Hermann Christen

Der Eindringling


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sahen das Eichhörnchen und die Eule nett aus. Er hatte gedacht, dass die beiden klug waren und dass er ihnen erklären konnte, was er wünschte. Die hätten ihn verstanden. Vor allem die Eule. Wenn er sie auf seine Seite hätte ziehen können, sie hätte überzeugen können, würde sie ein gutes Wort für ihn eingelegen und die anderen würden ihr zuhören. Aber durch die Ankunft der Menschen war alles anders geworden. Menschen hatten keine Seele. Menschen hatten keine Ahnung davon, was es heißt, alleine und verzweifelt zu sein. Sie spulten ihre immer gleichen, öden Tage ab, stolzierten herum, fuhren mit Autos, zerkratzten Papier oder hockten vor Bildautomaten, setzten sich abends vor andere Bildautomaten und schlüpften am Schluss in ihre Betten. Und am nächsten Tag machten sie wieder dasselbe. Auf seiner Wanderung hatte er die Menschen oft beobachtet und versucht zu verstehen, was sie tun. Er vermutete, dass sie es selber nicht wussten. Die meisten Menschen waren harmlos und langweilig.

      Schlimm waren nur die Menschen, die gemein waren. Auch solche hatte er kennen gelernt. Mehr als ihm lieb waren. Die gemeinen Menschen waren der Grund, warum er ruhelos unterwegs war. Leute wie dieser Gugger – seltsame Namen hatten die Menschen – die Unheil und Ärger stifteten, wohin sie auch kamen.

      Oben am Abhang entstand Bewegung. Menschen kehrten zurück. Der eine, der vorhin schon ganz nah war, hatte ein Gewehr mit.

      'Deine letzte Chance', brüllte die Wut in ihm auf, 'siehst du nicht, was sie vorhaben? HAU AB!'

      Seltsam, dachte der Bär, die Wut scheint mehr Angst zu haben als ich.

      Er setzte sich auf. Das Eichhörnchen und die Eule wichen erschrocken zurück. Er lehnte sich an die Wurzel und beobachtete teilnahmslos, wie der Tierarzt mit einem Gewehr und der Kerl in Uniform zurückkamen. Der mit der Uniform erinnerte ihn an einen Billetkontrolleur im Zirkus. Oben am Hang entstand wieder Tumult, weil die Menschen nach vorne drängten und sehen wollten, was weiter passierte. Die Ordnungskräfte schafften es nicht, sie zurück zu halten.

      Desinteressiert verfolgte der Bär die Schritte der Männer. Der Tierarzt sagte etwas zum Uniformierten was sich anhörte wie "doppelte Dosis – zur Sicherheit". In respektvollen Abstand stellte sich der Mann mit dem Gewehr vor ihn und zielte. Dem Bären war es egal.

      'Du bist ein Idiot', raste die Wut.

      Verwundert hörte er ein Plopp und sah etwas bunt Schimmerndes auf sich zu fliegen. Ein Stich in der rechten Schulter. Das bunte Etwas steckte da.

      'Glauben die, dass sie mir mit Wurfpfeilen etwas anhaben können?'

      Er wollte auflachen. Doch plötzlich fühlte sich sein Kopf an, als ob ein schwarzer, schwerer Vorhang vorgezogen wurde. Der Wald vor ihm begann zu schwanken. Er sackte zusammen und bevor die Bewusstlosigkeit eintrat sah er enttäuscht, wie erleichtert die Eule und das Eichhörnchen blickten.

      Kapitel 3: Dorfgespräch

      Niemand erinnerte sich, wann der Dorfplatz das letzte Mal so bevölkert war. Höchstens der Geschichtsinteressierte wusste, dass das über hundert Jahre her war. Damals, als der Messer-Mörder Alex öffentlich an der Dorflinde gehenkt wurde. An einem Sonntag nach dem Kirchgang, weil die Leute vom Land dann ohnehin nichts anderes zu tun hatten und niemandem das Schauspiel vorenthalten werden sollte.

      Messer-Mörder Alex war der einzige Einheimische, der es über die Dorfgrenzen hinaus zu Bekanntheit gebracht hatte. Eine Tatsache, von der die Dörfler nicht wussten, ob sie gut oder schlecht war. Wenigstens hatten sie eine bekannte Persönlichkeit auf zu weisen. Einer, der es in die Geschichtsbücher geschafft hatte – nicht wie die vom Nachbardorf. Die waren so was von Durchschnitt, dass sie nicht einmal einen Mörder vorzeigen konnten.

