Hermann Christen

Der Eindringling


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sah die Bäume, die er platt gemacht hatte. Sah, wie ihr Laub einen grünen Teppich auf dem Waldboden bildete, der sich unter den Hufen und Pfoten der Waldtiere in eine unappetitliche, grünlich-braune Masse verwandelte - den herausgewürgten Graskugeln der Katzen, wenn sie den Magen von den Haaren befreiten, nicht unähnlich. Kein Wunder waren sie sauer auf ihn.

      'Warum gehen?', dachte er erschöpft, 'warum weiterziehen? Nur um sich ein paar Kilometer weiter oder ein paar Tage später andernorts in der gleichen Lage wieder zu finden?'

      Er schloss die Augen. Eine trübe Traurigkeit übermannte ihn und er wollte nur noch schlafen. Schlafen und vergessen. Schlafen, aufwachen und erkennen, dass alles wieder gut war. Schlafen und hoffen, dass es seiner Wut zu langweilig wurde und sie sich ein anderes Opfer suchte.

      Er zog die Beine an den Körper.

      Er war doch nur auf der Suche nach Freunden und einem Platz, wo er bleiben konnte. Auf seiner langen Reise hatte er diesen Ort, dieses Zuhause, noch nicht finden können.

      Gab es ein solches Zuhause für ihn? Wo war es? Wie sieht es aus? Ein Wald wie dieser? Ein Paradies, wo Honig statt Wasser in den Bächen floss? Der Bär träumte oft mit offenen Augen in den Himmel blickend von diesem Zuhause. Es würde sich gut anfühlen, glücklich zu sein. Es würde sich gut anfühlen, zu erwachen und die orange glühende Morgensonne mit einem Lächeln zu begrüßen. Es würde sich gut anfühlen, gleich um die Ecke Freunde zu haben und mit ihnen zu schwatzen. Freunde, auf die man sich verlassen konnte. Freunde, mit denen man über das schlechte Wetter und Magenschmerzen reden konnte. Das war sein Traum.

      Immer noch über seinen Arm blickend sah er die Eule und die anderen Tiere. Gespannt, ängstlich und neugierig zugleich, beobachteten alle schweigend die Eule und den Bären.

      'Das könnten doch meine Freunde sein', schoss ein trotziger Gedanke durch den Kopf, 'die haben jetzt nur Angst, weil ich ein bisschen aufgeräumt habe. Aber ich kann ihnen zeigen, dass ich kein schlechter Kerl bin.' War das möglich? Würden sie ihm glauben, wenn er versprach, den Wald nicht mehr zu ramponieren. Würden sie ihm glauben, dass er im Grunde genommen ein lieber Kerl war – ein Kuschelteddy im Großformat? Einer, der nur Freunde und ein Zuhause suchte?

      'Vergiss es', drängte sich die Stimme der Wut in die Gedanken, 'niemand ist so blöd, dich freiwillig in der Nähe zu haben – du bist gefährlich.'

      'Bin ich nicht!', dachte er.

      'Du bist schuld!', klagte eine andere Stimme im Kopf die Wut an. Es war die Stimme, die ihn oft tröstete und gut zusprach und von der er glaubte, es sei die Stimme seiner Mutter.

      Wut gegen Fürsorge! Es war, als ob er Beobachter eines stummen Ringens war. Seltsam leer, gefühllos und passiv verfolgte er den Streit in seinem Kopf.

      'Schau dir doch an, was der bis heute geleistet hat', höhnte die Wut mit falschem Lachen, 'eine einzige Folge von Katastrophen, Unfällen und Fehltritten. Überall schmeißen sie ihn raus oder quälen ihn, bis er selber abhaut.'

      'Daran bist du schuld', empörte sich die Fürsorge, 'du hetzt ihn in solche Situationen.'

      'Na und', meinte die Wut achselzuckend, 'ich sage ihm nur, wann es Zeit ist, eine bessere Umgebung zu suchen. Du weißt doch: wer rastet der rostet.'

      Die Wut lachte gackernd.

      'Wegen dir ist er dauernd auf der Flucht. Du hetzt ihn pausenlos auf und redest ihm Unsinn ein.'

      'Unsinn?', höhnte die Wut, 'früher oder später wird er ausgenutzt – ich zeige ihm seine Stärke, ich lasse ihn fühlen, dass er sein eigener Herr ist. Mache ihm klar, dass er der Boss ist.'

      'Der Boss bist du', protestierte die Fürsorge vorwurfsvoll, 'und du willst nicht, dass es ihm gut geht. Du hast nur Angst, dass es dich dann nicht mehr braucht.'

      'Quatsch – ich bin das, was ihn ausmacht. Ich sage ihm, wenn es gilt, Problemen aus dem Weg zu gehen und noch eine Marke zu setzen.'

