Inga Peng

Mord ohne Schatten


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Detailversessenheit hatte ihn selbstverständlich in die Schränke blicken lassen. Nicht aus Neugierde – oh, nein. Sondern um seine Faktensammlung zu vervollständigen. Seeberg zog es vor, angeblich nichts davon zu wissen und hoffte, dass Unscheinbar bei seinen natürlich illegalen Schnelldurchsuchungen nie erwischt werden würde. Seine Gedanken wandten sich wieder Hitzblecks Hinterbliebenen – vor allem Sabina – zu. Eine verheiratete junge Frau, die Mutter von Hitzblecks Sohn, zweifelsohne wohnhaft in seinem Haus. Und ansonsten nicht das kleinste äußere Anzeichen ihrer Anwesenheit, ja Identität. Keine warmen Farben, Bildchen, Figürchen, Pflanzen oder Blumen – all die verspielten Kleinigkeiten, mit denen Frauen üblicherweise ihren Wohn- und Lebensraum zu verschönern pflegten. Niemand konnte Seeberg weismachen, dass diese zierliche, fast kindhaft wirkende junge Frau den kühlen, in dunklen Farben gehaltenen sparsamen Wohnstil mit ihrem Mann teilte. Die einzig persönliche Note ergab sich aus Hitzblecks sichtlicher Vorliebe für Automobile. Einer Vorliebe, mit der Hitzbleck wohl auch alleine dagestanden haben dürfte. Denn Sabina hatte keinen Führerschein. Und dann die Mutter. Eine stählerne Überwachungsglucke? Oder die situationsbezogene Sorge um eine verstörte Tochter? Seeberg unterbrach den Lauf seiner Gedanken. Denn sie würden zu diesem Zeitpunkt zu keinem Ergebnis führen. Ein arbeitsintensiver weiterer Tagesablauf folgte. Es lagen schließlich noch andere aufzuklärende Fälle auf dem Schreibtisch. Am Abend war Seeberg dankbar für die Ruhe, die ihn in seiner kleinen Wohnung umfing. Kurz geisterte Gabi, seine Ex-Frau, durch seine Gedanken. Vor fast genau einem Jahr hatte sie ohne Vorwarnung ihr Scheidungsbegehren auf den Tisch gelegt. Ruhig und kühl – wie es ihre Art war. Nach wenigen Tagen überraschten zornigen Aufbegehrens hatte er einer Scheidung bedingungslos zugestimmt. Da hatte sie eine gewisse Enttäuschung nur schlecht verbergen können. Doch er wusste, wann eine Schlacht verloren war. Mit dem Tod des gemeinsamen fünfjährigen Sohnes, der zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als vier Jahre zurücklag, war ihrer Ehe der größte Teil des Bodens entzogen gewesen. Ihre mangelnde Liebe zueinander und sein strapaziöser, zeitintensiver, zuweilen gefährlicher Beruf erledigten den traurigen Rest. – Nachdem er diese kleine Wohnung gefunden hatte, schämte er sich fast, wie wenig er sie vermisste. Noch nicht einmal ihre Präsenz als Frau. Mit sorgfältig eingelegtem tadellos gekämmtem Haar, nach blumigen Seifen wohl duftend, im geblümten tadellos gebügelten Seidennachthemd war sie pflichtschuldigst ihren ehelichen Pflichten nachgekommen. Vor der Heirat war das natürlich anders gewesen. Gabi zeigte sich „sexy“ und aufgeschlossen. Doch mit der Geburt des Kindes im ersten Ehejahr schien für sie das besagte Thema abgehakt zu sein. Doch auf seine deutliche Intervention hin, nahm sie, nach fast einjähriger Pause, die ehelichen Pflichten wieder in ihr Alltagsprogramm auf. Schließlich musste sie den Vater ihres Kindes und ihrer beider Ernährer bei Laune halten. – So sah es jedenfalls Christian Seeberg