Inga Peng

Mord ohne Schatten


Скачать книгу

kühnes Profil auf und war in keiner Weise an irgendwelchen Mobbingaktivitäten, gegen wen auch immer, beteiligt. Sie war es auch, die Leonora mit ihren nachtdunklen Olivenaugen auf dem Flur erspähte. „Hallo Leonora, wie geht es dir?“ Annika drehte sich um, packte Leonora beim Kittel und zog sie in die Umkleidekabine. „Aber...“, hub diese überrumpelt an. „Du hast doch alle Tabletts ausgeteilt, oder? Jetzt hast du auch mal fünf Minuten Pause. Auch wenn du als Nichtraucherin keine Zigarettenalibi hast. Also, was ist los?! „Ach so, ein Patient ist verstorben!“ Annika zog die Augenbrauen fragend hoch: „Und?“. „Er war erst vierzig. Die Polizei geht von einem möglichen Mord aus.“ „Ach so, und sonst?“ „Was und sonst?“, fragte Leonora leicht irritiert. „Wie es dir geht!“ Annikas bernsteinbraune Augen betrachteten sie sehr aufmerksam und leicht ungeduldig. „Naja, es geht so,“ erklärte Leonora lahm, fühlte jedoch unter diesem auf der Wahrheit bestehenden Blick ihren Vorsatz, sich nirgendwo zu beklagen, schwinden. „Ach, was soll’s. Es ist furchtbar. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich machen soll, Annika. Bosheiten und Ablehnung wie ich mich auch drehe und wende!“ „Bei mir war es ähnlich. Warte erst einmal ab, wie es sich weiter entwickelt. Dann können wir entscheiden, was weiter zu tun ist.“ Leonora fühlte sich seltsam getröstet durch dieses schlichte „wir“. Instinktiv wusste sie, dass ihr Annika ohne wenn und aber wohlgesonnen war. Auch wenn diese ihren geradlinigen Charakter und ihr mitfühlendes gutmütiges Wesen hinter einer handfesten burschikosen, zuweilen recht rauen Art verbarg. Auch Olivia beäugte Leonora stumm und voller geheimen Mitleids. Trotz ihrer Jugend waren ihr solche Erfahrungen nicht fremd! Zusammen gingen sie zum Stationszimmer. Kamen an einer missgelaunten Helena, die seufzend leere Tabletts in den Essenswagen schob, vorbei. In dem Stationszimmer trafen sie auf einen Christian Seeberg, der am Fenster stand und scheinbar seelenruhig auf die Dinge harrte, die da kommen sollten. Schließlich saßen die beiden Schichten stumm um den großen Tisch herum. Erst als Seeberg sie aufforderte, mit dem üblichen Programm fortzufahren, kam stockend so etwas wie eine Übergabe zustande. Leonora, die wieder einmal mit dem Rücken zu ihm saß, fühlte ab und an seinen Blick im Nacken. Oder bildete sie sich das nur ein? Wahrscheinlich! In dieser überspannten Situation! Doch auch hier trog ihr Gefühl sie nicht. Seeberg schweifte immer wieder sekundenweise von seiner konzentrierten Aufmerksamkeit ab – in Gedanken daran, wie sich die rotbraunen dichten sanften Wellen von Leonoras Haarpracht in seinen Händen anfühlen würden. Und. . . Seeberg versuchte sich zusammenzureißen. Es war weder der Ort noch die Zeit, noch die „richtige“ Frau für derlei erotisch angehauchte Betrachtungen. Zum Kuckuck – Leonora Gutendorf – Roth gehörte zum Kreis der Verdächtigen! Jetzt war es seine Aufgabe, den gesamten Ablauf der Spätschicht und der frühen Nachtwache detailliert zu rekonstruieren. Die wahrscheinliche Zeitspanne des Mordes. Wer das Zimmer des Opfers aufgesucht hatte, wer früher oder später die Station verlassen hatte oder auf Toilette gegangen war. Alles und jedes bekam Gewichtigkeit – vor allem angesichts der vier „ausgegrabenen Akten“, in denen die vier ungeklärten Todesfälle mehr oder weniger genau festgehalten worden waren. Vier in einem Zeitraum von knapp achtzehn Monaten! In zwei der Fälle war eine natürliche Todesursache so gut wie auszuschließen. Und bei den anderen beiden lag die Wahrscheinlichkeit bei ca. fünfzig Prozent, sich doch als Tötungsdelikt zu entpuppen. Christian Seeberg hatte seine unsichtbaren Radarantennen ausgefahren, um all das Unausgesprochene wahrzunehmen. Vor allem der Teammitglieder untereinander. Ihm war Leonoras Situation sehr schnell klar geworden. Wer solche Kollegen wie Saskia Hartmann oder Schwester Conny hatte, der brauchte keine Feinde mehr. Nun gehörte es zu seinen Aufgaben herauszufinden, ob ein wie auch immer gearteter Zusammenhang zwischen dem Mord und dieser offensichtlich desolaten Gruppensituation bestand. Wobei er in seinem Gedankenablauf natürlich wieder bei Leonora landete! Im Moment ergriff Stationsschwester Saskia das Wort. Forderte das Personal auf, den Polizeibeamten in jeder Weise behilflich zu sein. Dann setzte sie, für alle gut hörbar – Leonora fixierend – in die wieder entstandene Stille eine letzte Bemerkung hinzu: „Haltet die Augen offen bei den „Neuen“ auf unserer Station. Besonders TEILZEITKRÄFTE lernt man oft nicht genug kennen!“ Sämtliche Köpfe wandten sich Leonora zu, die meisten schnell wieder ab. „Da geht jemand über mein Grab!