E. E. Kisch

E. E. Kisch – Der Mädchenhirt


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der nicht mehr jung und keiner der Klügsten gewesen war, hatte sie oft gehänselt, bevor er begann, ihre Späße damit zu erwidern, daß er ihr nachstellte. Sie machte sich darüber lustig, und lachend erkundigten sich die Flößer, wenn sie sich auf ihrer Tour nachts auf das Floß oder unter die Wirtshaustische in Jedibab und Laube zum Schlafe niederstreckten, bei Chrapot, was wohl jetzt seine Angebetete mache, ob sie seiner in Treue gedenke. Allmählich hatte aber das schlaue Fabrikmädel über die Nachstellungen des Flößers zu spötteln aufgehört. Sie bedachte, daß sich hier eine Gelegenheit zum Heiraten biete, wie sie nicht so bald wiederkehren werde. Und eines Tages wohnte sie als legitime Frau Chrapot auf der Insel Kampa. Die Kampa-Leute, deren Eltern und Familien schon dem Holzschwemmbetrieb entstammten, sahen das ehemalige Fabrikmädel, die »Fabritschka«, der einer der ihren so täppisch ins Garn gegangen war, nicht gerne unter sich, insbesondere die Frauen mochten sie nicht leiden. Frau Chrapot hatte ihrerseits die »Podskalaci« immer verachtet und nicht viel Verkehr mit ihnen gepflogen. Jetzt aber, nach der Geburt ihres Kindes, da sie fühlte, daß sie zum Gegenstand der Neugierde und des Neides geworden sei, verschloß sie sich noch mehr. Die Nachbarn sahen darin den Stolz auf ihren neuen Reichtum. Aus dem Flößer Chrapot wäre noch eher eine Mitteilung herauszukriegen gewesen; aber der war durch Drohungen seiner Frau, unter deren geistiger und physischer Herrschaft er ein völliger Sklave war, zum strengsten Stillschweigen verurteilt, und so brummte er nur abwehrend unverständliches Zeug, wenn ihm bei den Flottmachungsarbeiten im Smichower Floßhafen, bei der Jause am Herdfeuer auf der Prahme oder beim langweiligen Transport durch den Remorqueur die anderen Flößer auf den Zahn fühlen wollten.

      Und mochte man den kleinen Jaroslav noch so neugierig mustern – über seinen Stammbaum gab sein Aussehen doch keinen Aufschluß, wenn es auch noch so sehr von dem der anderen Kampa-Kinder abstach. Die Chrapotin pflegte den längst nicht mehr erhofften Sprossen und gab ihm ihre Sorgfalt nicht bloß aus Liebe, sondern um den Neid und die Märchenerzählungen der Nachbarschaft aufzustacheln. Sie zog in den Stadtpark auf Entdeckungsreisen aus, um zu sehen, wie die Reichen ihre Kinder ankleideten, sie kämmte ihrem Jungen auch die Locken über die Ohren, und man kann sich vorstellen, welche Sensation es unter der Karlsbrücke gab, als der Jarda am Sonntag in gelben Schuhen, gelben Socken, in blauem Matrosenanzug und mit Matrosenmütze unter seinen barfüßigen Spielkameraden erschien. Von der Mütze baumelten zwei schwarze Bänder, rückwärts in den Ecken des Matrosenkragens gab es Distinktionssterne und auf dem linken Ärmel einen goldgestickten Anker.

      Dabei war Jarda durchaus nicht stolz, er spielte mit allen, schlug das zweigespitzte Wurfholz »Špaček« in Fensterhöhe, peitschte den Kreisel, daß er zwei Minuten auf dem doch holprigen Uferpflaster tanzte, und er wußte beim Beginn von »Räuber und Polizei« die althergebrachte, mystische Formel:

      »En ten týny

      Sou raka dýny

      Buja, buja, buc

      Tys to všecko spuc«

      so geschickt aufzuzählen, daß das Stichwort »spuc« immer auf seine Freunde fiel; die durften dann die Räuberbande bilden und konnten in der auf geheimem Pfad erreichbaren Ruine, die bei dem Brand der Odkolek-Mühle von dem riesigen, roten Zinnenbau übriggeblieben war, ein Räuberlager aufschlagen, während die beim Auszählen Übriggebliebenen sich mit der wenig aussichtsreichen und auch prinzipiell verhaßten Rolle der Polizisten begnügen mußten. Kein Wunder, daß sich jeder mit ihm zu verhalten suchte. Besonderes Ansehen aber verschaffte ihm eine kavaliermäßige Eigenart beim Kugelspiel, bei »Tschukes« wie bei »Labeda«. Während die anderen Meisterspieler in selbstverständlicher Usance nur so lange mit ihrem Opfer spielten, bis sie diesem alle Kugeln (sechs kosten einen Kreuzer beim Kaufmann Kolant) abgewonnen hatten, borgte Jarda seinem gerupften Partner immer noch Kugeln zu einigen Runden – eine Großmütigkeit, von der man sich einen Begriff erst machen kann, wenn man sich vergegenwärtigt, daß er dem Gegner nun die Chance gab, den bereits ehrlich erstrittenen Gewinn Jardas diesem wieder abzunehmen, während Jarda selbst nicht mehr gewinnen konnte als höchstens nochmals sein Eigentum. Häufig warf er eine gläserne Kugel mit roten, blauen, gelben und grünen Äderchen im Innern als Einsatz in die Kugelgrube und steigerte so den Spieleifer zu einer unsagbar sehnsüchtigen Glut.

