E. E. Kisch

E. E. Kisch – Der Mädchenhirt


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Freundeskreis zerstörte. Außer Karl Duschnitz war niemand aus seinem Kreise davongekommen.

      Aus der Flößerwohnung war Karl Duschnitz im Wagen in sein Haus in der Rittergasse gefahren. Allein. Er hatte jede Begleitung abgelehnt. Zu Hause hatte er sich unwohl gefühlt. Dann hütete er drei Wochen, leicht fiebernd, das Bett. Das Schicksal seiner Fahrtgenossen wollte man ihm verheimlichen. Aber er ließ keine Ruhe. Was mit Fritz Fritz geworden sei, mit Mathias Blecha, mit Naak, Dirnböck und den anderen, wollte er wissen. So brachte man ihm nach und nach schonend bei, daß sie alle tot seien. Als man Naak als Leiche aus der Moldaumündung fischte, wollte man es ihm schon nicht mehr mitteilen. Er hatte sich bei jeder der vielen Todesmeldungen zu sehr aufgeregt. Aber schließlich bekam es Karl durch seine Fragen doch heraus, daß man auch das Geschick Engelbert Naaks kenne. Und nun nahm er die Botschaft vom Tode des letzten der Tafelrunde apathisch auf.

      Nach Karls Heilung war sein Weg, das Haus seines Retters zu suchen. Das war leicht, denn am Ufer der Kampa, die eigentlich keine Insel, sondern eine Halbinsel ist, stehen wenige kleine Häuser. Es sind nur große, dreistöckige Mietshäuser dort, und wenn der Gesuchte in einem von diesen gewohnt hätte, dann wäre es nicht leicht gewesen, es herauszufinden. Denn diese Häuser sind alle gleich in ihrer Seltsamkeit. Da die eine Front nach vorne auf die mit großen Linden bewachsene und ungepflasterte Hauptstraße blickt, auf der die Kinder mit Kugeln »Labeda« spielen und die Töpfer ihre Märkte abhalten, und die andere Front gegen die Moldau gerichtet und von der Karlsbrücke aus sichtbar ist, so wußten die Erbauer dieser billigen Häuser nicht, welchen Teil sie als Rückseite, welchen als Vorderseite deklarieren sollten. Der Ausweg aus diesem Dilemma war durch die Erwägung gegeben, daß Mörtelanwurf und Friesverzierung teure Dinge seien. So machte man denn überhaupt keine Vorderfront.

      Inmitten dieser Gebäude war das würfelförmige Häuschen Chrapots nicht zu verfehlen, und Duschnitz konnte sich die peinlichen Fragen nach der Wohnung des ihm dem Namen nach unbekannten Flößers ersparen. Schräg gegenüber der Schenke »Zur Hölle«, in der König Wenzel in der Todesnacht seines Vaters, des vierten Kaisers Karl, mit der Dirne Božka Vesna gezecht und um ihretwillen blutig gerauft hatte, war es gelegen. Frau Chrapot war allein zu Hause. Ihr Mann sei fort, auf dem Floß nach Hamburg. Wann er zurückkomme? Nun, so fünf Wochen werde es noch dauern. Und wieder der ermutigende Blick von damals. Ohne Wirkung heute. Karl Duschnitz nannte seinen Namen und seine Adresse. Er verreise jetzt nach dem Süden und werde nach der Rückkunft seinem Retter ein Geldgeschenk überbringen. Das Geld hatte er bei sich; aber er wollte es dem Weibe nicht überantworten, das solche Blicke schickte. Er ging.

      Auf einer der dalmatinischen Inseln nahm er Aufenthalt. »Im Süden, am Meer werden Sie sich von Ihrer Aufregung erholen«, so hatte der ärztliche Rat gelautet. Aber die Wellen des Quarnero waren nicht hellblau, sondern von grünem Dunkel, fast schwarz. Karl Duschnitz sah dort kein sanftes Gestade, das die Wasser umspült hätten, sondern nur zerklüftete, zerrissene Klippen und steile Felsabhänge, an welche die flüssigen Massen mit Getöse wild heranstürmten, sich geifernd aufbäumten, von denen sie dröhnend zurückfielen. So weit seine Sehkraft reichte, verzehrte sich das Meer in fortwährendem Kampfe mit sich selbst, in steter Unruhe, in stetem Gewoge. Das Element, das da wieder und wieder gegen den steilen Strand tobte, auf dem er stand, war dasselbe, das erst vor kurzem den Tod seiner Freunde geheischt, seinen eigenen Tod verschmäht hatte. Warum hatten gerade ihn diese gräßlichen Fänge losgelassen, die noch jetzt zu ihm auf die Klippen heraufgriffen, Haß, Geifer, Drohungen und Macht verspritzend, wieder zurückschlugen und sich immer höher emporreckten, als wollten sie ihm zeigen, daß sie auch jetzt noch ihr Opfer umkrallen könnten, wenn sie es wollten? Sie wollten es nicht. Den lebenshungrigen Freunden hatten sie gierig das Leben genommen. Aber ihn, der nicht am Leben hing, hatten sie in derselben Stunde heimtückisch seines einzigen Besitzes beraubt: des Glaubens an das Wunder.