      'Falsch! Du bist sein Problem und schuld daran, dass er keine Freunde hat.'

      'Papperlapapp – ich sorge dafür, dass er nicht ausgenutzt wird. Wie damals im Zirkus.'

      'Das ist lange vorbei – aber du, du treibst ihn immer weiter. Du lässt ihm keine Verschnaufpause. Du erlaubst es nicht, dass er zur Ruhe kommt.'

      'Na und? Sieh ihn dir doch an: stark und mächtig ist er – furchtlos und mutig.'

      'Furchtlos und mutig', zickte die Fürsorge, 'kauert sich ein großer Held zu einem zitternden Fellbündel zusammen, wenn er doch so furchtlos und so mutig ist? Nein: er hat genug, er will Ruhe und Friede und eine Chance, neu anfangen zu können.'

      'Das schafft er nicht'

      'Du wirst sehen! Ich glaube an ihn!'

      Die Stimmen verstummten. Er bedauerte, dass nicht wenigstens die fürsorgliche Stimme blieb. Sie beruhigte und half ihm, klarer zu denken. Er atmete tief durch – er hatte sich entschieden. Er wollte nicht weiter. Das Paradies konnte irgendwo und nirgendwo sein. Dann, wie ein leises Echo aus der Vergangenheit, flüsterte die fürsorgliche Stimme: 'zuhause ist da, wo du dich zuhause fühlst'

      Er hob den Kopf und blickte die Eule direkt an. Langsam schüttelte er den Kopf.

      Merlin hatte den pelzigen Riesen vor sich beobachtet. Eine seltsame Stille lag über dem Wald. Er war überzeugt, dass vom Bären keine Gefahr ausging – im Moment. Merlin las in der Körperhaltung des Bären, was in ihm vorging. Die Ängstlichkeit war aus ihm gewichen – kein Blinzeln und Zweifel im Blick – und etwas seltsam Warmes floss aus dem Gesicht.

      'Er muss trotzdem weg', durchschoss es Merlin, 'früher oder später wird er wieder ausrasten.'

      "Du wartest hier", befahl er dem Bären.

      Merlin wagte es, ihm den Rücken zu zukehren und ging zu seinen Freunden zurück.

      "Wir haben ein Problem", eröffnete er seine Rede, "ich glaube, freiwillig geht der nicht weg."

      "Wir wollen ihn aber nicht", ereiferte sich Hannibal, "niemand will ihn!"

      "Ich weiß", sagte Merlin, "und darum brauchen wir Hilfe!"

      "Woher willst du Hilfe holen?", wunderte sich Eichhörnchen.

      "Die Menschen!"

      Ein Gemurmel rauschte durch die Reihen der Waldleute. Klar – die Menschen: wenn es jemand schaffte, das Untier zu entfernen, dann die Menschen. Die hatten schon ganz andere Dinge zum Verschwinden gebracht. Den alten Froschteich zum Beispiel: in wenigen Tagen wurde dieser von Baggern und Traxen aus der Landschaft radiert – um ihn dann, ein Jahr später, fast an der gleichen Stelle wieder an zu legen. Die Tiere im Wald hatten bis heute nicht begriffen, was das sollte. Oder die mächtige Wettertanne: die Waldleute glaubten, dass dieser Baum schon immer da gewesen war und über den Wald wachte. Sie glaubten, er würde ewig da stehen. Ja, Stürme, Dürre und Blitze hatten Wunden geschlagen. Doch mit narbenbedecktem Stolz trotzte die Wettertanne den Naturgewalten. Dann kamen die Menschen und machten dieses Symbol der Kraft in einem einzigen Tag platt.

      Mochten die Menschen noch so unklug sein: sie hatten Maschinen und Geräte, mit denen sich vieles machen ließ. Auch wenn dies meistens Unsinn war.

      "Wozu die Menschen holen", protestierte Hannibal, "ich könnte ihm mein Geweih in den Wanst rammen – dann verschwindet er!"

      Merlin unterbrach das anerkennende Tuscheln der Zuhörer mit einem lauten Lacher.

      "Glaubst du wirklich, dass das was nutzen würde? So ein Bär benutzt dein Geweih als Einweg-Zahnstocher. Vergiss es!"

      Hannibal war beleidigt.

      "Wir brauchen die Menschen!", betonte Merlin.

      Die Waldleute nickten. Hatte Merlin nicht schon Recht gehabt, dass sie gemeinsam den Bären in die Schranken weisen konnten? Also war sein Vorschlag, die Menschen zu rufen, auch richtig.

      'Es muss schnell gehen', dachte Merlin.

      "Wo ist Paul?", rief