Hermann Christen

Der Eindringling


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      Der kleine Mann spie auf den Boden. Gelblichgrüner Schleim landete knapp neben den Stiefeln von Haldimann. Der kleine Irre schielte auf den Bären. Eine leichte Beute. Eine wunderbare Trophäe. Der Kleine stellte sich vor, wie er als Vorstand des örtlichen Jagdvereins in die Annalen eingehen würde. In hundert Jahren noch würden sie seinen Namen ehrfurchtsvoll zitieren. Der Bärentöter! Der einzige, der einen Bärenabschuss vorzeigen konnte. Die Chance, berühmt zu werden!

      Von Beruf war er Tierpräparator. Das Ausstopfen des Riesenteddys würde ihn glatt zwei, drei Monate beschäftigen. Was für eine Herausforderung an seine berufliche Fähigkeit! Mal was anderes als altersschwache Hunde oder überfahrene Hauskatzen. Hauskatzen präparierte er nicht gerne – er war allergisch und konnte diese Viecher nur präparieren, wenn er vorher Medikamente einnahm.

      Hasserfüllt fixierte er Haldimann.

      'Der will den Abschuss nur für sich selber beanspruchen, nutzt seine Position schamlos aus', dachte er zerknirscht.

      "Hier wird nicht einfach drauf los geknallt", wiederholte Haldimann gereizt.

      Er wandte sich an den Förster.

      "Nimm Gugger mit und hol den Tierarzt!"

      Der Förster nickte, fasste Gugger am Oberarm und zerrte ihn weg. Gugger blickte sehnsüchtig zurück.

      'Der hätte mich berühmt gemacht…', dachte er wehmütig.

      "War er immer so ruhig?"

      Merlin schreckte hoch. Er war vom Auftritt Guggers abgelenkt. Der Kerl hatte schon öfter im Wald auf Eichhörnchen oder Hasen nachgestellt. Getroffen hatte er noch nie, weil sein ständiger Husten sämtliche Bewohner im Wald früh genug vor ihm warnte. Einzig eine Stockente im Schwimmteich hatte er mal erwischt. Man munkelte im Wald, dass das Zufall gewesen sei, denn gezielt habe er auf Konrad, den Dachs.

      "War er immer so ruhig?", bohrte Haldimann nach.

      Merlin schüttelte den Kopf: was für eine Frage! Ruhige Bären reißen Bäume nieder und fetzen Büsche zu Konfetti – natürlich! Nur ein Mensch konnte eine solch dumme Frage stellen.

      Haldimann interpretierte das Kopfschütteln als Antwort.

      "Und wie habt ihr es geschafft, ihn zu beruhigen?"

      "Mit Zucker – er war nur unterzuckert", maulte Merlin ironisch.

      "Echt?"

      "Nein, wir haben ihm alle zusammen gezeigt, dass er nicht willkommen ist: wir - alle – zusammen!"

      Haldimann nickte anerkennend.

      "Mutig!", lobte er.

      Die Waldtiere bildeten eine Gasse und der Förster kam mit zwei Männern zurück.

      "Hab Feuerwehrkommandant Widmer und den Tierarzt mit gebracht", erklärte der Förster.

      Die Männer berieten. Merlin blieb unbeachtet. Er drängte sich nicht auf, weil er offen gestanden froh war, dass die Verantwortung auf andere überging. Er harrte nur weiter aus, damit die Menschen nicht vergaßen, dass es die Waldleute gewesen waren, die den Bären gestoppt hatten.

      "Ist das ein Vieh", staunte der Tierarzt und maß den Bären mit professionellem Blick ab.

      Merlin flatterte hoch und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich.

      "Ja, das ist ein Vieh! Ein riesig großes und gefährliches dazu! Wir möchten, dass ihr uns helft, es wieder los zu werden."

      Der Tierarzt zuckte zusammen. Er hatte Merlin nicht bemerkt. Er war ganz auf den zusammengekauerten Bären konzentriert gewesen. Mit einer Eule hatte er nicht gerechnet. Die letzte Eule hatte er an der Uni gesehen – auf dem Seziertisch.

      "Ihr habt unglaublich interessante Halsgelenke und die Blutversorgung eures Kopfes ist einzigartig im Tierreich. Sonst würdet ihr jedes Mal in Ohnmacht fallen, wenn ihr den Kopf voll dreht", entfuhr es ihn.

