Inga Peng

Mord ohne Schatten


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wie eine Gerte und ließ ungestraft ihre unberechenbaren, erschreckend rasant wechselnden Stimmungen und Launen an Patienten und bestimmten Kollegen aus. Leonora selbstverständlich eingeschlossen. Leonora selbst fühlte so etwas wie Hass gegen die arrogante, zuweilen unglaublich freche und ach so pflegescheue verhinderte Laufstegschönheit in sich wachsen. Zu gerne hätte sie die „Spinatwachtel“, wie sie Helena sie in Gedanken nannte, Mores und Arbeit gelehrt. Von den zehn Nägeln wäre unter Garantie höchstens einer heil geblieben! Aber leider befand sie sich nicht in der Position dazu! Im Gegenteil. Schon beim Betreten des Stationszimmers spürte sie, dass der Wind, der ihr entgegenschlug, noch schärfer geworden war. Und wie schon gesagt, dank Hitzblecks ungeklärtem Ableben war es unmöglich zu kündigen. Leonora hätte viel darum gegeben, an die tröstende Kraft des Gebets glauben zu können, so wie es ihre Eltern – treue Kirchgänger – schon ein Leben lang taten und so im Stande waren, die Schwierigkeiten der menschlichen Existenz mit einem starken inneren Halt – ihrem Glauben an Gott – zu meistern. Bei ihr war da ein Kinderglaube gewesen, der aber keine Fortsetzung fand. Wohl sehr zum Leidwesen der Eltern, die sie aber nie bedrängten, sondern wohl eher mit Gott über sie sprachen als mit ihr über Gott. Und dafür war sie insgeheim sehr dankbar. Religiöse Auseinandersetzungen hätten ihr gerade noch gefehlt! Aber ach, ihr blieb kein religiöser Trost! Wie sollte sie mit einem Gott sprechen, dessen Existenz sie übrigens keine Minute bezweifelte, dem sie aber den Rücken zugekehrt hatte? Und jetzt – jetzt traute sie es sich nicht mehr IHN anzusprechen. Als Saskias insgesamt scharfer Ton sich ihr zuwandte, stellte sie augenblicklich ihre melancholischen, religiösen Betrachtungen ein. „Wir sind heute nur zu viert!“, nörgelte das sauertöpfige Stationsoberhaupt. „Also ist Beeilung angesagt! Nicht wahr, Leonora?“, setzte sie boshaft und subtil kränkend hinzu. Wohl wissend, dass die Neue vielleicht unsicher aber keineswegs langsam war. Über Helenas hübsches Gesicht huschte ein kleines hämisches Grinsen. Aus dem Augenwinkel Leonora betrachtend, ergötzte sie sich an deren Betroffenheit. Wabbelbacke ging das alles scheinbar nichts an. Leonora nahm den blitzschnellen verständnisinnigen Blickwechsel zwischen ihr und Saskia wahr und ahnte, dass unausgelotete Gefahren wie Fußangeln vor ihr lagen. Als wie richtig sollte sich ihr Gefühl noch erweisen! Helena warf einen letzten prüfenden Blick auf die rotglänzenden Fingernägel und bewegte sich gemütlich in Richtung Schreibtisch. Für Leonora verwandelten sich die folgenden Stunden in eine ununterbrochene Schikane. Was sie auch tat war zu langsam, nicht gut genug oder sonst wie unzulänglich. Trotz dem schier unüberwindbaren Berg von Arbeit, die geleistet sein wollte, gelang es Saskia, auf geheimnisvolle Art überall da aufzutauchen, wo Leonora gerade zu tun hatte. „Geht das nicht noch langsamer?!?“, kommentierte sie höhnisch, als Leonora im Eilzugtempo Betten machte und rauschte sofort wieder davon. Kurz darauf knurrte sie augenrollend, ob sie alles alleine machen müsse, als Leonora gerade dabei war, Spritzen aufzuziehen und war wieder verschwunden, ehe seitens Leonora eine Reaktion kommen konnte. Helena hatte im Nebenraum das geneigte Ohr gespitzt, und während sie papierraschelnd emsige Tätigkeit vorschützte, lachte sie vor sich hin. Denn Schadenfreude blieb immer noch die beste Freude! Innerlich zutiefst deprimiert gelang es Leonora die Fassung zu wahren. Sobald die Sache Hitzbleck geklärt war, würde sie der Oberin die fristlose Kündigung auf den Schreibtisch legen. Nicht ohne eine Stellungnahme zum Thema A1 . Noch nie in ihrem Leben war sie vor einer solch unbegründeten und unerklärlichen Ablehnung ihrer Person gestanden. Und sie verfügte über keine Verhaltensstrategien damit umzugehen. Ihr blieb allein die Flucht und die Hoffnung auf nicht allzu viele seelische Blessuren. Das erkannte sie an diesem Morgen ganz klar und unmissverständlich. Jetzt ging es ausschließlich darum, nicht das Rückzugsgefecht zu verlieren. Und auch nicht die Nerven! Doch das erwies sich als hohe, kaum zu erreichende Kunst. Denn die Attacke seitens Saskia zwischen zwei postoperativ zu versorgenden Patienten – folgte prompt diesen entscheidenden Gedankengängen. Und als sich Leonora mit energischem Ton diesen weiteren ungerechtfertigten Anwurf verbat, bezeichnete sie Saskia etwa zehn Minuten später in Gegenwart der anderen als impertinent und frech. Leonoras müder Verteidigungsversuch wurde im Keim erstickt, als Helena und Conny – selbstverständlich wider besseres Wissen – in Saskias Kanon einstimmten. Und schließlich war die ganze Situation so gedreht und gewendet, als ob die unmögliche Schwester