      Alte und junge standen in Gruppen beisammen und tuschelten über den Vorfall im Wald. Die Erzählungen wurden je länger je blutiger. So ging bald die Mär, der Bär habe alle Tiere, nachdem er das Nachbardorf verwüstet hatte, im Alleingang erledigt. Das wiederum gab der Hoffnung Vorschub, dass man jetzt, wo der Wald entvölkert war, endlich die schon lange geplante, überregionale Wald-Sportstätte samt den umsatzbringenden Nebengebäuden, die Gemeindepräsident Koller schon lange versprochen hatte, bauen konnte. Pläne für dieses zukunftsorientierte Projekt existierten schon lange. Den Froschteich hatten sie schon weggeräumt, als die Wollsocken-Ökos vom Nachbardorf verlangten, diesen wieder an zu legen. Dieser Störfaktor schien nach dem Stand der Dinge nunmehr eliminiert zu sein, weil die da drüben jetzt andere Sorgen hatten.

      Eichhörnchen und Merlin saßen auf einem Ast der Dorflinde. Im Dorf behauptete man, dass die Spuren des Strickes, der den Messer-Mörder Alex vom Leben in den Tod beförderte, am Ast noch zu erkennen waren. Das war ein Gerücht, denn sämtliche Äste des alten Baumes waren in tadellosem Zustand. Nur den Stamm verunzierten ungeschickt geschnittene Gravuren, die Herzen und Buchstaben darstellen sollten. Die Jahrzehnte hatten die Wunden heilen, aber nicht verschwinden lassen. Selbst ein mächtiger Baum wie die Linde schaffte es nicht, die Spuren der Verwüstung, welche Menschen hinterließen, ganz zu überwinden.

      Die beiden staunten über die Betriebsamkeit unten auf dem Platz. Eichhörnchen zupfte Merlin am Flügel und wies auf einen aufgeregten Mann mit hochrotem Kopf. Dieser sprach laut und händeringend auf die Leute in seiner Umgebung ein.

      "… sicher einer dieser Amok laufenden Karpatenbären, die dauernd auf Drogen sind. Ernähren sich von Eukalyptus und Bambus und inhalieren Abgase von Pharmafirmen."

      Seine Stimme war schrill und erregt. Ein glatzköpfiger, dicker Mann mit blutverschmierter Schürze lachte auf.

      "In den Karpaten wachsen weder Eukalyptus noch Bambus."

      "Dann fressen sie Fliegenpilze und Tollkirschen und schnüffeln an Tanksäulen – jede Wette!"

      Ein junger Kerl mit einer übergroßen, runden Brille auf der Nase mischte sich ein: "In den Karpaten gibt es auch keine Bären!"

      Er unterstrich seine Aussage, in dem er die Brille mit dem Finger auf der Nase zurechtrückte. Einfach so tun, als ob man den Durchblick hätte. Der Rotgesichtige ließ sich von der erneuten Korrektur nicht aus dem Konzept bringen.

      "Kein Wunder", donnerte er, "sind ja auch alle hier."

      Eine andere Gruppe, die sich um Gugger scharrte, unterstützte den Plan, den Bären umgehend zu häuten und aus zu stopfen. Uneins waren sie nur in dem Punkt, ob das häuten vor oder nach dem Erschießen erfolgen sollte. Gugger argumentierte, dass ein Loch im Pelz wertmindernd sei. Er schlug den Vorschlag, das Loch mit einer Werbeplakette seines Betriebes abzudecken, in den Wind. Obwohl die Idee nicht ganz ohne war. Frau Schön, die Kindergärtnerin, unterstützte das Anliegen unter dem ausdrücklichen Vorbehalt, dass die Kinder zuschauen durften. Sie vertrat vehement die Meinung, dass den Kindern nicht vorenthalten werden durfte, dass Wohlstand und Überfluss auch unschöne Seiten haben.

      "Wenn die Kinder sehen, wie hässlich zum Beispiel das Schlachten von Tieren ist, dann gehen sie später verantwortungsvoller mit der Nahrung 'Fleisch' um", schloss sie nervös.

      Sie überhörte die ironische Bemerkung eines kräftigen Bauern, dass die Kinder beim Zusehen nichts lernen, sondern sich nur erbrechen würden.

      Einige sprachen vom Zoo oder vom Zirkus als Möglichkeit, den Bären zu resozialisieren. Andere widersprachen, dass das Vieh sei bereits zu alt sei, als dass es sich bändigen lassen würde. Festgefahrene Abnormitäten im Verhaltensmuster ließen sich im Alter nicht mehr eliminieren – das könne man bei den Teilnehmern von politischen Debatten sehen, argumentierten sie. Eine henna-rothaarige Frau mit weitem Rock sann mit weicher, verträumter Stimme darüber nach, ob es denn nicht Heime für schwierige Bären gab. Worauf ein schlaksiger Bursche spöttelnd meinte, dass schwierige Bären es nie bis zum Heim schafften – weil sie vorher abgeschossen wurden.

      Gemeindeschreiber Amman, der seit zwei Jahren im Dorf lebte und dem viele misstrauten, weil er freiwillig aus der interessanten Stadt in die langweilige Idylle des Dorfes gewechselt hatte, versicherte einigen Umstehenden, dass ein Bär vermutlich auch ohne Ausweise ausgeschafft werden konnte. Eine hohe Frauenstimme unterbrach die Ausführungen von Amman.

      "Es geht als doch – das ohne