Hermann Christen

Der Eindringling


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Du warst so nahe dran?", staunte Merlin.

      Rudolf schwieg. Merlin beugte sich über Herrn Specht.

      "Den hat's übel erwischt", meinte er, "wird wohl kaum in der Lage sein, etwas zu erzählen."

      "Was soll er denn erzählen?"

      "Wonach das riesige, komische Ding gerochen hat. Beispielsweise. Oder wer ihn so vollgesabbert hat."

      "Trag du mal etwas im Maul, während du durch den Wald rennst", verteidigte sich Rudolf beleidigt.

      Merlin lächelte wissend. Er richtete sich auf und lauschte gespannt.

      "Ich höre nichts, was da nicht sein sollte", murmelte er.

      "Es ist da. Vielleicht macht es nur Pause", protestierte Rudolf.

      "Wir sollten Madame Bea rufen", entschied Merlin, "Herr Specht gefällt mir nicht."

      Madame Bea war die waldeigene Pflegeinstanz und kannte die Geheimnisse des Heilens. Sie kannte die Kräuter, die Linderung brachten. Sie kannte die Kuren, die Leiden heilten. Sie kannte die Griffe, Verletzungen zu richten. Es hieß, man sollte es mit ihr nicht versauen, denn auch in Sachen Gifte wurde ihr ein fundiertes Fachwissen nachsagt.

      Ein Knacken unterbrach Merlins Gedanken.

      "Da!", rief Rudolf aufgeregt.

      "Ich habe es auch gehört", bestätigte Merlin.

      Er war genauso erschrocken wie Rudolf und sein Herz pochte schnell und laut.

      'Nicht gut in meinem Alter', dachte er.

      Rudolf hatte also nicht einfach schlecht geträumt, wie Merlin vermutet hatte, sondern war tatsächlich einer seltsamen Sache auf der Spur.

      "Ich flieg mal hin und schaue nach."

      "Ist gefährlich", warnte Rudolf.

      "Kann das Ding auch fliegen?", gab Merlin schnippisch zurück und flog davon. Rudolf bewunderte den Mut der Eule und hoffte, dass ihm als Erstentdecker die Ehre des Eichelordens bleiben würde.

      "Wo, wo, wo…."

      Rudolf fuhr zusammen. Herr Specht war aus seiner Ohnmacht aufgewacht und blickte verwirrt.

      "Hab sie gerettet."

      "Isses weg?"

      Herrn Spechts Augen bewegten sich ängstlich und hastig.

      "Sie haben es auch gesehen? Haben sie erkannt, was es war?"

      Herr Specht schüttelte den Kopf.

      "Vermutlich ein Bagger mit Fell."

      Herr Specht war offensichtlich hochgradig verwirrt.

      "Warum packt man einen Bagger in ein Fell – die haben doch Heizung", brabbelte er weiter.

      "Hat es übel gerochen", bohrte Rudolf nach.

      Herr Specht überlegte.

      "Nein, glaube nicht."

      "Hat es irgendetwas gesagt?"

      "Nur, nur...", Herr Specht suchte nach Worten.

      "Gesagt nicht. Nur gegrunzt – oder so ähnlich – wie ein zu groß geratenes Wildschwein."

      Rudolf nickte zustimmend. Genauso hatte er dieses unheimliche Geräusch auch in Erinnerung.

      Herr Specht betrachtete sein Gefieder.

      "Vollgesabbert hat es mich auch", maulte er und rieb angewidert sein Gefieder ab.

      Rudolf war die Situation peinlich. Wo Merlin nur blieb?

      Endlich kehrte Merlin zurück. Die beiden sahen ihn gespannt an.

      "Ein Bär", platzte es aus ihm heraus, "in unserem Wald tobt ein Bär!"

      "Blödsinn", erwiderte Rudolf ungläubig, "die gibt’s nur im Museum und auf Tauschbildern."

      Langsam schüttelte Merlin seinen Kopf.

      "Da ist jeder Zweifel ausgeschlossen – ein Bär. Und er ist dabei, Bäume platt zu machen. Wo der wohl herkommt?"

      "Bär? Kein Schwein? Ein Übergroßes? Ein Sabberndes?"

