noch. Sie ist ertrunken.«
Es kam angesichts der letzten Informationen fast schon Sarkasmus gleich, dass sich Herrmann aus der Schublade eine halbvolle Flasche Perrier griff, sie öffnete und in einigen großen Zügen leerte. Dann trat er wieder an den Edelstahltisch.
»Das heißt, der Täter hat sie in diesem Zustand einfach ins Meer geworfen und sie ihrem Schicksal überlassen?«
»Nein, als er sie ins Meer warf, war sie bereits tot. Sie hat nämlich eindeutig in Süßwasser ihr Leben verloren.«
»In Süßwasser?« Inge Westerhus runzelte die Stirn.
»Ja, in Süßwasser. Und es war kein Leitungswasser. Zum Glück, denn sonst hätte ich das möglicherweise gar nicht nachweisen können.«
Alice Peters sah den Rechtsmediziner interessiert an.
»Sie haben es über einen Kleinorganismus oder ähnliches
herausgefunden?«, fragte sie lebhaft.
»Richtig!« Herrmann griff in die Schachtel am Fußende der Toten und förderte eine kleine verschlossene Eppendorf-Ampulle zutage.
»Darf ich vorstellen: Oscillatoria princeps oder Königs-Schwingalge. Kommt nur im Süßwasser vor. Das allerdings leider weltweit und ohne besondere Ansprüche. Den Ort, an dem die Frau ertrunken ist, mit ihrer Hilfe einzugrenzen, wird also nicht möglich sein, so leid mir das tut.«
»Wäre auch zu schön gewesen. Ist trotzdem ein wesentlicher Anhaltspunkt, der uns bei den Ermittlungen weiterhelfen kann«. Inge Westerhus klang zuversichtlich.
»Wie lange war sie im Süßwasser, bevor sie ins Meer gelangte?«
»Es gibt leider keine mir bekannte Methode, das festzustellen. Sicher ist nur: Sie ist in Süßwasser ertrunken und wurde im Salzwasser gefunden. Die Liegezeit im Wasser beträgt schätzungsweise zehn Tage. Wie sich diese Zeit genau in Süß- und Salzwasser aufteilt, kann ich Ihnen nicht sagen.«
Herrmann zuckte bedauernd mit den Schultern, legte die Ampulle zurück in den Beweismittelkarton und fuhr dann fort.
»Aber sie ist nicht erst gestern oder vorgestern im Salzwasser gelandet. Die Fressspuren und der Befall der Salzwasserorganismen sagt mir das. Es ist sogar denkbar, dass sie unmittelbar nach ihrem Tod ins Meer geworfen wurde. Sie könnte also beispielsweise in einem Eimer mit Bach- oder Brunnenwasser ertränkt und unmittelbar danach ins Salzwasser verfrachtet worden sein. Oder eben erst vor, sagen wir, fünf oder sechs Tagen, also doch einige Zeit nach ihrem Tod. Dazwischen ist alles möglich.«
»Das bedeutet, sie könnte irgendwo im Hinterland ertrunken und durch die Entwässerungskanäle ins Meer gespült worden sein.« Alice Peters sah ihre Freundin skeptisch an.
»Auch das wird euch nicht wirklich voranbringen, oder?«
Westerhus war ebenfalls nicht besonders zuversichtlich.
»Nicht durch die Kanäle. Die Fließgeschwindigkeit ist in der Regel zu langsam, außerdem wäre sie spätestens an einem der Rechen an den Sielwerken hängen geblieben. Das muss etwas anderes gewesen sein, ein größerer Bach oder Fluss. Aber selbst Bongsieler Kanal, Arlau oder Rhynschloot enden entweder in Speicherbecken oder haben zumindest eine Schleuse. Auch die Eider hat ein Sperrwerk. Dass sie da unbemerkt durchtreibt, halte ich für nicht wahrscheinlich.«
»Dann also von noch weiter her. Die Elbe käme infrage, das würde auch die lange Liegezeit im Wasser erklären. Schließlich hat sie eine erhebliche Strecke zurücklegen müssen.«
Westerhus nickte.
»Möglich. Wir müssen das auf jeden Fall bei unseren Ermittlungen berücksichtigen. OK, was haben wir noch?«
»Ich habe Gewebeproben zur DNA-Analyse gegeben, falls Sie zu einigen Vermissten schon Vergleichsmaterial haben. Die pharmakologischen Befunde stehen natürlich noch aus. Aber ansonsten wäre es das von meiner Seite.«
»Ich danke Ihnen. Schicken Sie mir alles rüber, wenn es da ist?«
»Klaus, das machst du dann, sowie die Daten vorlegen.«
Ohne sich umzudrehen hatte Herrmann die Worte an seinen Obduktionsassistenten gerichtet, der immer noch einige Meter entfernt an die Tische gelehnt stand und alles interessiert mitverfolgt hatte.