im Nachhinein. Er blieb zurück mit unfruchtbaren Gedanken und diversen Selbstzweifeln. Hatte er sich denn nicht genug Mühe gegeben? Gerade auch in gewisser Hinsicht? Auf dem Weg in die kleine helle Küche verblasste Gabis Gesicht und ein anderes trat an seine Stelle. Das blauäugige Mädchen von einst und Krankenschwester von jetzt. Leonora Gutendorf – Roth. Sie hatte immer noch jenes prachtvolle natürlich gewellte rotbraune Haar ihrer Kindheit. – Ein ganzes Büschel davon hatte er in der Hand gehabt bei dem heftigen Zusammenstoß in Sachen „Bruderrettung“. Mit einem Griff in ihre Mähne hatte er versucht, sie von seinem Unterarm loszureißen. Die Wiederbegegnung mit ihr hatte so etwas wie einen Gefühlsrutsch in ihm ausgelöst. Er konnte nur noch nicht genau erkennen in welche Richtung. Und während er sich ein Kännchen mit seiner bevorzugten Assam-Schwarzteemischung aufbrühte, erinnerte er sich an etwas, an das er sich lieber nicht erinnert hätte. Leonora hatte mit Sven und Saskia Spätdienst gehabt. Und während sie mit der Nachtwache gegen einundzwanzig Uhr Übergabe machten, war aller Wahrscheinlichkeit nach zu diesem Zeitpunkt Hitzbleck um sein Leben gebracht worden. Damit zählte Leonora vorerst zu dem unmittelbaren Kreis der Verdächtigen. Falls sie — Christian rührte so heftig den Tee um, dass er über schwappte – und wagte kaum weiterzudenken. Falls sie... dann würde er sie verhaften müssen! „Nimm dich zusammen“, sagte er sich. Schließlich gab es da auch noch Saskia Hartmann, Jungpfleger Sven und die Nachtwache Erika und X andere Möglichkeiten. Etwas erleichtert nahm er seinen Tee und das Schinkenbrot und marschierte in sein Wohnschlafzimmer. Dort schaltete er den Fernseher ein und den Verstand aus. Daraufhin verbrachte er einen ruhigen, fast gemütlichen Abend. Leonora erwachte aus beunruhigenden Träumen. Unwillig erkannte sie auf dem großen roten Wecker mit den grünlichen Leuchtziffern, dass es erst gegen ein Uhr in der Früh war. Du lieber Himmel, fing das jetzt auch noch an? Bis dato war sie mit einem tiefen festen Schlaf gesegnet gewesen. Schlaflosigkeit kannte sie praktisch nur auf dem Papier oder aus den Klagen gewisser Patienten. Sie schloss die Augen und wartete. Doch umsonst. Seufzend knipste sie die kleine verspielte Porzellannachttischlampe an. Leicht schwindelig bewegte sie sich in Richtung Küche. Sie blickte zum Küchenfenster hinaus. Sie hatte vergessen, den Rollladen herunterzulassen. Es war Vollmond. Der Himmelskörper beleuchtete den Raum genügend. So verzichtete Leonora darauf das Licht anzuschalten. In der Umhüllung dieses beruhigenden Dämmerlichts griff sie nach dem Becher mit dem Katzenmotiv und einem Darjeelingteebeutel. Während sie auf das Kochen des Wassers wartend auf dem hellen Küchenstuhl saß, ordneten sich ihre Gedanken. Ärger auf sich selbst stieg in ihr hoch. Warum hatte sie so lange gezögert – entgegen ihrer Gefühle und Vorahnungen – auch Intuition genannt – und nicht einfach gekündigt? Jetzt war es zu spät. Es war unmöglich, von dem Zug, der sich in Richtung eines ungewissen Zieles in Bewegung gesetzt hatte, abzuspringen. Eine Kündigung würde angesichts des ungeklärten Todesfalles unliebsame Verdachtsmomente auf die eigene Person ziehen. Nun