das Riechen an irgendwelchen Körperteilen seiner Opfer. Vielleicht zieht er auch Befriedigung aus dem Zunähen des Mundes und der Augen. Was für ihn sexuell stimulierend ist und ihn auch zu einem Orgasmus bringen kann, geschieht ohne die klassischen Anzeichen einer Vergewaltigung oder eines Geschlechtsaktes.«
»Es kann auch«, griff Sarah den Faden wieder auf, »eine Kombination aus traumabedingter und sexueller Motivation sein. In der Regel beginnt die Geschichte eines solch gestörten Charakters mit einem Vorfall in der frühen Kindheit oder Jugend. Das kann ein einmaliges traumatisches Erlebnis sein, oder auch ein über längeren Zeitraum erlebter Umstand. Zeuge eines Gewaltverbrechens oder systematischer Missbrauch sind Beispiele. Natürlich spielen Umfeld, genetische Disposition, die Chance, das Erlebte aufzuarbeiten, ganz tragende Rollen, denn schließlich wird nicht jedes Missbrauchsopfer zum Serienkiller. Es bedarf immer vieler und auch subjektiver Faktoren, um ein solches Verhalten hervorzubringen.«
»Und das geschieht dann plötzlich? Oder wie?« Feit Müllers Interesse war geweckt.
»In der Regel geht den Taten eine lange Phase voraus, in der zunächst fantasiert wird. Dann kann es ein Zufall sein, die Begegnung mit einer Person, ein Erlebnis, eine Szene in einem Kinofilm, das den Auslöser für den nächsten Schritt darstellt: Eine Phase, in der sich der Täter in der Realität an seine Fantasien annähert. Das ist in der Regel visuell und kann mit Voyeurismus umschrieben werden. Aber Vorsicht: Das bedeutet nicht, dass jeder Voyeur ein verkappter Serientäter in seiner visuellen Phase ist!«
»Klar, sonst würde ich mir bei einigen meiner Kumpels ernsthaft Sorgen machen.«
Dass dies kein Witz sein sollte, sondern eine ernst gemeinte Feststellung des Polizisten, war allein wegen seines Tonfalles eindeutig.
»Irgendwann reicht dann das visuelle Erlebnis nicht mehr aus, die Bedürfnisse zu befriedigen. Und bei manchen kommt es tatsächlich zur Tat. Nicht bei allen. Manche schaffen es, sich ein Leben lang zu beherrschen, andere nehmen sich das Leben. Nur ein verschwindend geringer Promillesatz der Personen mit entsprechender Disposition wird zum Serientäter.«
Sarah sah sich nach ihrem Wasserglas um, da es aber leer war, räusperte sie sich nur und fuhr dann fort.
»In signifikant häufigen Fällen ist es auch so, dass der Täter die Art seiner Handlungen nach einer langen Pause modifiziert, zum Beispiel durch so etwas, wie in unserem Fall, die zugenähten Körperöffnungen. Entweder er hat das in den passiven Phasen seinen Fantasien hinzugefügt, oder aber es war schon immer Bestandteil seiner Fantasien, kam aber nicht zur Ausführung. Es ist also nichts, das ausprobiert und möglicherweise wieder verworfen wird. Er hat sein Gefühl, seine Befriedigung, schlicht seinen Benefit in den Träumen vorweggenommen und Gefallen daran. Eine solche Modifikation des MO wird er nicht wieder aufgeben.«
»Und wegen seiner Entwicklung und der damit verbundenen Änderung bestimmter Tatmuster ist es wichtig, uns zunächst auf die wesentlichen Umstände zu konzentrieren«, konkludierte Feit Müller.
»Und das sind Alter, Geschlecht, Aussehen, Statur, Haarfarbe, Kleidungsstil, möglicherweise auch Hobbys, ein Instrument zum Beispiel, oder eine bestimmte Sportart. All das sind die Merkmale, über die er seine Opfer möglicherweise auswählt. Vielleicht war sein erstes Opfer im selben Musik- oder Turnverein, und deswegen sucht er sich seine weiteren Opfer in eben jenem Umfeld. Die Handlungen sind eher nachgeschaltet und können sich, wie gesagt, entwickeln.« Sarah war sich sicher, dass der Kollege die Zusammenhänge verstanden hatte.
»Sehr gut, was noch?«, wollte Westerhus wissen.
»Gehen Sie bei den Recherchen ruhig einige Jahre in die Vergangenheit. Oftmals ist es so, dass, wenn die Grenze zum aktiven Handeln, also der Übergang zum Töten, zum ersten Mal überschritten ist, die daraus gezogene Befriedigung sehr lange anhält. Bis zur nächsten Tat können Monate, ja sogar Jahre vergehen. Irgendwann werden die Intervalle allerdings kürzer, weil das Glücksgefühl nicht mehr so lange andauert.«
Feit Müller und auch Inge Westerhus gaben ihrer Abscheu mit eindeutiger Gestik Luft.
Die Polizistin nickte.
