seufzte leise und gequält auf und sah hilflos in die Runde. Alle schwiegen, aber jeder dachte bei sich, dass die ohnehin schon stressigen Arbeitstage noch unerquicklicher ablaufen würden, wenn überall ermittelnde Beamte im Wege stünden. Dann folgte der Gedanke an den Mörder, der möglicherweise unter ihnen weilte. Verstohlene – fragende – ja abtastende Blicke gingen hin und her. Seebergs „zweiter Mann“ war still, fast geräuschlos hinter seinen Chef getreten. Leonora sollte sich später in keiner Weise an ihn erinnern können. So unscheinbar waren sein Äußeres, der Klang seiner Stimme, der Inhalt seiner Worte, sein ganzes Auftreten und sogar sein Name! Sein gesamtes Kapital lag in seiner weit überdurchschnittlichen Intelligenz begründet. Ein fotografisches Gedächtnis, analytische Begabung und zähe, detailversessene Übergenauigkeit reichten sich die Hände und bildeten ein brauchbares Ganzes. Seeberg hielt ihn zuweilen für unersetzbar. Trotz des besseren Wissens, dass dem nicht so war. Welcher Mensch war schon unersetzlich – funktionell gesehen? – Auch der so außerordentlich befähigte Unscheinbar nicht! Und nun hatten sie das Rätsel eines unerklärlichen Todes im Krankenhaus zu lösen. Seeberg und Unscheinbars Nachforschungen waren bereits soweit gediehen, dass sie auf weitere mysteriöse Todesfälle innerhalb der letzten Jahre gestoßen waren. Obwohl damals anscheinend kein weiteres Interesse an einer lückenlosen Aufklärung bestanden zu haben schien. Aufgrund dieser Tatsache war die Möglichkeit, dass sich der Mörder aus den Reihen des Pflegepersonals rekrutierte, nicht auszuschließen. Das würde viele, viele Gespräche und Verhöre mit dem gar nicht begeistert dreinschauenden Team der A1 bedeuten. Seeberg sah ein hartes Stück Arbeit auf sich zukommen. Als erstes würde er mit Saskia Hartmann, der Stationsschwester, beginnen. Kein leichtes Unterfangen – wie ihre abweisende Körpersprache und Mimik signalisierten. Mit einer schlecht verhohlenen Mischung aus Ängstlichkeit und zögerndem Widerwillen nahm sie die Dienstpläne von der Pinnwand ab und übergab sie – Unscheinbar. – Seeberg dankte knapp und erklärte, dass sie morgen wieder an der Wand hängen würden. Die gleiche Totenstille, die seiner Vorstellung gefolgt war, begleitete ihn auf den Flur hinaus. Erst als er und Unscheinbar vor dem Aufzug warteten, erhob sich ein aufgeregtes Stimmengewirr. Leonora behielt die Tatsache, dass sie Christian Seeberg gewissermaßen kannte, klugerweise für sich! Sie saßen aufgereiht, ja geziert da, als ob sie den „polizeilichen Besuch“ erwartet hätten. Sabina Hitzbleck und ihre Mutter Mathilde Brandel. Sabina war siebenundzwanzig, klein, zierlich, haselnussbraune Augen und Haare, zarte ungewöhnlich gleichmäßige Gesichtszüge. Auf den ersten Blick wirkte sie wie eine Fünfzehnjährige. Wobei ihr unsicheres, verklemmtes Auftreten diesen Eindruck noch verstärkte. Ein zu weites schwarzes Kleid schlotterte sichtlich um ihren zarten Körper. Die roten Flecken, die sich auf dem Dekollete und Hals abzeichneten, vertieften sich während des Gesprächs deutlich. Die Mutter schien genau das Gegenteil zu sein. Sechsundsechzigjährig – stark und kompakt an Leib und Seele. Mattbraune Stützstrümpfe verbargen schlecht die starken Krampfadern, die von vier Geburten, Schwerstarbeit – vor allem in Kindheit und Jugend – und einem schwachen Bindegewebe zeugten. Mathilde trug die dunkelgrauen Haare – sorgfältig dauergewellt – aus der eigensinnigen, intelligenten hohen Stirn zurückgekämmt. Ihr aufmerksamer, fast kalter Blick wich keine Sekunde von der Tochter. Welche Frage Seeberg Sabina auch stellte, Mutter Mathilde beantwortete sie. Doch er hörte sich das an, ohne sie zu unterbrechen oder darauf hinzuweisen, dass er eigentlich die Tochter gefragt hatte. Insgeheim zog er seine Schlüsse. Sehr genau sah er sich