      Merlin war verwirrt.

      "Was hat das mit unserem Problem zu tun?"

      "Können Sie den Bären betäuben?", mischte sich Haldimann ein.

      'zwei-, dreihundert – etwa, hm – hm - jaja - passt', murmelte der Tierarzt.

      "Ja, das sollte gehen. Der Stier vom Bauer Schawalder letztes Jahr war schwerer. Ihr wisst noch, der Stier, der durchdrehte und die Gärten im Dorf verwüstete…?"

      "Was hat das mit dem Bären zu tun?", fuhr der Feuerwehrkommandant dazwischen.

      "Wegen der Dosis", belehrte ihn der Tierarzt, "wenn's für den Stier gereicht hat, reicht es auch für den Bären."

      "Das heißt also ja", schlussfolgerte Haldimann.

      "Ja – vermutlich"

      "Und wie schafft ihr ihn hier weg?", wollte Merlin wissen.

      Der Feuerwehrkommandant trat einen Schritt vor.

      "Das schaffen wir: Bagger – Bär krallen – Bär auf Lastwagen – fertig!"

      Widmer drückte sich im Dienst immer knapp und verständlich aus. Klare Anweisungen, so hatte er gelernt, verhinderten Fehler und erhöhten die Effizienz. Er plante nicht, sein ganzes Leben nur Kommandant einer Dorffeuerwehr zu bleiben. Er träumte von einem Führungsposten in der Stadt. Die Menschen nickten einander zu.

      "Ihr haltet ihn weiterhin in Schach", befahl Haldimann Merlin, "wir kümmern uns um Betäubung und Transport."

      Merlin nickte erleichtert. Bald wäre der Albtraum im Wald vorüber. Bald würde wieder Ruhe einkehren. Sie würden wieder streiten und schlecht voneinander reden – wie normal.

      Die Männer gingen zurück.

      "Was ist? Hauen sie ab?", fragte Eichhörnchen verdutzt.

      "Nein", sagte Merlin erleichtert, "sie besorgen sich nur die Mittel, um den Bär zu betäuben und weg zu schaffen."

      "Hätte mich nicht gewundert, wenn sie uns im Stich gelassen hätten", knurrte Eichhörnchen.

      Es setzte sich neben Merlin, der tapfer die Stellung hielt.

      "Ich bleibe hier!"

      "Gut!"

      Oben am Abhang ordneten Haldimann und Widmer den wirren Haufen. Befehle erklangen. Haldimann erklärte einer Gruppe von Männern, die genauso unpraktisch gekleidet waren wie er, das Vorgehen. Gemeinsam drängten sie die Gaffer zurück. Die Dorfleute protestierten lautstark, weil sie die Attraktion live miterleben wollten.

      Auf dem Land lechzen die Leute nach Abwechslung – egal wie blutig sie ist.

      Wortfetzen wie "Sicherheit", "Sicherheitsabstand", "Bestie", "Ordnung" oder "Gesetz" waren zu hören. Endlich schafften es die Leute von Haldimann, die murrende Menge zurück zu drängen. Die Menschen verschwanden aus dem Blickfeld von Merlin und Eichhörnchen. Die Stimmen verklangen und bald war es wieder so still wie vor dem Eintreffen der Menschen.

      "Hoffentlich haben sie dich nicht angeschmiert."

      "Nein, ich glaube nicht", sagte Merlin müde.

      Das Astloch und ein verdöster Nachmittag schienen ihm nach wie vor das Beste, was der Tag bringen konnte.

      "Ahnt er, was gleich passieren wird?", raunte Eichhörnchen.

      Merlin zuckte mit den Schultern.

      Der Bär hatte sich nicht bewegt. Ungerührt hatte er den Auftritt der Menschen verfolgt. Er hatte verstanden, was sie vorhatten. Es war ihm egal. Er mochte nicht mehr – wenn sie ihn in diesem Wald nicht wollten, wo sonst? Für ihn gab es kein Zuhause. Seine Hoffnung, sein Leben ändern zu können, war verflogen. Tiefe Traurigkeit bohrte sich in sein Herz. Er fühlte sich wie verdorrtes Laub, das noch sinnlos am Ast hängt.

      'Ich hab's doch gesagt', stachelte die Wut, 'steh auf und hau ab – JETZT!'

      Der Aufschrei perlte an ihm ab.

      'Sollen