      Heißkalte Schauer durchzuckten ihn, wenn er sich vergegenwärtigte, wie er sich in wirrem Denken das Wunder seiner ersten, befreienden Hingabe erträumt hatte, und wie er in der gleichen Stunde, da ihn ein Mann vom Tode gerettet, ihm das Weiterleben für die Erwartung des Wunders geschenkt hatte, Lebensrettung und Gastfreundschaft noch halb bewußtlos, dumpf mit Ehebruch gelohnt. Ein dralles, unbefriedigtes, ehebrecherisches Flößerweib – das sollte der Lohn für seine Entsagung sein, dafür hatte er seine Unberührtheit hingegeben, das war seine erste »Liebe«, von der die Befreiung kommen sollte.

      Karl Duschnitz begann das Temperament seiner toten Freunde zu ersehnen. Wie hätten die mit behaglichem Lachen ein solches Abenteuer zum besten zu geben vermocht! Wie hätten sie ihn beglückwünscht, seine Vorwürfe spießbürgerlich und skrupulös gescholten!

      Es half ihm nichts, daß er sich tausendmal sagte, daß sein Glauben an das befreiende Wunder ein unerfüllbarer Irrwahn, ein mystisch unklarer Gedanke und daß jene Stunde in der Flößerwohnung eine reale Belanglosigkeit gewesen sei – es half ihm nichts, daß er sich tausendmal wiederholte: nur dadurch, daß ihm seine Krankhaftigkeit als solche bewußt sei, unterscheide er sich von vollends Geisteskranken – immer wieder kehrten Verzweiflung, Enttäuschung und Selbstvorwürfe mit der grausen Beharrlichkeit zurück, mit der die Wogen schreiend an das Ufer klatschten. Wie glühende Schrauben lagen die Adern in seinen Schläfen.

      Drei Monate verbrachte Karl Duschnitz so sich selbst zerwühlend am zerwühlenden Meer. Dann kehrte er zurück. Man konnte nicht finden, daß er sich im Süden erholt habe. Aber er vermochte sich zu Gesprächen mit den Verwandten zu zwingen, die ihn aufsuchten. Nur den Fragen nach der Katastrophe wich er aus. »Lassen wir das Thema, das erregt mich zu sehr.« Und sprach von etwas anderem.

      Als er wieder in das Haus kam, in dem der Flößer Johann Chrapot wohnte, begegnete ihm dessen Gattin auf der Pawlatsche.

      »Ich habe meinem Mann alles gesagt.« Und als Duschnitz sie groß anschaute, fügte sie noch hinzu: »Er hätte es bald auch selbst bemerkt.«

      Erblaßt drückte Karl Duschnitz seine Hände an das Geländer, als er das erfuhr.

      »Was – was – hat – Euer Mann – erwidert?«

      »Na, er hat sich halt geärgert. Aber er hat sich doch selbst immer ein Kind gewünscht. Übrigens«, das Weib schlägt trotzig den Kopf zurück, »hab ich zu Hause zu reden.« Und dann: »Kommen S’ herein, er ist drinnen im Zimmer.«

      Johann Chrapot liegt ohne Rock auf einem sofaähnlichen Möbelstück.

      »Steh auf, der Herr Duschnitz ist da.«

      »Herr Chrapot, ich komme, um Ihnen tausendmal zu danken – und Sie um Vergebung zu bitten.«

      »No jo«, brummt der Flößer, der beim Eintritt des Fremden aufgestanden ist, mit ernstem Gesicht und denkt nach, was sich da so erwidern ließe.

      Aber Karl Duschnitz kommt ihm zuvor. Er zieht die Brieftasche und reicht dem Chrapot zwei Banknoten. Der nimmt sie und dreht sich mit sehr großen Augen nach seinem Weibe um. Sein Gesicht glüht jetzt vor freudiger Aufregung.

      »Tausend Gulden.« Der Gedanke, daß er jetzt tausend Gulden habe, ist ihm über die Lippen gehuscht. Dann bemüht er sich, ein würdiges Lächeln zu zeigen. »No jo«, sagt er laut und trägt das Geld zum Schrank.

      3

      Auf der Kampa-Insel war des Munkelns kein Ende. Daß der kleine Jaroslav, der Jarda, nicht der Sohn des kranken Flößers Chrapot sei, wußte man; man wußte auch jenen Mann, der damals halbtot vom Wrack herübergebracht worden war, mit der Geburt des Kindes in Zusammenhang zu bringen. Wer aber war jener Fremde gewesen? Die Frage war der Erörterung wert. Frau Chrapot trug jetzt einen großen Damenhut, die Kleider des Kleinen waren in einem Kinderkonfektionsgeschäft gekauft – nicht wie die Kleidchen der anderen Flößerkinder aus Wäschestücken oder Anzügen der Eltern plump zurechtgenäht. Mit jenem Schiffbrüchigen war also bei den Chrapots der Reichtum eingekehrt, und man hätte verteufelt gerne gewußt, wer er gewesen sei. Aber die Chrapotin verriet nichts. Sie war, wie man so sagt, mit allen Salben geschmiert. Als sie ledig war, war sie Fabrikarbeiterin in Holleschowitz gewesen, und die Flößer, die hinter dem Hetzinselwehr anlegten, um beim »Bastecky« den letzten Trunk Prager Bieres zu tun und ihre Flöße zum Remorqueurtransport aneinanderzukuppeln, hatten sie gekannt. Mancher