“ durchzuckte es die an den Pranger Gestellte. Sie fühlte wie ihr der Schweiß ausbrach. Mit zittrigen Knien erhob sie sich und ließ ein mühseliges „Tschüss“ hören. Mit eiligen Schritten verließ sie die Klinik. Die letzten zweihundert Meter rannte sie förmlich. „Bloß weg hier. Weg, weg, weg.“ Immer noch vor innerer Erregung zitternd versuchte sie, ihren gelben „Kanarienvogel“ zu öffnen. Gerade als sie sich seinem weichen, von der Sonne vorgewärmten Fahrersitz anvertrauen wollte, trug der aufgekommene Wind ihren Namen an ihr Ohr. Den Gurt in der Hand, wandte sie sich um. Annika stand schnell atmend mit geröteten Wangen vor ihr. „Nimmst du mich ein Stück mit?“ Leonora streckte den rechten Arm aus, um wortlos die Beifahrertür zu entriegeln. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Bis Annikas raues: „Sollen wir hier übernachten? Fahr schon los!“ Leonora in Bewegung setzte. Mechanisch drehte sie den Zündschlüssel, löste die Handbremse, legte den Rückwärtsgang ein und steuerte mit Augenmaß den gelben „Kanarienvogel“ aus der Parklücke. Sie konzentrierte sich bewusst und intensiv auf das Fahren und den Verkehr. Das „erlöste“ sie kurzfristig von all ihren unangenehmen Gedanken. Mit halbem Ohr lauschte sie Annikas Geplauder über mehr oder weniger harmlose Stationsgeschehnisse und hoffte, an passender Stelle ihr „ja“, „ach“ oder „tatsächlich“ zu brummen. „Hier rechts musst du einbiegen!“ Schließlich standen sie vor einem gestrichenen Mehrfamilienhaus in dem Annika eine exklusive, stilvoll eingerichtete Wohnung bewohnte. Sie ersparte Leonora falsche Trostphasen wie „es wird schon“ – „alles geht gut“ – „Kopf hoch.“ Beide wussten – oder besser ahnten – dass sich die Lage auf der A1 wahrscheinlich noch verschlimmern würde. „Was meinst du, wen die alles noch verdächtigen werden. Bestimmt nicht nur dich alleine. Also bis morgen!“ „Soll ich dich morgen früh abholen?“ „Lieb von dir, aber nicht nötig. Der kleine Morgenmarsch bringt meinen Kreislauf in Schwung. Du weißt ja, mein niedriger Blutdruck! Mach’s gut!“ Sagte es, schlug die Autotür zu und verschwand mit grüßend erhobener Hand im Hauseingang. Der Schatten nahm sie auf und verschluckte die Umrisse. Leonora wendete den Wagen und die Straße, die in eine Landstraße überging, hatte sie wieder. Unbewusst atmete sie tief auf, als das gelb leuchtende Ortsschild ihres Heimatstädtchens sichtbar wurde. Als ob in diesem uralten Ort ihre Rettung läge. Instinktiv durchlebte sie das urmenschliche Gefühl, dass sich die Gefahr in vertrauter Umgebung minimierte. Direkt hinter dem Ortsschild bog sie auf eine schmale Nebenstraße, weg von der Hauptstraße, die in den Ortskern führte, ein. Hier entfaltete sich die ganze Schönheit des Kraichgaus. Wiesen, Weiden und Wald bedeckten sanfte Hügel. Leonoras Eltern wohnten in geradezu ländlicher Idylle. Sie parkte an ihrem gewohnten Platz zwischen hoch gewachsenen Tannen, die gleich Wächtern die direkte Sicht auf diesen Teil des weitläufigen Grundstücks nahmen. Ehe ihre ausgestreckte Hand den Klingelknopf berührte öffnete sich die schwere Haustür. Dem feinen Gehör ihrer Mutter entging so gut wie nichts. Elisabeth Roth, genannt Lisbeth, war angesichts ihrer Tochter innerlich entsetzt. Solch eine Erschöpfung und Anspannung, ja mühsam verhohlene Verzweiflung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. Doch Lisbeth beherrschte sich und ließ sich zu keinerlei Fragen hinreißen. Leonora war das verschlossenste ihrer drei Kinder. Der Typ Mensch, der stumm und verbissen die Höhepunkte seiner Probleme und Leiden durchschritt und erst über sie sprechen konnte, wenn sie so gut wie ausgestanden und gelöst waren. Lisbeth hatte es längst aufgegeben, etwas daran ändern zu wollen. Denn Leonora teilte sich freiwillig an dem von ihr erwählten Zeitpunkt mit oder überhaupt nicht. Darüber durfte man sich auch nicht von Leonoras lebhaftem Temperament täuschen lassen. Es signalisierte mehr Offenheit und Kontaktfreudigkeit als tatsächlich vorhanden war. Und diese scheinbare Diskrepanz hatte schon mehr als einen Mitmenschen irritiert. Doch das war Leonora und so würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben! So hatte sich Lisbeth auf ihr mittleres Kind eingestellt und beließ es dabei, die Tochter mit jener Unaufdringlichkeit zu lieben und zu begleiten, derer diese bedurfte. Um so mehr rührte es sie, wenn Leonora überraschend mit diesem oder jenem kleinen Geschenk, bestimmten Süßigkeiten, welche sie besonders liebte etwa, oder Seidentüchlein mit stilvollem Design aufwartete, und diese mit wortloser Liebe in den klaren blauen Augen der Mutter in die Hand drückte. Fast genau so gestaltete sich ihr Verhältnis zu dem Vater. Dessen unausgesprochenes Lieblingskind sie war. Es reichte, wenn er es wusste, oder? Alwin Roth gehörte zu den Menschen,