dahin zurückschicken sollten, woher er gekommen ist – wenn wir nicht klare Spielregeln setzen, schlagen wir uns schon bald mit hunderten von Bären herum", unterstützte sie ihr Ehemann.
"Die Behörden finden bestimmt einen guten Weg", beruhigte Amman.
"Ist dir auch schon aufgefallen", bemerkte Merlin, "dass die Menschen jedes Mal von den 'Behörden' sprechen, wenn sie nicht mehr weiterwissen? In den Behörden müssen unglaublich gescheite Menschen arbeiten."
Beide kicherten.
Am anderen Ende des Platzes wurden Stimmen laut. Eichhörnchen kletterte höher und sah, dass Gemeindepräsident Koller in Begleitung von Haldimann und dem Förster eingetroffen war. Leute redeten heftig auf sie ein. Dem leeren Lächeln von Koller war an zu sehen, dass er weder verstand, was die Menge um ihn schrie, sich noch darum scherte, was sie wollten. Haldimann und der Förster gestikulierten beschwichtigend und versuchten, mit Koller, der wie ein Eisbrecher über den Platz pflügte, Schritt zu halten. Der Lärm auf dem Platz wurde aufgeregter und alle wandten sich der Gruppe zu. Gleich würden sie erfahren, was Sache war! Gleich würden Mutmaßungen und Unsicherheit durch Informationen und klare Entscheide ersetzt werden. Die drei hatten sich sicherlich im 'zerzausten Löwen', der Schenke gleich gegenüber dem Gemeindehaus, beraten und kamen jetzt, um ihre Beschlüsse zu verkünden. Der Lärm unter der Linde war ohrenbetäubend. Jeder beharrte offenbar darauf, persönlich durch den Gemeindepräsidenten informiert zu werden. Das war ihr gutes Recht, denn schließlich hatten sie ihn auch gewählt.
Merlin landete neben Eichhörnchen.
"Keine Disziplin, die Menschen", beschwerte er sich, "jeder schreit, jeder jammert. In dem Geschrei hört man nichts, selbst wenn der Koller noch etwas sagen würde."
"Du meinst, er sagt nichts?", wunderte sich Eichhörnchen.
"Würde mich erstaunen."
Die beiden beobachteten, wie die Gruppe das Ende des Platzes erreichte, den kleinen Garten vor dem Gemeindehaus durchschritten und wortlos im Gemeindehaus verschwanden.
"Na!", schnippte Merlin, "kein Wort – wie ich vermutet habe. Koller sagt immer erst etwas, wenn er sicher ist, dass er die Mehrheitsmeinung getroffen hat. Er argumentiert gerne mit der Mehrheit und mag keinen Widerspruch. Wenn nötig manipuliert er auch ein bisschen an dem rum, was seinem Gutdünken nach Mehrheitsmeinung sein sollte. Oft führt er Selbstgespräche. Ich weiß es, weil er nachts manchmal in der Amtsstube herum tigert und das Fenster offenstehen lässt."
Er unterbrach seinen Redefluss.
"Wenn im Wald wer so denken würde wie Koller, wir würden ihn sofort bei Gnogörok einweisen…"
Die Aufregung auf dem Platz steigerte sich zum Tumult und Eichhörnchen sah, dass zornig einige Fäuste in der Luft fuchtelten.
"Wo steckt eigentlich der Bär?"
"Ich glaube, die haben ihn in der Krypta der kleinen Kapelle eingesperrt", sagte Merlin.
"Warum auch nicht – die ist sicher!"
Vor dem Dorf stand seit jeher eine alte Kapelle. Darunter lag eine Krypta, ein Keller mit dicken Mauern. Es rankten sich viele Gerüchte und Schauergeschichten um sie. Vor hundert Jahren, während der Gerichtsverhandlung des Messer-Mörders Alex, wurden dicke Eisengitter eingebaut, um Alex sicher zu verwahren. Man munkelte, Alex' gottverlassener Geist wimmere noch da unten.
Früher endete die Osterprozession des Dorfes bei der Kapelle. Doch seit der Ministrant, der das große Kreuz tragen durfte, gleich neben der Kapelle in Ohnmacht fiel, war jeder überzeugt, dass Alex diesen Ort entweiht hatte. Die Tatsache, dass der Ministrant die Nacht vor der Prozession mit seinen Kumpeln alkoholtriefend Geburtstag gefeiert hatte, wurde ignoriert. Die Dorfbewohner nutzten die Kapelle seither nicht mehr. Eine Zeitlang führten die jungen Burschen im Dorf im Verlies die Mutprobe durch. Um dazu gehören zu dürfen, musste jeder im Alter von sechzehn eine Nacht alleine in der Krypta verbringen. Doch auch diese Tradition erlosch. Nicht, weil es den Knaben zu unheimlich und zu düster, sondern weil der Handy-Empfang viel zu schlecht war. Und das war wirklich unheimlich.
