Hermann Christen

Der Eindringling


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einem lautlosen Bogen kehrte Merlin zu den anderen zurück.

      "Er hockt nicht weit von hier. Er ist müde – kein Wunder nach der Raserei. Wir bilden jetzt eine Reihe und gehen dann nebeneinander auf ihn zu. Vergesst nicht: rechter Flügel schreien, linker Flügel Schnauze halten."

      Schnell formierten sich die Tiere. Merlin sah, dass bei vielen Angst Trotz gewichen war. Man war entschlossen, gemeinsam den Wald zu schützen.

      'Ist es nicht Trotz, der den Schwachen befähigt, undenkbare Dinge zu vollbringen?', philosophierte Merlin

      "Gut so", murmelte er.

      Stolz blickte er im Geweih Hannibals thronend auf die Entschlossenheit seiner Freunde. Hannibal sah das etwas anders: er hätte den vorlauten Merlin am liebsten abgeschüttelt – was plusterte der Kerl sich auf! Sogar bei den Menschen hieß es, der Hirsch sei der König des Waldes – nicht eine schläfrige Eule. Kein Jäger war stolz, eine Eule zu erlegen – aber den König des Waldes zu erwischen – das galt etwas. Das hatte leider auch seine Nachteile, wie Hannibal wusste. Sein Vater, ein kapitaler Vierzehnender hing jetzt in der Gaststube im Menschendorf. Teilweise wenigstens – und wurde zu Hannibals Ärger oft als Kleiderständer missbraucht – das hatte er einmal von Rudolf erfahren. 'Menschen haben keinen Anstand', dachte er verbittert.

      Merlin hoffte, dass es funktionieren würde. Einigkeit kann bare Kraft und Stärke überwinden. Einigkeit ist aber auch ein zerbrechliches, feines Geflecht. Ihm war klar, dass die Waldleute in drei Tagen wieder miteinander streiten würden, aber im Augenblick traten sie als Einheit auf.

      'Ich hoffe, es hält wenigstens so lange', überlegte Merlin, 'bis der Bär vertrieben ist.'

      Die ersten Tiere erreichten die Kuppe und erschraken über den Zustand des Waldes. Der Bär hatte gewütet wie biertrunkene Holzarbeiter. Er saß mit dem Rücken zu ihnen. Schritt um Schritt näherten sie sich dem Untier. Erste, meist kleine Waldbewohner verließ der Mut und Rudolf musste hier eine Maus, da ein Eichhörnchen oder einen Hasen am Schwanz festhalten.

      "Es funktioniert nur wenn alle bleiben", raunte er jedes Mal und ließ erst los, wenn die eingeschüchterten Tiere zaghaft nickten. Reichte gut zureden nicht, setzte er Merlins Vorschlag um und drohte mit gebleckten Zähnen und einem beiläufigen Hinweis auf seinen Hunger.

      "Nah genug", zischelte Merlin Hannibal ins Ohr, "bleib stehen."

      Der Bär war nur noch wenige Schritte entfernt. Was hatte sich die Natur nur dabei gedacht, ein solches Riesenvieh zu schaffen? Alleine was der zu essen vermochte, überstieg die Vorstellung der Waldbewohner. Merlin stieß den rechten Flügel in die Luft. Die Tiere schrien sich die Lungen aus dem Leib.

      Der Bär zuckte zusammen, als ob er auf einen elektrischen Zaun gepinkelt hätte. Er sprang auf, stolperte über einen der Bäume, schlug der Länge nach hin, schlitterte einige Meter bäuchlings auf dem schlammigen Untergrund und krachte mit der Nase voran in einen quer liegenden Baumstamm.

      Lacher mischten sich in das Gebrüll.

      Was hatten sie sich vor diesem braunen Gesellen gefürchtet. Ungeschickt wie eine Vogelscheuche und etwa genauso gelenkig dachten sie und verstärkten das Geschrei.

      Der Bär rappelte sich auf, stürzte weiter und drückte sich ängstlich an den Wurzelstock eines umgelegten Baumes. Mit großen, fragenden Augen beobachtete er zitternd den Aufstand. Er blinzelte unsicher. Er sah die vielen Tiere. Allen voran ein prächtiger Hirsch, in dessen Geweih eine alte Eule hockte.

      Er hatte Erfahrungen mit Eulen. Auf seiner Wanderung war er vielen begegnet. Er mochte diese Wichtigtuer nicht, die sich als weiß-Gott-wie-gescheit verkauften.

      Der Kerl auf dem Geweih war jedoch anders. Der Bär sah, wie er den linken Flügel hob und der Lärm sofort verstummte sofort.

      'Das ist der Anführer des Aufruhrs', überlegte er.

