fanden. Solche, für sie beide als selbstbewusste, in ihrem Beruf erfolgreiche Frauen schlicht postpubertär wirkenden Sprüche des Rechtsmediziners mochten den Professor zwar als Person noch unsympathischer machen, täuschten über dessen fachliche Kompetenz und akribische Arbeitsweise jedoch keinesfalls hinweg. Gemäß des Little-Man-Syndroms, so hatte Alice Peters es Inge Westerhus einmal bei einem Glas Wein erklärt, versuche er seine äußerlichen und menschlichen Defizite in anderen Bereichen zu kompensieren, und genau deshalb war er ein so herausragender Rechtsmediziner geworden. Auf die Frage, ob das auch ein Grund dafür sein könne, dass er ausgerechnet mit
Leichen arbeitete, von denen zwar keine Anerkennung zu erwarten sei, aber eben auch keine Widerrede, hatte Peters nur grinsend geschwiegen. Kurzum, seine Brillanz und Ausdauer machten ihn zu einem absolut zuverlässigen Quell forensischer Informationen und zu einem unersetzlichen Glied in der Kette von Mordfallermittlungen.
Was sowohl Westerhus als auch Peters besonders am heutigen Tag an dem Rechtsmediziner schätzten, war die Tatsache, dass er mit drei bis vier Stunden Schlaf auskam. Natürlich rühmte er sich mit dieser Fähigkeit bei jeder Gelegenheit und verpasste auch niemals, bezüglich der Besonderheit auf die Parallelen mit Napoleon hinzuweisen. Dass dem französischen Kaiser - wenn auch laut Historikern zu Unrecht - eine auffallend kleine Statur zugeschrieben wird, wurde nur spöttisch hinter seinem Rücken kommentiert. Nichtsdestotrotz lagen genau wegen dieses Umstandes die Obduktionsergebnisse bereits vor, schließlich hatte der Professor den Leichnam der Frau aus dem Watt erst am späten Nachmittag des Vortages in Empfang genommen. Wahrscheinlich hatte er bis drei oder vier Uhr morgens gearbeitet und dann in der kleinen Schlafkammer neben seinem Büro den Rest der Nacht verbracht.
Heute schien Professor Herrmann allerdings nicht auf seinem reduzierten Schlafbedürfnis herumreiten zu wollen, die Fahrt mit dem Aufzug und der anschließende Gang durch den Korridor waren von Schweigen geprägt. Erst als die Drei die schweren, mattgescheuerten Edelstahltüren des Obduktionsbereichs erreichten, tat Herrmann wieder den Mund auf.
»Bitte sehr die Damen, gehen Sie gleich durch. Es ist hier im Moment nicht viel los. Tisch Nummer fünf, Feeren hat sie uns schon rausgeholt. Ich sehe nur schnell nach dem Bericht und organisiere zwei Paar Handschuhe.«
Westerhus und Peters nickten und setzten sich in Richtung des hinteren Teiles des Raumes in Bewegung. Gemäß der Ankündigung Professor Herrmanns waren die ersten vier Tische nicht belegt, erst auf dem vorletzten war ein mit einem weißen Leintuch bedeckter Körper zu sehen. Bei Inge Westerhus machte sich ein sehr vertrautes Gefühl breit: eine Mischung aus Furcht, Mitleid, Ekel und Neugier. Viele Leichen hatte sie auf dem Obduktionstisch noch nicht gesehen. In der Ausbildung war es eine Pflichtveranstaltung, dem fachmännischen Zerlegen eines menschlichen Leichnams beizuwohnen. Für die Polizeianwärter hatte das im Wesentlichen drei Gründe: Zum Einen sollten sie mitbekommen, wie die Arbeit eines Rechtsmediziners aussah. Dies nicht zuletzt, um ihnen vor Augen zu führen, welche Möglichkeiten in der modernen Forensik bestanden, die Aufklärung eines Verbrechens maßgeblich voranzutreiben. Der zweite Zweck der Übung war es, sie auf den Anblick eines toten Menschen vorzubereiten. Wenn man so wollte, um einen gewissen Grad an Gewöhnung, nicht Abstumpfung, zu erzeugen. Dahinter stand der Gedanke, dass all die Emotionen und Reaktionen, die beim direkten Kontakt mit einer Leiche mehr oder minder stark ausgeprägt auftraten, nicht zum ersten Mal bei einem echten Delikt und an einem echten Tatort auftraten. Zu guter Letzt war die schonungslose Konfrontation, die relativ früh während der Ausbildung stattfand, natürlich ein Test. Ein Test, der sowohl den Ausbildern als auch dem Kandidaten selbst aufzeigen konnte, ob die Entscheidung für die Polizei als solche oder eine entsprechende Abteilung auch die richtige war. Immer wieder kam es vor, dass Kandidaten angesichts eines grausam zugerichteten Unfallopfers oder einer gewaltsam getöteten Person ihre Entscheidung revidierten. Bei Inge Westerhus war der Mix der Gefühle bei jenem ersten Mal genau derselbe, wie die Male danach oder auch am heutigen Tag. Ihre Reaktion hatte an Intensität über die Zeit verloren, dennoch war sie in der Lage, die einzelnen Nuancen ihrer Emotionen zu isolieren und für sich auch zu bewerten. Eine Fähigkeit, die sie schon damals besaß und die ihr half, die Auswirkungen des Erlebnisses auf ihr Berufs- und Privatleben relativ gut einzuschätzen. Darin sah sie auch mit einen Grund dafür, dass sie ihre Entscheidung, mit Leib und Seele Polizistin zu sein, zu keiner Sekunde bereut hatte.
