entgegnete Inge Westerhus zuversichtlich und an Herrmann gewandt: »Haben Sie die Fingerabdrücke schon ans LKA geschickt?«
»Habe ich, die kommen direkt auf Sie zu, wenn sie was haben.«
»OK. Fertig mit den Fakten zur Person?«
»Eine Sache noch: Schauen Sie mal hier.«
Herrmann hob den rechten Arm der Toten an und deutete
mit dem Zeigefinger auf eine unregelmäßige dunkle Verfärbung an dessen Innenseite.
»Das hat mit dem Tod der Frau nichts zu tun. Es handelt sich meiner Meinung nach um ein Tatoo. Leider stark in Mitleidenschaft gezogen. Irgendeine Art Tribal, schätze ich.«
Peters und Westerhus betrachteten die feinen Flecke aufmerksam.
»Foto ist bei den Unterlagen?«, fragte die Polizistin, ohne den Blick abzuwenden.
»Natürlich, mit Größenskala.« Herrmann fasste solche Nachfragen niemals als Kritik auf. Er wartete, bis die beiden Frauen sich abwandten und ließ den Arm der Toten wieder sinken.
»So viel zur Person. Kommen wir auf die Verletzungen und die Umstände des Todes. Da habe ich sehr, sehr traurige Nachrichten für Sie«.
Er schaute Inge Westerhus und Alice Peters mit gehobenen Augenbrauen an und schien auf ein Zeichen zu warten, dass sie für die nun folgenden Ausführungen bereit waren.
»Schießen Sie los«, forderte die Ärztin ihren Kollegen auf und stützte sich mit beiden Armen auf den Edelstahltisch.
»Die Verletzungen an Augen und Mund, sowie einige kleinere Abschürfungen und natürlich auch die Fesselspuren sind prämortal entstanden. Lassen wir die Spuren, welche die Vögel, Krebse und der ein oder andere Fisch hinterlassen haben, einmal außer Acht, sind es wirklich lediglich diese wenigen Verletzungen. Aber die, das brauche ich Ichnen nicht zu sagen, haben es leider in sich«.
Er deutete auf den Mund der Frau.
»Ihr wurden Mund und Augen mit einem Paketgarn zugenäht. Da hat sie definitiv noch gelebt. Ob sie allerdings bei Bewusstsein war, kann ich Ihnen leider nicht sagen, auch wenn Sie sich das, so wie ich, sicherlich innigst wünschen.«
Inge Westerhus schüttelte mit vorgehaltener Hand entsetzt den Kopf, während Alice Peters sich interessiert vorbeugte, um die regelmäßigen Wunden im Mundbereich genau zu studieren.
»Ich habe selbstverständlich Proben des Garns an das LKA-Labor geschickt, vielleicht ist der Hersteller zu ermitteln. Wie Sie beide sehen, hat der Täter mit der Nadel – ich schätze eine Teppich- oder Polsternadel größeren Kalibers – nicht durch die Lippen gestochen, sondern durch das umgebene Fleisch. Dadurch lässt sich der Mund durch Festzurren gut verschließen, und das Risiko des Ausreißens eines Stiches ist nicht so groß.«
Herrmann referierte die Fakten ohne jegliche erkennbare Emotion oder Rücksichtnahme.
»Und jetzt kommt etwas Spannendes: Unmittelbar nach Setzen der Naht hat er flüssiges Kerzenwachs auf jeden Stich geträufelt. Ich habe verschiedene Theorien, warum er das gemacht hat. Qual oder Folter ist natürlich möglich, jedoch von meinem Standpunkt aus nicht wahrscheinlich. Der Schmerz des Stechchens und Durchziehens des relativ dicken Garns war, vorausgesetzt die Frau war bei Bewusstsein, so groß, dass das heiße Wachs sicher nicht noch schlimmer war. Ich würde vermuten dass auch ein geisteskranker Perverser in der Lage ist, das abzuschätzen.«
»Und warum könnte er es dann getan haben?«, fragte Inge Westerhus und strich sich gedankenlos mit dem Zeigefinger um ihre Ober- und Unterlippe, so als stellte sie sich die Schmerzen vor, die die junge Frau während der entsetzlichen Tortur ertragen musste.
