E. E. Kisch

E. E. Kisch – Der Mädchenhirt


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alte Chrapot, den man gleichfalls anging, wußte nichts, als die Argumente seiner Frau zu murmeln. Am schwersten war es für Frau Chrapot gewesen, den Widerstand des kleinen Jarda zu überwinden, der sich nicht von seinen bisherigen Spielkameraden trennen wollte und den Unterricht in der ihm fremden Sprache fürchtete. Erst als ihm Frau Chrapot auseinandersetzte, daß er gerade, weil er die Unterrichtssprache nicht beherrsche, vom Lehrer nicht aufgerufen werden könne, und als sie ihm ein Taschenmesser mit breiter Schale und zwei Klingen (Jarda brauchte es zum Messerspiel auf den Kampa-Bänken) versprach, war er bereit. Die Kameraden, die ihn mit den zu Hause gehörten Argumenten zu verhöhnen suchten, machte er mit der Behauptung seiner Mutter mundtot: »Die Tschechen sind nur Bettler.« Da stieg Jarda noch mehr im Ansehen.

      Aber seine eigenen Abneigungen gegen die deutsche Schule waren durch die Bestechungen seiner Mutter, durch seine Zusage und dadurch, daß er die Vorwürfe seiner Freunde schlankweg zum Verstummen gebracht hatte, nicht gebrochen. Bis in die Karmeliterstraße mußte er zur deutschen Schule laufen, einen so weiten Weg in das wildfremde, fremdsprachige Reich, und die tschechische Schule war ganz nahe – eins, zwei war man auf dem Maltheserplatz. Wie oft war er den Weg mit der Betka Dvořak gelaufen, die nun schon in die dritte Klasse kam, und jetzt hätte er täglich den Weg mit ihr gehen können, und täglich hätte sie ihm neue Wunderdinge erzählt. Denn Betka Dvořak weiß Wunderdinge und kennt Wunderdinge: Sie hat fünf ältere Schwestern. Die eine ist eine Dame, hat eine Bekanntschaft mit einem Fabrikanten, einen Hut mit einer grünen Reiherfeder, ein Uhrarmband und einen Ring mit weißem Saphir und wohnt nicht zu Hause; sie kommt nur manchmal zu Besuch auf die Kampa, und dann bringt sie dem Vater eine Zigarrenspitze oder Zigarren oder Stehkragen oder ein Feuerzeug mit, oder sonst etwas, was sie ihrem Fabrikanten geklaut hat. Sie heißt eigentlich Fanka, aber sie nennt sich Emmy, weil das viel nobler ist. Die zweite Schwester, die Marenka, die hat keinen »Schamster«, weil sie häßlich ist; als sie klein war, hat sie Pocken gehabt, und das sieht man noch im Gesicht, und die Nase ist so hinaufgezogen. Die arbeitet in der Bügelanstalt und kümmert sich nicht um die Männer. Die Schönste ist die dritte, die Anna, die ist fünfzehn Jahre alt und falzt in der Druckerei, wo der Vater Setzer ist. Die hat eine ernste Bekanntschaft mit einem Raseurgehilfen aus der Brückengasse; Fanka hat ihr einen Freund ihres Fabrikanten vermittelt, die Anna hat zuerst nicht gehen wollen, aber dann hat sie dem Rudla – das ist der Friseurgehilfe – gesagt, daß sie abends nicht zum »Rande« kommen kann, weil sie krank sei und sich niederlegen müsse, aber abends ist der Rudla direkt aus dem Geschäft in die Dvořaksche Wohnung gegangen und hat gesehen, daß sie nicht zu Hause sei. Da hat er vor dem Haus die ganze Nacht gelauert – er wollte sie abpassen, bis sie nach Hause kommt. Aber die Anna ist gar nicht nach Hause gekommen, sondern ist früh von ihrem neuen Schamster direkt in die Druckerei gegangen, und erst Mittag hat der Rudla mit ihr sprechen können. Der hat ihr einen großen Krawall gemacht, und sie hat ihm schwören müssen, daß sie abends zu keinem anderen mehr gehen wird, und jetzt will sie wirklich nicht mehr gehen, obwohl sie dreißig Kronen von dem Herrn bekommen hat und er ihr noch einen Ring schenken will, und obwohl die Fanka schon zweimal zu Hause war, eigens um sie zu holen. Die Fanka hat ganz recht, wenn sie sagt, der Rudla könnt doch froh sein, wenn sich die Anna für fremdes Geld schön anziehen kann, wenn sie mit ihm spazieren geht. Aber die Anna ist so dumm und will nicht mehr zu dem Herrn gehen. Die zwei anderen Schwestern, die Katy und die Jarmila, besuchen noch die Schule, aber »die haben sich beide nicht zur Welt«, und die eine, die Jarmila, ist auch sehr häßlich.

      Da ist die Betka eine ganz andere! Die geht immer zur Fanka in die Wohnung, wenn sie ihr Wäsche bringt oder die Mutter sie um Geld schickt, und da nimmt sie der Fabrikant immer auf den Schoß, tätschelt sie und sagt: »Die Betka wird einmal ein großes Luder werden.«

      Diese Prophezeihung wiederholt die Betka dem Jarda mit selbstgefälliger Miene, und Jarda, dem unklar die Überzeugung aufdämmert, daß der Begriff »ein großes Luder«, den er bisher nur als Schimpfwort vernommen hat, etwas sehr Schönes und Erstrebenswertes sein müsse, zweifelt nicht einen Augenblick daran, daß die Betka Dvořak ein großes Luder werden wird. Was die heute schon alles kann! Sie weiß sich aus Papier eine Haareinlage zu falten und ein Toupet zu kämmen, sie lehrt die vor Staunen erstarrten Kampa-Mädel, wie man sich mit einem eben verlöschten Zündhölzchenkopf tiefschwarze und gewölbte Augenbrauen malen kann, sie tanzt alle Tänze, und vor allem weiß sie tausend ungeahnte Dinge, die sie aus den Gesprächen ihrer Schwester aufschnappt.