Leonora nichts anderes zu tun hätte, als ihre geplagte Stationsschwester zu ärgern und den lieben Kollegen das Leben zur Hölle zu machen. Dieser Strategie war bereits einer der jungen Stationsärzte auf den Leim gekrochen. Ohne je ein Gespräch mit Leonora geführt zu haben oder irgendwelche handfesten Fakten, die arbeits- oder verhaltensmäßig gegen sie sprachen, auf dem Tisch liegen zu haben, begegnete er ihr mit an Unfreundlichkeit grenzender Distanz und unverblümtem Misstrauen. Immer in der Halbachtstellung auf mögliche Fehler. Nur gut, dass sich der Oberarzt weiterhin gleichgültig verhielt! Kurzfristig blieb Leonora eine Atempause, denn Saskia war in Sachen Visite unterwegs. Um halb zwölf stand der Essenswagen auf dem Flur. Helena war nicht von ihrem Schreibtisch zu trennen, und Wabbelbäckchen hielt sich an ihrem in Zeitlupentempo getrunkenen Becher mit schwarzen Kaffee fest. Ansonsten stellte sie sich taub und stumm. Saskia, die ihrerseits wirklich zu tun hatte, löste das Problem, indem sie unpassenderweise Leonora anblaffte. „Nun schlafe nicht ein! Fang schon einmal an auszuteilen! Die anderen kommen gleich nach!“ Natürlich wussten beide, dass letzteres Wunschdenken war. Also blieb Leonora nichts anderen übrig, als im Höchsttempo fünfunddreißig schwer bepackte Tabletts vom Essenswagen in den Speiseraum zu balancieren. Und weitere sieben auf dem Küchenwagen zu stapeln, um sie später auf den Zimmern zu verteilen. Als sie Schritte hinter sich hörte und sich umwandte, stand sie jemandem gegenüber, den sie fast noch weniger gerne sah als Saskia und die lieben Kollegen. Christian Seeberg begrüßte sie freundlich distanziert, aber bei dem vertrauten „Du“ ihrer Jugend bleibend. Einem kurzen Augenfunkeln in den Augen folgte Undurchdringlichkeit. Doch Leonora hatte ersteres mit überwachen Sinnen registriert. Erst als sie jemand fast berührte, nahm sie Unscheinbar wahr. Hastig erwiderte sie Seebergs Gruß und spürte, dass sie Herzklopfen bekam. „Ich habe zu tun“, murmelte sie entschuldigend und oh mit dem Tablett, das sie die ganze Zeit umklammert hielt, in Richtung Speiseraum, wo sie ein sehr ungeduldiger, ungnädiger, gerade verrenteter Patient erwartete. Einer, bei dem jeder dritte Satz: „Ich habe Anspruch auf. . .“ lautete. Als er sich zu beschweren drohte, griffen seine Tischgenossen besänftigend und vermittelnd ein. Er wisse doch, wie momentan die Zustände in den Krankenhäusern seien. Der Personalmangel zum Beispiel. Und wie sehr Schwester Leonora sich ansonsten um sie alle und alles bemühen würde! Doch der Neurentner ließ sich angesichts dieser Gelegenheit Dampf abzulassen ungern unterbrechen und holte tief Luft, um mit seinem Lamento fortzufahren, als eine leise aber scharfe Stimme erneut Einhalt gebot. „Um Himmels Willen! Haben Sie kein anderes Problem als ein Tablett, das etwas später als Sie den Tisch erreicht? Verschonen Sie uns mit Ihren unangebrachten Emotionen! Ich will nichts mehr hören!“ Totenstille breitete sich aus. Der unzufriedene Neurentner schnappte nach Luft und fand vor Überraschung keine Worte mehr. Die anderen schwiegen aus Betroffenheit, denn bei dem energischen Patienten im Frotteemantel handelte es sich um einen Mann Anfang dreißig, einen Sprachlehrer, der aufgrund eines zu spät diagnostizierten Glaukoms (Grüner Star) kurz vor dem Erblinden stand und dies die Woche zuvor erfahren hatte. Klaus Kröger griff zu dem Teelöffel und wandte sich dem mit Sahne verzierten Schokoladenpudding zu als ob nichts gewesen wäre. Still und scheinbar gleichgültig wir zuvor. Sein seelischer Zustand bewegte sich irgendwo zwischen steinharter Verzweiflung und gefährlicher Resignation. Leonora folgte diesem beeindruckenden Intermezzo nur mit halbem Ohr. Ihre eigentliche Aufmerksamkeit galt dem Gespräch, das vom Flur her bruchstückhaft herein wehte. Es fand ohne Zweifel zwischen Saskia und dem „wilden Chris“ statt. „Ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Eine Besprechung mit der Pfegedienstleitung erwartet mich.“ „Kein Problem, Frau Hartmann. Wir werden in jedem Fall noch anwesend sein, wenn Sie wieder auf Station kommen!“ Sogar aus dieser Entfernung war der in scheinbare Freundlichkeit verpackte drohende Unterton herauszuhören. Leonora hörte Saskia erschrocken hüsteln, dann war außer eiligen Schritten nichts mehr zu vernehmen. Schließlich beeilte sie sich, die Tabletts auf dem Küchenwagen unter die Patienten, die nicht die Zimmer verlassen konnten, zu bringen. Da hörte sie aus dem Umkleideraum Stimmen. Das war doch. . .Tatsächlich, das Wiesel war wieder da. Annika, der einzige wirkliche Lichtblick auf dieser Station, war aus dem dreiwöchigen Urlaub zurückgekehrt. Annika war Ende dreißig, klein, zierlich, überdurchschnittlich attraktiv mit langwimprigen bernsteinbraunen Augen und naturblondem Haar. Darüber hinaus verhielt sie sich unbeirrbar freundschaftlich