Westerhus hob ihre Tasche auf und nickte Alice Peters zu.
»Wenn Ihr euch noch professionell austauschen wollt…, ich jedenfalls trete die Heimreise an.«
Sie hob die Hand und verließ mit einem unguten Gefühl in der Magengegend und einem nachdenklichen Runzeln auf der Stirn den Obduktionsraum.
Inge Westerhus stand in freudiger Erwartung an ihrem Bürofenster und trommelte ein wenig ungeduldig mit den Fingern auf die Fensterbank. Ihre Kollegen hatte sie allesamt an die Recherche der nationalen und internationalen Vermisstendatenbanken gesetzt, wo sie akribisch nach Treffern suchten und bei Verdacht zum Telefonhörer griffen, um weitere Details zu den einzelnen Fällen zu erfragen. Sie selbst hatte kurz zuvor mit Sarah Hansen telefoniert und ihr beschrieben, wie sie von der B200 am einfachsten zur Polizeidirektion in der Poggenburgstraße kam. Bei dem Telefonat war die junge Kollegin kurz vor Viöl gewesen, und die zwanzig Minuten, die man normalerweise von dort brauchte, waren seit dem Gespräch bereits vergangen. Just als sie noch einmal auf die Armbanduhr an ihrem Handgelenk sehen wollte, sah sie ein kleines rotes Cabrio auf der Straße eine Spur zu schnell herankommen. Sie hörte, wie der Fahrer in den zweiten Gang schaltete und gekonnt in einen freien Parkplatz vor dem roten Backsteinbau einbog. Der Flitzer hatte Flensburger Kennzeichen, und irgendwie passte das Auto und der Fahrstil in Westerhus` Vorstellung zu ihrer Kollegin. Tatsächlich entstieg dem Wagen, unmittelbar nachdem das Motorengeräusch erstarb, eine schlanke Frau mit langen blonden Haaren, schüttelte den Kopf einige Male und band sich die Mähne dann mit einem Gummi zum Pferdeschwanz. So hatte sie Sarah Hansen noch in Erinnerung: keck und voller Energie. Westerhus verließ das Büro, um ihre Besucherin beim Pförtner in Empfang zu nehmen.
»Wir haben möglicherweise einen Treffer bei der Vermisstensuche.« Feit Müller hatte schwungvoll die Halbglastüre zwischen den Büros aufgerissen und blökte die Neuigkeit lautstark in Richtung seiner Chefin und Sarah. Obwohl die ziemlich respektlose Unterbrechung ihres Profilings mit Sarah Inge Westerhus verärgerte, hob sie erwartungsvoll und ohne strafende Miene den Blick. Auch Sarah sah den Kollegen gespannt an. Sie klickte ihren Kugelschreiber zu und legte die Hände vor sich auf die Tischplatte, während Feit Müller, ehe er zum Wesentlichen kam, noch einmal von seinem Schokoriegel abbiss und, da er in Sarahs Gegenwart offensichtlich vermied, mit vollem Mund zu sprechen, erst hastig kaute und den Bissen herunterschluckte. »Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um Andrea Keller aus Merseburg bei Halle«, verkündete Feit Müller und setzte sich zielstrebig in Richtung Schreibtisch in Bewegung. Dort rollten Inge Westerhus und Sarah reflexartig auf ihren Stühlen beiseite, um dem schwergewichtigen Kollegen Platz vor dem Rechner einzuräumen. Müller warf den unverpackten Rest seines Snacks achtlos auf die Schreibtischplatte und griff nach der Funkmaus. Jetzt konnte Sarah einen leicht sauren Blick auf Westerhus` Gesicht erkennen, in dem die Überzeugung zum Ausdruck kam, dass sowohl ihr Zeigegerät als auch die Tastatur wahrscheinlich ohne schmelzende Schokoladenbrösel ihren Dienst in Zukunft weitaus zuverlässiger würden verrichten können. Ihre Kollegin beließ es aber bei dem Blick, zuckte kurz mit den Schultern und ließ Feit Müller gewähren. Nach wenigen Sekunden hatte er die Akte aus der Vermisstendatenbank auf dem Schirm.
»Das ist sie: Andrea Keller, 24 Jahre. Studierte Orientwissenschaften an der Universität Leipzig.«
Sarah und Inge Westerhus betrachteten das Foto. Ein Schnappschuss, der eine auffallend zierliche junge Frau zeigte, fröhlich lachend, mit einer Eiswaffel in der Hand, eine kesse Bob-Frisur und sommerlich gekleidet. Irgendwo im Grünen hatte sie mit einem vertrauten Menschen viel Spaß, war ausgelassen und hatte unbeschwert mit der Kamera oder der Person