Als Professor Herrmann leise von hinten an Alice Peters und sie herantrat und anscheinend im Glauben, eine mitfühlende Geste zu machen, ihnen die Hände abermals auf die Schultern legte, zuckte Inge Westerhus förmlich zusammen. Doch angesichts der toten Frau unter dem Leintuch vor ihnen unterdrückte sie jede harsche Zurechtweisung oder gar physische Abwehr, sondern begnügte sich damit, zur Seite zu treten und den Edelstahltisch zu umrunden. Gleich würde der Rechtsmediziner ohnehin rein professionell agieren und sachlich auf ihre Fragen antworten, so waren sie und Peters das gewöhnt. Trotzdem konnte sie ein süffisantes Lächeln nicht unterdrücken, als Herrmann auf die Operationsleuchte deutete, die ganz knapp außerhalb seiner natürlichen Reichweite unter der Decke hing, und fragte:
»Dürfte ich Sie kurz bitten?«
Westerhus griff wortlos nach der EMALED-Lampe, zog sie auf Arbeitshöhe und schaltete sie ein. Kaum fiel das weiße Kaltlicht auf den Obduktionstisch, schlug Herrmann das Tuch, das den Leichnam bedeckte, zurück. Wie immer, wenn er die Erkenntnisse seiner Untersuchungen vortrug, nahm seine Stimme einen komplett anderen Ton an.
»Wir haben hier den Leichnam einer Frau, Alter Mitte zwanzig. Zirka einen Meter achtundfünfzig, zu Lebzeiten schätzungsweise 43 Kilogramm schwer, was bedeutet, dass sie auffallend schlank gewesen sein muss.«
Sofort hakte Alice Peters ein.
»Das ist ja fast schon anorektisch! Gibt es Hinweise darauf?«
Herrmann schüttelte den Kopf.
»Nein. Soweit ich das beurteilen kann, war ihre Physis in bestem Zustand. Keinerlei langfristige Mangelerscheinungen. Auf die kurzfristigen komme ich später. Stabiler Knochenbau, unauffällige Organe, normale Muskelmasse. Auch weisen Zähne, Speiseröhre oder Magen nicht auf eine bulimische Ausprägung einer Anorexie hin. Sie war wohl einfach nur sehr schlank. Außerdem, und das sehen Sie ja selbst, war sie vom Körperbau schon fast leptosom, kaum weibliche Formen. Knabenhaftes Becken. Sehr filigrane Gliedmaßen. Lediglich die Mammae waren, wenn auch relativ klein, doch innerhalb der Varianz des altersgemäßen Durchschnitts ausgebildet.«
Herrmann ließ den beiden Frauen Zeit, seine Worte anhand des Leichnams zu verifizieren. Als beide den Blick hoben und ihn ansahen, referierte er weiter.
»Haare kurz, Farbe brünett. Augenfarbe wegen fehlender Bulbus Oculi leider nicht feststellbar, da haben uns die Vögel oder anderes Getier einen Strich durch die Rechnung gemacht«.
Obwohl die letzte Bemerkung für Herrmann untypisch war, nahmen weder Alice Peters noch Inge Westerhus Anstoß daran. Zu offensichtlich waren die Fressspuren der Nordseefauna am ganzen Körper der Frau zu erkennen.
»Zahnschema ohne besonderen Befund. Ihre Weisheitszähne wurden ihr vor einigen Jahren entfernt. Ebenso die zweiten Prämolaren des Unterkiefers, was auf einen Engstand und eine kieferorthopädische Behandlung in jungen Jahren hindeutet.«
»Können Sie eingrenzen, woher sie stammt«? wollte Inge Westerhus wissen.
Herrmann nickte.
»Mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit aus einem der hochentwickelten Länder. Ich würde Mitteleuropa sagen. Vielleicht Osteuropa, da wird zum Teil auch sehr viel gemacht. Deutschland ist absolut möglich, aber nicht wahrscheinlicher als die anderen Staaten. Zu vage, um sich festzulegen.«
»OK«, murmelte Westerhus nur, und Herrmann nahm den Faden wieder auf.
»Ansonsten keinerlei Hinweise auf medizinische Eingriffe. Eine Speichenfraktur des linken Arms liegt schon etliche Jahre zurück und ist ohne Operation sauber verheilt. Abnutzung von Gelenkknorpel und Bandscheiben sind altersgemäß und durchschnittlich. Daher sind Rückschlüsse auf eine bestimmte Tätigkeit oder Leistungssport