um. Ließ sich auch weitere Räume außer dem Wohnzimmer zeigen. Irgendetwas löste Irritation in ihm aus. Aber er vermochte nicht zu erkennen was es war. Als sie wieder im Wohnzimmer saßen, wurde eine helle Kinderstimme laut. Joachim und Sabina Hitzblecks zweieinhalbjähriger Sohn Marco war aus seinem Nickerchen erwacht und machte sich bemerkbar. Ein Hemdenmatz mit Pampers Polsterung um den Po. Bei dem unerwarteten Anblick der zwei Fremden fing er an zu weinen, rannte zu seiner Mutter und vergrub seinen runden Kinderkopf in deren Schoß. An ein weiteres Gespräch war nicht mehr zu denken. Denn Sabina war vollauf beschäftigt, ihr kleines süßes männliches Abbild zu beruhigen und zu trösten. Seeberg und Unscheinbar erhoben sich. Seeberg entschied sich schnell, Sabina auf das Revier zu bestellen. Unter anderen, weniger offiziellen Umständen, war ein Einzelgespräch mit ihr anscheinend nicht möglich. Mit dem Kind auf dem Arm brachte sie die beiden Beamten durch den langen Flur zur Haustür. Mathilde Brandel hatte sich ebenfalls erhoben, folgte in einem gewissen Abstand und behielt wortlos die gesamte Szenerie im Auge. Seeberg sprach seine Vorladung auf das Revier aus. Wäre ihr neun oder zehn Uhr recht? Die blass gewordenen roten Flecken auf Sabinas Hals und Dekollete liefen in Sekunden dunkel- rot an. Sie schnappte nach Luft wie jemand, der eine große körperliche Anstrengung hinter sich gebracht hatte. Fahrig werdend setzte sie ihren Sohn auf dem Boden ab und wandte sich Hilfe suchend zu ihrer Mutter um. Und wieder war es Mathilde die antwortete. Ja, zehn Uhr sei recht. Der Herr Kommissar müsse verstehen. Eine solch gute Ehe – das junge Glück zerstört durch einen Mord! Ihre arme Tochter sei am Ende ihrer Nerven! Sabina hatte – wie als Bestätigung dieser Worte – leise zu schluchzen begonnen. Seeberg begütigte die beiden Damen. Selbstverständlich verstehe er die Situation. Es ginge nur um einige kurze unbedeutende Fragen, die aber gestellt werden müssten. Den Damen sei doch auch daran gelegen, dass der Mörder entlarvt und dingfest gemacht werden würde – oder? Mutter und Tochter nickten sofort im Gleichklang. Ein kühler Abschied – die Türe mit den schmiedeeisernen Beschlägen schloss fast lautlos. Es war ein gutes Stück Weg bis zu ihrem Wagen. Die Parkplatzprobleme hatten sich bis in diesen ruhigen Wohnbezirk ausgebreitet. Wenn Seeberg schwieg herrschte Schweigen, denn Unscheinbar vermied jedes für ihn unnötige Wort. So liefen sie im Eilschritt die Straße entlang. Einfamilienhäuschen und gepflegte Vorgärten säumten ihren Weg. „Sag mir, was es ist. Sag es mir, Unscheinbar!“ Unscheinbar hielt im Gehen inne. „Sie scheint nicht wirklich präsent zu sein!“ „Was? Drücke dich deutlicher aus!“ Unscheinbar machte eine Gedankenpause. Seeberg wartete geduldig ab. Denn das Gehirn des detailversessenen Kombinationsgenies lief sichtlich auf Hochtouren. Erkennbar an der dezenten Rötung seines ansonsten unscheinbaren Gesichtsteints. Er suchte – ja rang nach den richtigen Worten. Unscheinbar mochte ein Bündel außerordentlicher Begabung sein, aber er war gewiss kein großer Redner vor dem Herrn. Seeberg argwöhnte, dass aus diesem rhetorischen Mangeltalent Unscheinbars Schweigsamkeit resultierte. Denn er hatte die Eigenheit, sich nur mit den Dingen zu beschäftigen, die er gut, ja exzellent beherrschte. „Die Wohnungseinrichtung, die Möbel. Alles ist eingerichtet, wie es ein Mann einrichten würde. Ein alleinstehender kühler Mann. In sämtlichen Räumen. Nichts von einer Frau.“ Seeberg wusste augenblicklich, dass dies der Punkt war, der seine Irritation ausgelöst hatte. Unscheinbar hatte – wie so oft – den hundertprozentigen Instinkt bewiesen. „Ob sie dort wohnt?“ „Ja, wahrscheinlich. Ihre Kleider hängen im Schlafzimmerschrank.“ Seebergs dichte rechte Augenbraue schnellte hoch. Fragend