musste sie da durch. Egal was es brachte. Während sie das Wasser in den Katzenbecher goss, verwarf sie auch den Gedanken an eine Krankmeldung. Dies war im Moment, wo noch nichts geklärt war, unmöglich. Hoffentlich entpuppte sich der „wilde Chris“ als eine Art Sherlock Holmes! An dem „wilden Chris“ blieben ihre Überlegungen hängen. Er war immer noch blond und blauäugig, etwa mittelgroß, aber weniger stämmig als zu seiner Schulzeit. Es war aber vor allem sein Gesicht, welches sich verändert hatte. Der Ausdruck darin. In seinem Blick lag eine merkwürdige Mischung aus beobachtendem Misstrauen und einem tiefen Verständnis für alles Menschliche schlechthin. Gewürzt mit einer Prise Ironie. Eine plötzliche Neugier erwachte in ihr. Wie sein Leben wohl verlaufen war um ihn zu dem zu machen, was er jetzt zu sein schien? Da war noch etwas gewesen. Leonora tigerte stirnrunzelnd in der Küche auf und ab in dem Versuch sich zu erinnern. Da tauchte es wieder auf. Er hatte sie angesehen, wie ein Mann eine Frau ansieht. Erst voller geheimen Interesses, dann voller Wohlgefallen und Bewunderung. „Ach was“, sagte sie sich, „das bildest du dir bloß ein! Vielleicht habe ich ihn angesehen wie eine Frau einen Mann ansieht! Wäre ja auch möglich nach Jahren absoluter Abstinenz!“ Mit ihren dreiunddreißig Jahren war sie schließlich noch lange nicht jenseits von Gut und Böse. Sie marschierte mit dem Becher in der Hand Richtung Bett, nahm ein paar Schlucke Tee und schlief ein. Eine knappe Stunde später wurde auch diese gnädige Pause durch das hässlich-schrille, fast rabiate Geklingel des Weckers unsanft beendet. Die A1 wartete auf ihre Teilzeitkraft. Leonora machte sich mit innerlich zusammengebissenen Zähnen fertig für den Tag. Sie sah sich in ihrer Dreizimmer-Eigentumswohnung um, die ihr ihre Eltern nach dem Tod ihres Mannes überschrieben hatten. Außerdem war es eine gute Einrichtung, dass ihr Kleiner an den beiden Tagen in der Woche, an denen sie arbeitete, bei den Eltern nächtigte. Robin, Oma und Opa schienen das außerordentlich zu genießen. Und sie wusste ihn ebenso gut aufgehoben wie bei sich selbst. Ihr zitronengelber Kleinwagen brachte sie sicher gegen sechs Uhr zur Klinik. Sie stellte ihn im Schatten ausladender gewaltiger Bäume, die verhindern würden, dass ihr kleiner “ Kanarienvogel “, wie sie ihren fahrbaren Untersatz liebevoll nannte, sich durch die Mittagssonne aufheizen würde, ab. Kurz darauf bog sie in das bedrohlich im Halbdunkel liegende Gängelabyrinth der A1 ab. Kleiderwechsel im Mief. Schließlich das Traumteam, bestehend aus Saskia, Conny Wabbelbacke und Helena, das ihrer harrte. Heute blieb ihr noch nicht einmal der freundlich gesonnene Sven, der sie regelmäßig über die neuesten Öko-News informierte. Helena musterte sie flüchtig mit ihren veilchenblauen Augen, verkniffen sich jeden Morgengruß und blätterte missmutig in einem Werbeprospekt. Sie war gelernte Arzthelferin, kassierte auch den Pflegezuschlag einer Pflegeperson, dachte aber gar nicht daran, die sorgfältig rot lackierten langen Nägel ihrer auffallend wohl geformten lang fingrigen Hände an pflegebedürftigen Patienten zu wetzen. Der Schreibtisch und sie bildeten ein unzertrennliches Paar zum Ärger vieler Kollegen. Doch niemand