Merlin schüttelte sich. Der Tag hatte ihn mitgenommen. Das Beste daran war, dass das Problem jetzt bei den Menschen lag und dass sie im Wald zur Normalität zurückkehren konnten.
"Nacht", nuschelte er.
Eichhörnchen ärgerte sich, weil Merlin nach dem knappen Gruß in die Dämmerung flog.
'Hätte mich wenigstens nach Hause begleiten können', ärgerte es sich.
Es eilte auf dem Feldweg zum Wald zurück. Der Nieselregen machte Pause und ein blasser Halbmond guckte verwundert zwischen den ziehenden Wolken hindurch. Der Feldweg lag leer und verlassen da. Keine Biker mit verzerrten Gesichtern und überhöhter, von überspanntem Ehrgeiz gepeitschter Geschwindigkeit oder fröhliche, halb blinde Rentner auf E-Bikes. Biker und Rentner waren eine Art Nahtoderfahrung für unvorsichtige Kleintiere!
Der Weg führte über den kleinen Hügel vor dem Dorf, an der Kapelle vorbei und dann in gewundenen Kurven in den Wald hinein. Auf halber Höhe vernahm es ein Geräusch, als ob starker Herbstwind durch einen Holzstapel fegte. Ein hohes, nerviges Summen, das wie eine Welle lauter und leiser wurde. Eichhörnchen stoppte seinen Lauf.
'Seltsam, es ist doch windstill.'
Lauschend verharrte es. Jetzt war es wieder ruhig und Eichhörnchen setzte sich erneut in Bewegung. Es erreichte den Hügel und sah den Wald, der in seiner stummen Dunkelheit Sicherheit und Ruhe versprach. Einige Wolken, die es sehr eilig hatten, schoben sich vor den Mond und tiefe Dunkelheit breitete sich über der Landschaft aus. Eichhörnchen hatte keine Lust, in die regennassen Gräser zu geraten und ging vorsichtig weiter, bemüht auf dem einigermaßen trockenen Feldweg zu bleiben. Ein Schatten strebte neben ihm in die Höhe.
"Schon bei der Kapelle', dachte Eichhörnchen erleichtert, 'ist nicht mehr weit.'
Es war bereits an der Kapelle vorbei, als das Geräusch wiedereinsetzte. Es war, als ob die Erde wimmerte. Eichhörnchen fürchtete sich nicht vor Geräuschen! Trotzdem kauerte es sich dicht an den Boden und spitzte die Ohren. Das Geräusch kam nicht aus dem Boden, sondern aus der Kapelle. Jetzt rasselte es, als ob eiserne Ketten aneinandergeschlagen würden.
'Alex' Stimme!'
Eichhörnchen kannte die Gerüchte über die Kapelle. Es wusste, dass irgend so ein Kerl hier eingesperrt war, bis man ihn hängte. Alex hieß er. Und man erzählte, dass seine Seele im Verlies unter der Kapelle herumgeisterte und jammerte, weil er in der Hölle schmoren musste. Eichhörnchen schüttelte trotzig den Kopf.
"Menschengeschwätz. So etwas wie Geister gibt es nicht!"
Plötzlich fiel ihm ein, dass der Bär hier eingesperrt war.
'Kann ein Bär, so ein riesiges Ding, solch jämmerliche Töne von sich geben? Oder wird er von Alex gequält? Der soll ja ziemlich handgreiflich gewesen sein, wie man so sagt.'
Der Mond hatte wieder eine Lücke zwischen den Wolken erobert und beleuchtete das alte Bauwerk. Eichhörnchen erkannte den Turm und das verwitterte Dach der Kapelle. Vorsichtig näherte es sich. Das Jammern kam aus dem vergitterten Loch, das seitlich an der Mauer zu sehen war. Es wirkte wie ein schwarzer, gieriger Schlund.
'Dürfte wohl der Lichtschacht der Krypta sein.'
Das Wimmern kam ohne Zweifel aus dem Schacht. Argwöhnisch spähte es in die Dunkelheit hinab. Wenn da ein Geist wäre, dann würde es ihn sehen. Geister, so wusste es, sahen aus wie leuchtender Nebel. Aber da war kein Nebel und erst recht kein Leuchtender. Es war stockdunkel. Eichhörnchen hielt sich am Gitter fest und beugte sich in die Schwärze. Lange starrte es in die Dunkelheit, bis es im fahlen Licht des Mondes eine Bewegung unter sich erkannte. Der große, wimmernde Schatten war der Bär. Eichhörnchen hatte genug gesehen und kletterte zurück. Langsam machte es sich auf den Weg nach Hause. Der Mitleid erregende Zustand des Großen da unten machte ihm trotz allem zu schaffen. Es lachte grob auf: 'Jetzt weiß ich, was "er-Bär-mlich" bedeutet: es hockt da unten in der Krypta.'