      Mit diesen Kenntnissen hat die Betka längst allen Kampa-Kindern Respekt eingeflößt.

      Die kleine Luise Hejl, die neben dem hinkenden Adalbert vielleicht die sklavischste Anhängerin Jardas und immer hinter ihm her ist, hat auch für Betka eine Miene der Bewunderung.

      Auch dem Jarda würde die Betka imponieren, wenn er nicht fühlen würde, daß er ihr selbst imponiert.

      Sie fühlte es bewußter als alle anderen, daß er etwas Nobleres ist als die Lausbuben von der Insel Kampa; vor allem gefallen ihr seine besseren Kleider. Anfangs hatte sie ihre Zuneigung für ihn hinter überlegener Kälte zu verbergen versucht, aber als sie gesehen hatte, wie die anderen Mädel ihm nachstellten, wie sie ihn baten und bettelten, daß er mit ihnen Schlittschuh laufen möge, während die anderen Burschen die Mädchen vergeblich aufforderten, wie sie nur ihn jagten, wenn man »Baba« spielte – da hatte sie sich entschlossen, den Kampf um Jarda aufzunehmen. Sie wußte, wie fieberhaft er zuhorchte, wenn sie die Gespräche ihrer Schwestern wiedergab, und so nahm sie ihn beiseite, wenn sie etwas Feines erlauscht hatte, und teilte es ihm, statt es zwecklos coram publico vorzubringen, als ein Geheimnis mit.

      Kam Luise Hejl ihnen nachgelaufen, um bewundernd und stumm den Gesprächen ihrer beiden Idole zuhören zu können, dann verweigerte es ihr Betka: »Ich habe mit Jarda ein Geheimnis zu besprechen.«

      Jarda dreht sich mit einem knappen Blick des Mitleids nach Luise um, die ihnen mit Schmerz, Enttäuschung, Neid und feuchter Trübung der Augen nachschaut.

      Beim Schlittschuhlaufen ist Betka fast immer Jardas Partnerin. Wenn er mit einer anderen schleift oder einer anderen seine beneideten »Halifax«-Schlittschuhe borgt, so geschieht es gewöhnlich nur auf Bitten eines abgeblitzten Bewerbers und unter der Bedingung, daß die von Jarda Ausgezeichnete von nun ab mit dem Abgewiesenen schleifen werde.

      Am Abend pflegt Jarda mit Betka an der Moldauböschung unter der Karlsbrücke zu sitzen, und sie besprechen, wie es die Betka anstellen werde, um ein großes Luder zu werden.

      Oder sie kriechen über das Gitter in die Odkolek-Anlagen und erörtern, in einem Strauch versteckt, ob Betkas Schwester, die Anna, im Recht gewesen sei, wenn sie nicht mehr mit dem Freunde des Fabrikanten gehen wolle, obwohl er ihr dafür Geld gebe.

      4

      Karl Duschnitz hatte nichts mehr zu fürchten gehofft. Das war während seiner Zeit am Meere in all seiner Unruhe die einzige Ruhe gewesen: daß ihm nach jener vielfachen Katastrophe nichts mehr genommen werden, nichts mehr widerfahren könne. Der ihm damals bevorstehende Weg zu dem Flößer war ihm wohl als etwas unendlich Peinliches erschienen, aber schließlich war immerhin in dem äußerlichen Umstand, daß dieser Mann von dem Vertrauensbruch in seiner Stube niemals etwas erfahren könne und ahnungslos die Belohnung als Dank für eine Lebensrettung glücklich entgegennehmen werde, eine Möglichkeit zu diesem Wege gewesen. Doch für Karl Duschnitz war noch Furchtbareres gekommen: die Mitteilungen der Flößersfrau, daß ihr Mann alles wisse und daß sie ein Kind bekommen werde. Ein Kind. Sein Kind. Die schauerlichste Stunde seines Lebens, seine einzige und seine schuftigste Tat, wollte in einem Menschen fortleben, in seinem Kind.

      Daß der Flößer Chrapot so glatt abgefunden war, kam für Karls Gemütszustand natürlich gar nicht in Betracht. Duschnitz fürchtete das Kind, und im wollüstigen Eifer des Sich-selbst-Zerwühlens legte er sich dar, daß es nur die tausend Gulden waren, deren Empfang dem Flößer die Besinnung geraubt hatte; und nun werde ihm das Kind die Besinnung wiederbringen. Das Kind werde den Flößer immer und immer wieder zur zähneknirschenden Erkenntnis zurückrufen, daß er ein Narr gewesen sei, irgendeinen Ertrinkenden mit Mühe vom Tode zu retten und nach Hause zu tragen, damit ihm der gleich bequem sein Weib nehmen, sein einziges Glück vernichten, sein Heim schänden und dann gemächlich fortgehen könne. Duschnitz haßte und fürchtete das Kind.

      Er