      Herr Specht glaubte an einen schlechten Scherz, den Merlin sich da erlaubte.

      "Wenn ich es sage", betonte Merlin ungeduldig, "und wenn wir nichts dagegen unternehmen, reißt der uns noch den ganzen Wald nieder."

      "Früher oder später machen die Dorfleute den Wald ohnehin kaputt", jammerte Herr Specht, "ich hatte nur gehofft, dass das erst nach meinem Ableben sei…"

      "Was kann man gegen Bären machen", fragte Rudolf ängstlich.

      "Verscheuchen!"

      Merlins grimmiger Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel offen, dass er das ernst meinte.

      "Hast du was genommen? Wie willst du das Untier verscheuchen", lachte Rudolf verzweifelt auf, "der ist so stark wie alle Waldtiere zusammen. Mindestens!"

      "Stark ist er, zweifelsohne", sinnierte Merlin, " vor allem stark verwirrt. Durchlebt vielleicht eine kindliche Zerstörungsphase, wer weiß…

      "Ja, ja, die präpubertäre Destruktionsphase", warf Rudolf ein, um Herrn Specht mit seiner Klugheit zu beeindrucken.

      Merlin fuhr unbeirrt fort:

      "…Ich meine aber, dass er nicht auf Killen aus ist."

      "Wie kommen sie darauf?", unterbrach Herr Specht, der tatsächlich von Rudolfs klugen Worten beeindruckt war.

      "Ich bin zweimal direkt vor seiner Nase vorbei geflogen..."

      Herr Specht und Rudolf stockte der Atem: welch ein Heldenmut!

      "… und er ist jedes Mal zurückgezuckt. Ich glaube darum nicht, dass er jemanden verletzen möchte."

      "Und was ist mit mir!", empörte sich Herr Specht.

      "Das war ein Unfall. Eine Art Kollateralschaden. Hätte er gewusst, dass sie da oben stecken, hätte er sich einen anderen Baum gesucht."

      "Sicher? Bist du sicher?"

      "Ziemlich sicher", betonte Merlin, "ruft die Waldtiere zusammen. Sofort. Wenn wir ihm entschlossen entgegentreten, dann – so vermute ich – wird er einlenken."

      "Und wenn er es nicht tut", fragte Rudolf, "was dann?"

      "Die meisten von uns sind schneller oder können sich in Erdlöchern verkriechen, falls er bösartig ist. Sicher wissen wir das nur, wenn wir ihn stellen", schloss Merlin das Gespräch.

      Sein Tonfall unterband jeden Widerspruch. Nach einem kurzen Gedankenaustausch eilten Merlin, Rudolf und Herr Specht in verschiedene Richtungen davon und riefen die Tiere des Waldes zusammen. Merlin hatte die Lichtung beim Froschteich als Treffpunkt bestimmt. Der Froschteich war sicher, weil er auf der gegenüber liegenden Seite des Waldes lag. Weit weg vom Bären. Merlin drängte Madame Bea, ihren Notfallkoffer mit zu nehmen – für alle Fälle.

      Nach und nach trafen die Tiere ein. Die Nachricht, dass ein Bär im Wald war, hatte bereits die Runde gemacht und es herrschte lautes Durcheinander. Niemand hatte je einen Bären gesehen, aber jeder gab vor, Bärenexperte zu sein. Ahnungslosigkeit ist der ideale Nährboden für Gerüchte und Übertreibungen. Bald galt der Bär als baumhoch, feuerspeiend und konnte fliegen. Es solle sich mit Vorliebe von Tierkindern ernähren und das eine Dorf in der Nähe des Waldes bereits dem Erdboden gleich gemacht haben.

      Merlin hatte eine Idee und wies Madame Bea an, Herrn Specht dick ein zu bandagieren. Sollte er mit seiner Vermutung Recht haben, dann würde es dem Rabauken leidtun, Herrn Specht verletzt zu haben.

      Merlin wartete geduldig. Rudolf, der als Entdecker der Bestie galt, sah sich von seinen Schülern umringt und mit Fragen bedrängt.

      "Ja, er wirft Bäume um…"

      "Nein, er kann nicht fliegen…"

      "Nein,