Sein Lächeln gefror im Gesicht. Es war falsch, Witze über die verzweifelte Gestalt da unten im Loch zu reißen. Verzweifelt - und einsam.
Die sanfte Morgensonne drang durch den Luftschacht und warf einen hellen, scharfen Fleck an die Wand. Das Licht gab ihm die Zuversicht zurück. Er musste irgendwie hier rauskommen. Er schluchzte noch ein paar Mal auf und erkundete den Raum erneut. Vielleicht war ihm am Vorabend etwas entgangen. Ein Riss, eine Geheimtür oder sonst etwas in der Art. Er tastete die Wände ab, drückte mal hier, mal dort, rüttelte am Gitter. Er fand keinen Weg aus dem Gefängnis. Der einzige Weg nach draußen führte durch das eiserne Tor und über die Treppe. Sein Magen verlangte knurrend nach einem Frühstück. Wo war sein Rucksack? Da waren zwei Kräcker drin und er konnte sich mit seinem Fotoalbum trösten. Achtmal durchschritt er mit scharfem Blick den Kellerraum. Der Rucksack war nicht da. Nur Müll: Plastikflaschen, Papierfetzen, Zigarettenstummel – aber kein Rucksack.
'Wäre ich ein Mülleimer, ich hätte genug zu futtern…'
Verbittert hockte er sich in die Ecke und starrte auf den Durchgang. Er ordnete den letzten Tag in seinem Kopf. Irgendwann würde sicher jemand vorbeikommen. Das hoffte er wenigstens.
Eichhörnchen hatte schlecht geschlafen. Ob vor Aufregung oder weil ihm der verzweifelte Bär nicht aus dem Kopf ging, wusste es nicht. Müde grübelnd knabberte es ein paar Nüsse. Der Himmel war immer noch düster, aber es regnete nicht mehr. Unschlüssig zwinkerte es in den Himmel. Der Bär – die Menschenmenge gestern Abend – Merlin – der Bär – immer wieder der Bär. Eichhörnchen war fasziniert von der kraftstrotzenden Gestalt des Riesen. Da steckte nicht nur ein Bäume killender Rabauke drin. Da war es sich sicher. Unvermittelt war es auf dem Weg zur alten Kapelle
Völlig außer Atem erreichte es die Kapelle. Nach Luft ringend schlich es sich zum vergitterten Lichtschacht. Aufgeregt lauschte es. Kein Laut war zu hören. War der Bär weg? Hatte ihn in der Nacht jemand weggeschafft? Vorsichtig spähte es durch den Lichtschacht. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sich die Augen an die Düsterkeit in der Krypta gewohnt hatten. Es erblickte ein paar braunbepelzte, riesige Füße. Der Bär lehnte offenbar an der Wand gegenüber dem Ausgang. Eichhörnchen raffte allen Mut zusammen und kletterte zum Rand des Lichtschachtes. Jetzt sah es den Bären in voller Gestalt. Er hockte an der Wand und starrte unbeirrt auf das Eisengitter.
"Pst"
Der Bär reagierte nicht.
"Pst"
Eichhörnchen war beleidigt. So klein, dass der Bär es nicht hören konnte, war es nicht.
"Hey, Bär", rief es laut.
Der Zottlige wandte den Kopf und starrte hoch. In seinem Gesicht war keine Regung zu erkennen – weder Erstaunen, noch Ärger noch sonst irgendetwas. Eichhörnchen räusperte sich.
"Geht es dir gut?"
-
"Ich bin Eichhörnchen"
-
"Wie heißt du?"
-
"Woher kommst du?"
Der Bär starrte immer noch. Seine Schnauze blieb verschlossen, als ob sie verklebt wäre. Eichhörnchen schauderte. Es erinnerte sich an den Kaugummi, den es einmal im Wald gefunden hatte. Da die Menschen das Zeug offenbar sehr mochten, wollte es wissen, wie es schmeckt. Der Kaugummi klebte ihm sein Maul zu und es wäre verhungert, wenn nicht Herr Specht die klebrige Masse heraus gepuhlt hätte. Die Erfahrung blieb Eichhörnchen in schlechter Erinnerung: wer mag es schon, wenn ein Vogel mit seinem Schnabel einem im Mund herumstochert? Merlin hatte sich damals an Eichhörnchens Missgeschick ergötzt und lakonisch bemerkt, dass er jetzt endlich eine Möglichkeit entdeckt habe, es mundtot zu machen.
"Ich wohne drüben im Wald. Wir haben uns gestern schon gesehen. Weißt du noch?"
"Hm"
Zumindest schien der Bär zu verstehen.
"Du hast uns ganz schön erschreckt!"
-
"Sagst