      Als man erfuhr, daß Jaroslav Chrapot die deutsche Schule besuchen werde, war das Aufsehen ungeheuer. Denn auch in den Kampa-Häuschen hatte der nationale Haß Miete bezogen. Die Leute verstanden hier nicht, was die Sprachenverordnungen, die Kommissionen, der Paragraph vierzehn, die Obstruktion und die Minoritäten waren, um derentwillen die Zeitungen schrien. Die Leute hier verstanden nicht, über welche Pläne die Omladinisten, die in dunklen Kellern Verschworenen, gebrütet hatten. Die Leute hier hatten die Zeitungsberichte über die Gerichtsverhandlungen gelesen, weil es Zeitungsberichte über Gerichtsverhandlungen waren, sie hatten aber daraus nicht viel mehr erfahren als Namen, Beruf und Alter der Angeklagten, ob sie geständig waren oder leugneten, wie sie aussahen und wie sie verurteilt wurden. Am Abend hatten die Kampa-Leute die Fragen erörtert, ob die Omladinisten den Kaiser und die Erzherzöge ermorden und einen König von Böhmen krönen wollten, oder ob sie bloß die Häuser der Deutschen in die Luft zu sprengen beabsichtigten.

      Dem alten Ruzicka, der kurz nach dem Prozeß auf der Insel Kampa Wohnung genommen hatte, begegnete man noch immer mit einem romantischen Respekt: Er war Hausbesorger in dem Hause gewesen, in dem man den buckligen »Rigoletto von Toscana«, den Verräter des Geheimbundes, unter dem Weihnachtsbaum erstochen hatte.

      Wenn die Flößer und Flößerburschen spät zum Mittagessen nach Hause kamen, mit brennenden Gesichtern und frisch abgerissenen Rockkragen, erzählten sie, sich rühmend, von ihren Kämpfen mit den Couleurstudenten auf dem Graben, wie sie ihre Kameraden aus den Händen der Polizei befreit oder sich selbst losgerissen hatten. Frauen und Kinder sahen sie bewundernd an, und auf den Stiegen und vor den Häusern tauschte man nachher die Erlebnisse der Gatten und Söhne aus.

      Man wußte keine Motive für alles das, was vorging, aber jeder wurde mitgerissen. Es war kein neuer Haß, der da unter den Kampa-Leuten entfacht war. Aber erst jetzt bekam er seinen Namen, seine Richtung, seine Bewegungsfreiheit. Bisher hatte sich der Haß dumpf und verschlossen gegen alle Bessergestellten, alle Reichen neidvoll gekehrt, gegen alle jene, von denen man wirtschaftlich abhängig war. Jetzt hieß es: Gegen die Deutschen! Man faßte es so auf, als ob es dasselbe wäre. Was waren denn die Holzhändler, für die man sich plagte, abarbeitete, Gicht und Verletzungen holte? Deutsche! Was waren denn die Smichower und Radlitzer Fabrikanten, für die die Frauen und Mädchen schufteten? Deutsche! Die Deutschen, ja, das sind die Reichen – wir sind die Armen. Die Banken, die Beamten, die Institute, die Adeligen auf der Kleinseite – lauter Deutsche, aber die armen Flößer, die Holzarbeiter, die Fabrikarbeiter, die Kutscher, die Dienstboten, die Bettler – lauter Tschechen. Eben hatte die deutsche Sparkasse einen Ansturm von hunderttausend Einlegern ausgehalten, die plötzlich auf ein Gerücht hin ihr Geld zurückzufordern kamen, während die tschechisch-klerikale Vorschußkasse mit einem Millionendefizit verkracht war, unzählige ihrer Einleger ganz verarmend. Man las in den Zeitungen, daß sich tschechische Studenten aus Not als Arbeiter verdingen mußten, und sah zur gleichen Zeit die deutschen Studenten in Lackkanonen, mit silbernen Sporen und samtenen Hüten in Fiakerreihen durch die Straßen fahren, und selbst aus den gehässigsten Zeitungsberichten über Trunkenheitsexzesse der »Burschaken« hörte das arme Volk nur die Übermutsäußerung von finanziell nicht Besorgten heraus. Man verwechselte im tschechischen Prag die Begriffe »deutsch« und »reich«, der nationale Haß war Klassenhaß.

      Immer war unter den Tschechen der Wunsch lebendig gewesen, ihren Kindern in die beneidete Sphäre Einlaß zu verschaffen, aber die Führer fühlten die doppelte Gefahr, die in der Verwirklichung eines solchen Wunsches läge, die Stärkung des feindlichen Elements und die Entnationalisierung im eigenen Lager, und deshalb wurde durch Beschlüsse der Stadtvertretung, durch Plakate, durch Schreckgeschichten der tschechischen Zeitungen, durch persönliche Interventionen, Einschüchterungen, Versprechungen nicht nur jeder Eintritt eines tschechischen Kindes, ja eines Kindes gemischtsprachiger Eltern in deutsche Schulen verhindert, sondern sogar schon die Erwägung einer solchen Absicht als schimpflichste aller Charakterlosigkeiten und nationaler Verrat gebrandmarkt.

      Und nun sollte ein Flößerkind in die deutsche Schule gehen! »Die Chrapots haben es nötig«, urteilte man erregt. Aber Frau Chrapot beharrte