      Er beobachtete wie die Eule dem Hirsch etwas zuflüsterte. Dieser schüttelte den Kopf. Die Eule hob ab und landete vor dem Bären. Dieser meinte noch so etwas wie "… geweihtragender Feigling" zu hören.

      Die Eule vor ihm auf dem Boden blickte ihn keck und entschlossen an.

      "Was willst du hier?", forderte sie den Bären heraus.

      "Verstehst du mich nicht? Was willst du hier!"

      Der Bär bewunderte die Frechheit der Eule. Ein Prankenhieb und das Vögelchen taugte höchstens noch als Füllung für eine Duvetjacke. Ihre Dreistigkeit schüchterte ihn ein.

      "Sag - schon: was - willst - du - hier?"

      Die Eule betonte jedes Wort, als habe sie etwas Begriffsstutziges, geistig Behindertes vor sich. Sie hob wieder den rechten Flügel und die Tiere stimmten ihr Gebrüll und Gekreische wieder an. Der Bär presste sich noch dichter an die Wurzel. Was wollten die von ihm? Er war nur auf Durchreise und hatte etwas innere Unruhe abgebaut!

      Die Eule flog zurück, tauschte ein paar Worte mit einer Häsin, die einen schweren Beutel um die Schulter geschlungen trug, und einem Eichhörnchen. Häsin und Eichhörnchen stützten etwas, das aussah wie eine Rolle Klopapier. Wollten sie, dass er hier sein Geschäft erledigte? Seltsame Sitten – vielleicht eine Art abstruser Religion, die sie hier praktizierten…

      Der Lärm verstummte und die Eule kam zurück.

      "Schau dir an, was du angestellt hast", rief sie vorwurfsvoll und deutete auf die Klorollengruppe.

      "Du hast Herrn Specht beinahe umgebracht."

      Der Bär erkannte einen Schnabel, der aus der Klorolle ragte. Er kapierte, dass die Klorolle ein einbandagierter Vogel war.

      "Was, wie…", brummte er verwirrt.

      "Dein Werk", tadelte die Eule und wagte es, noch näher zu kommen, "du hast Herrn Specht schwer verletzt. Saß auf einem der Bäume da. Was soll das? Sag schon!"

      Die Eule blickte ihn kämpferisch an. Er bedauerte, den Specht verletzt zu haben.

      "schuldigung…", murmelte er.

      Die Eule deutete dem Hasen und dem Eichhörnchen, dass sie den Specht wieder zurückbringen sollten.

      "Zum letzten Mal: was willst du hier – wir brauchen dich nicht."

      Bevor der Bär eine Antwort geben konnte, brauste das Gebrüll wieder auf. Der Bär kauerte sich zusammen, legte seinen starken Arm schützend über sein Gesicht und drückte einen schäbigen Rucksack an sich. Er hatte Angst! Zufrieden erkannte Merlin, dass sein Plan funktionierte. Die Bestie wirkte nicht mehr Furcht erregend, sondern kauerte ängstlich zitternd an einen umgestürzten Baum gepresst. Jetzt glich sie einem alten, weg geworfenen, vergessenen Fellmantel – Größe XXL.

      "Wir wollen, dass du hier verschwindest!", rief Merlin selbstsicher, "wir brauchen niemanden, der Bäume platt macht."

      Die Ohren des Bären zuckten unregelmäßig. Über seinen Arm hinweg blickte er eingeschüchtert auf die Phalanx der Tiere.

      Was wollten die? Warum konnten sie ihn nicht in Ruhe lassen? Vor einer Stunde war alles noch in bester Ordnung gewesen! Dann überfiel ihn einer seiner Wutanfälle, die ihm schon oft Ärger eingebrockt hatten. Die Erinnerung, was während dieser Zeit passierte, war bruchstückhaft. Wenn er tobte erlebte er sich selber wie durch einen Schleier. Er wusste nicht woher die Wut kam und wohin sie verschwand. Er wusste nur, dass sie irgendwo tief in ihm steckte. Sie war sein unheimlicher, verhasster Begleiter, eine Klette, die sich nicht abschütteln ließ – ein Quälgeist im eigenen Kopf. In Momenten, wo er darüber nachdenken mochte kam er zum Schluss, dass sie ihm schadete. Dann drängte sie sich mit schmeichelnder Flüsterstimme in seinen Kopf.

      'Ich mache dich stark, ich zeige, dass du lebst', raunte sie verschwörerisch, 'du brauchst mich – ohne mich wärst du ein Nichts, nur ein Bär wie andere auch. Einer unter vielen. ICH mach dich zu etwas Besonderem…'

      Er ließ sich meistens von der Stimme einlullen und seine Gedanken verblassten – wie Nebelfetzen, wenn die Sonne rauskommt. Nach den Wutanfällen war er erschöpft und brauchte Ruhe. Er wünschte, die