»Mit der Modifikation seiner Handlungen steigt meist auch die Frequenz der Taten. MO steht übrigens für Modus Operandi, also quasi Vorgehensweise«, erläuterte sie an Feit Müller gewandt, denn sie hatte dessen Stirnrunzeln bemerkt, als Sarah die Abkürzung verwendet hatte.
»Heißt das, dass wir in Kürze mit einer weiteren Leiche zu rechnen haben?«, wollte er wissen.
Sarah verneinte.
»Das wollen wir doch nicht hoffen! Erhöhung der Frequenz muss nicht bedeuten, dass er jetzt jede Woche zuschlägt. Es kann auch bedeuten, von alle fünf Jahre auf alle zwei Jahre. Es muss auch nicht notwendigerweise jetzt dazu kommen. Nur drei Dinge sind sicher: Erstens, er wird wieder töten. Zweitens: irgendwann wird er anfangen, in geringeren Abständen zu töten. Und drittens: sollte es ein nächstes Opfer geben, werden auch ihr Mund und Augen zugenäht werden. Davon lässt er nicht mehr ab.«
Die nun entstandene Stille beendete Inge Westerhus mit klarem Pragmatismus.
»OK, Feit, dann weißt du, wie ihr nachher vorzugehen habt.«
Sie sah auf die Uhr und meinte:
»Zeit für die Mittagspause. Trotz allem ein wenig Appetit?«
Er hatte riesiges Glück, sie unter den vielen anderen Menschen überhaupt bemerkt zu haben. Sie war viel früher als sonst aufgetaucht, so viel früher, dass er noch nicht einmal darüber nachgedacht hatte, nach ihr Ausschau zu halten. Der einzige Grund für seine Anwesenheit war das bescheidene Angebot an Möglichkeiten, seinen Transporter legal und unverfänglich abzustellen und trotzdem eine gute Sicht auf die Haltebuchten der Busse zu haben. Eigentlich hatte er vorgehabt, sich noch einige Zeit zurückzulehnen und mit geschlossenen Augen seinen Gedanken nachzuhängen. Doch auf einmal war sie aufgetaucht, das Mobiltelefon am Ohr, lachend und mit dem beschwingten, kecken Gang. Sie trug heute ein türkisfarbenes T-Shirt, auf dem ein stilisierter Affe mit ziemlich breitem Mund abgebildet war. Die Blue Jeans endete wieder zwei Handbreit über den Knöcheln, und an den Füßen trug sie heute bunte Turnschuhe. An dem schwarz-roten Rucksack hing eine gelbe Windjacke, und um den Hals hatte sie ein luftiges, buntes Tuch, das mit den Schuhen sehr gut harmonierte. Wieder bestach sie durch ihre unbeschwerte Art, sich zu bewegen, zu lächeln, den langen Pony aus dem Gesicht zu streichen. Eine innerliche Wärme erfüllte ihn, als er ihr neugierig, ja, fast sehnsüchtig mit seinen Blicken folgte. Der Bus der Linie drei kam, doch sie stieg nicht ein. Wartete sie noch auf jemanden, oder würde sie eine andere Linie nehmen? Nach wenigen Minuten stieg sie in den Bus Richtung Sankt Peter-Ording, und so hatte er Gewissheit: Er würde heute dabei sein, wenn sie etwas für ihn Neues tat. Ohne Hast lenkte er den VW in den Verkehr. Da er die Strecke, die der Bus befuhr, gut kannte, verfolgte er ihn nicht, sondern beschränkte sich darauf, an den Haltestellen genau zu überprüfen, ob sie ausgestiegen war oder nicht. Erst, als sich der Bus dem Bahnhof in Sankt Peter-Ording näherte, schloss er dichter auf, da es dort zu viele Möglichkeiten gab, sie nach der Ankunft aus den Augen zu verlieren. Dass er richtig daran getan hatte, zeigte sich unmittelbar, denn sie sprintete nach Verlassen des Busses sofort los und stieg in den wartenden Ortsbus. Wenn er die wenigen Sekunden, die sie sichtbar gewesen war, verpasst hätte, wäre die Spur für heute verloren gewesen. Doch so konnte er ihr weiter folgen und beobachten, wie sie an den Dünenthermen ausstieg und zu Fuß weiter in Richtung Meer ging. Also überholte er sie beherzt, bog links auf den Parkplatz gegenüber des Strandhotels, stellte den Transporter ab und beeilte sich, wieder zur Straße zu gelangen. Als er sie wieder ausgemacht hatte, blieb er auf der gegenüberliegenden Straßenseite immer auf ihrer Höhe und verfolgte sie so bis zum Deichkind. Zielstrebig steuerte sie die Restaurant-Bar an. Durch die großen Glasscheiben konnte er erkennen, wie sie sich suchend umsah und dann mit einem Strahlen auf dem Gesicht zu einem der Tische mit Blick auf das Meer und den Übergang zur Arche Noah trat. Die dort sitzende junge Frau stand auf,