»Entweder, er wollte die Blutung stoppen, denn gerade um den Mund herum ist das Gewebe ja besonders stark durchblutet. So konnte er zumindest verhindern, dass Blut nach außen, also in ihr Gesicht floss. Nach innen haben die Wunden natürlich weitergeblutet. Ich habe geringe Mengen an Blut im Magen nachweisen können, die sie in den Stunden nach der Verletzung geschluckt haben muss. Nach vier, fünf Stunden dürften die Wunden dann auch im Mundraum geschlossen gewesen sein. Der zweite Grund, den ich mir vorstellen könnte, wäre der naive Versuch, die Wunden zu desinfizieren, beziehungsweise zu versiegeln. Einen geringen Effekt in diese Richtung dürfte das heiße Wachs sicher gehabt haben.«
Inge Westerhus, die immer noch ihre Lippen knetete, sagte wie zu sich selbst:
»Das Blut, das er nicht sah, war ihm egal, aber in ihrem Gesicht wollte er es nicht haben… Das halten wir mal für das Profiling fest, ist ja vielleicht ein Puzzleteil. Entschuldigung, ich habe Sie unterbrochen?!«
Herrmann schüttelte den Kopf.
»Nicht doch! Kein Problem. Soll ich weitermachen?«
»Ja, sicher!«, ermunterten ihn Alice Peters und Inge Westerhus gleichzeitig.
»Für Sie und Ihr Profiling ist vielleicht auch wichtig, dass der Mund erst einige Zeit nach den Augen zugenäht wurde. Im Bereich von Tagen, vielleicht einer Woche. Ich für meinen Teil finde das ziemlich bemerkenswert! Außerdem hat der Täter auch hier, vergleichbar mit seinem Vorgehen beim Mund, nicht etwa das Lid vernäht, sondern das umliegende Gewebe. Anschließend hat er wieder die Stiche mit heißem Wachs beträufelt. Ihre Augäpfel dürften bei der gesamten Prozedur nicht zu Schaden gekommen sein. Dass sie fehlen, schiebe ich, wie anfangs erwähnt, auf die Fressgier der Vögel, Fische oder Kriechtiere.«
»Aber der Mund folgte eine Woche später!«, überlegte Inge Westerhus halblaut. »Das bedeutet, dass er sie eine ganze Weile in seiner Gewalt hatte, bevor er sie getötet hat! Was für ein krankes Hirn! Hat er sonst noch etwas mit ihr gemacht? Ich meine zum Beispiel, sexuelle Handlungen vorgenommen, eine Vergewaltigung?«
Der Rechtsmediziner schüttelte den Kopf.
»Hierfür habe ich keinerlei Anzeichen gefunden. Die Frau war zwar keine Jungfrau mehr, aber alles deutet darauf hin, dass sie zu Lebzeiten nur einvernehmlichen und auch nicht besonders harten Geschlechtsverkehr hatte. Ich habe weder ältere noch aktuelle Vernarbungen oder Verletzungen feststellen können. Was ich nicht ausschließen kann, ist, dass er sich an ihr in bewusstlosem Zustand vergangen hat. Ich habe trotz der Liegezeit Abstriche gemacht und lasse gezielt nach Sperma, Spermizid und Gleitmitteln suchen. Aber meine ehrliche Meinung? Da ist nichts passiert. Auch die Tatsache, dass sie, bis auf die Einwirkung des Salzwassers und den natürlichen Schmutz, einen unversehrten Slip trug, unterstützt diese These.«
»Haben Sie daran eine Verschmutzung durch Kot oder Urin feststellen können?«, wollte Alice Peters wissen und sowohl Herrmann als auch Westerhus war der Hintergrund der Frage sofort klar.
»Nur im Umfang des normalen Gebrauchs von Unterwäsche. Sie hat nicht in ihre Kleidung defäktiert. Das wollten Sie doch wissen?«
»So ist es. Das und die Tatsache, dass sie sich mindestens eine Woche in seiner Gewalt befand, sagt uns wieder etwas über unseren Täter: Er hat ihr den Toilettengang gestattet. Das heißt, er verhält sich in gewissem Maße fürsorglich seinem Opfer gegenüber.«
Inge Westerhus setzte einen weiteren Punkt auf die Gesprächsliste mit ihrer Kollegin Sarah Hansen, die sie ja am folgenden Tag erwartete.
»Aber nur zu einem gewissen Maß. Sie erinnern sich an meine Bemerkungen zu ihrem Allgemeinzustand? Wenn man die letzte Zeit vor ihrem Tod in Betracht zieht, würde ich sagen, sie hat, während sie in seiner Gewalt war, nichts zu essen und auch nur ein absolutes Mindestmaß an Flüssigkeit bekommen. Der Zustand von Magen, Nieren und Leber, sowie einige Gewebewerte lassen diesen Schluss zu. Mal davon abgesehen, dass die Nahrungsverabreichung nach Zunähen des Mundes sowieso nur intravenös oder durch eine Magensonde möglich gewesen wäre. Aber für keine dieser beiden Möglichkeiten habe ich Anhaltspunkte gefunden.«
Herrmann wandte sich ab, ging zu einer in der Ecke stehenden Kommode und zog eine Schublade auf.
»Ist