Zuerst meinte er, er träume. Die Umgebung war schummerig und klamm – und seltsam still. Wo war er? Wo waren der Wald, die Tiere, die Menschen? Diesen Ort kannte er nicht. Rundum ahnte er mehr als er sehen konnte starke Mauern. Mühsam rappelte er sich hoch. Er wankte zu einer dieser Wände.
'Menschenwände', brummte er und stemmte sich dagegen. Sie war stabil und es schien sinnlos, seine Kraft und sein Glück an den anderen Wänden zu versuchen. Außerdem schwirrte der Kopf und die Muskeln fühlten sich an wie Pudding. Der Wurfpfeil fiel ihm ein. Er prüfte seine Brust, doch das lästige Spielzeug war weg. Seine Augen gewöhnten sich an die knappen Lichtverhältnisse. In der gegenüber liegenden Wand erkannte er ein dunkles Loch. Mit schwankenden Schritten tapste er hinüber. Das Loch war ein Durchbruch in der Wand. Dahinter strebte eine steile, gewundene Steintreppe nach oben. Nach sechs, sieben Stufen verschwand sie hinter dem Bogen. Die Treppe war noch dunkler als der Raum, in welchem er steckte. Der Durchgang war mit einem dicken Eisengitter verschlossen. Ohne große Hoffnung rüttelte er daran. Das Gitter widerstand seiner Kraft problemlos. Nur eine funkelnde Stahlkette, die mit einem neuen, schweren Schloss abgesperrt war, rasselte leise. Einige Augenblicke schaute der Bär müde und traurig auf die Stufen, die in die Freiheit führten.
Er wandte sich um und inspizierte den Raum. Vier massive Wände, zwei massiv, eine mit dem Durchgang zur Treppe eine andere mit einem kleinen Durchlass nach draußen. Der Durchlass lag hoch oben und war eng. Selbst wenn er sich mit Schmieröl eingerieben hätte, die schmale Spalte war für seinen big-size Körper unpassierbar. Sehnsüchtig blickte er hoch und war froh, dass durch diesen Schacht wenigstens ein bisschen Licht herein drang. Wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er ein kleines Stück Himmel sehen. Sogar die düsteren Wolken draußen waren besser als die stummen, grauen Wände dieses Gefängnisses.
'Gefangen – die haben mich eingelocht!'
Es gab nichts Schrecklicheres, als gefangen zu sein. Das war schlimmer als hungrig, durstig oder müde zu sein. Schlimmer als alleine, traurig oder krank zu sein.
Gefangen!
Aus seiner Kehle drang ein verzweifeltes Wimmern, welches man einem kleinen, verschüchterten Kind, aber nicht einem Bären zugetraut hätte.
Gefangen!
'Die hätten mich besser erschossen', dachte er verzweifelt.
Der Abend brach herein. Im Gemeindehaus ging im Büro des Gemeindepräsidenten das Licht an. Die Versammlung auf dem Platz murrte und schimpfte jetzt nicht nur über den Bären, sondern auch über den Gemeindepräsidenten. Beide, Bär und Gemeindepräsident, benahmen sich wie Elefanten im Porzellanladen und der einzige Unterschied zwischen den beiden war, dass Koller einen Computer bedienen konnte – oder dies zumindest vorgab.
Zuerst verließen nur einzelne, dann kleine Gruppen und dann ganze Scharen den Platz. Sie kannten ihren Gemeindepräsidenten. Vor morgen würde er keinen Entscheid mitteilen. Einzig der Wirt des 'zerzausten Löwen' hatte seine helle Freude, denn sein Lokal war seit Stunden gerammelt voll. Der Wirt wünschte sich, dass der Bär noch lange Gesprächsthema bliebe und hoffte, dass Koller den Entscheid bedächtig reifen ließe.
Mittlerweile waren der Tierarzt und eine ältere, ruhig wirkende Frau aus der Stadt angekommen und zusammen mit Amman in der Amtsstube von Koller verschwunden. Das würde eine lange Nacht werden, freute sich der Wirt. Er kannte die Politik: je mehr Leute zusammen ein Problem besprachen, desto länger dauerte die Besprechung und umso geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass eine Lösung gefunden wurde. Von ihm aus hätten noch mehr Gesprächspartner in der Amtsstube des Gemeindepräsidenten sein können.
"Ich glaube, hier passiert nichts mehr", vermutete Eichhörnchen.
Merlin, der sich aufgeplustert hatte und vor sich hindöste, schrak hoch und nickte.
"Ich geh jetzt", sagte Eichhörnchen.
Es beneidete Merlin um dessen wärmendes Gefieder. Es selber war klatschnass und sein buschiger Schwanz, auf den es so stolz war, sah