Samantha Prentiss

Tödliche Wollust


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Hirn begann sich schwerfällig zu regen. Versuchsweise begann er langsam mal hierhin und mal dorthin zu denken – und seine grauen Gehirnzellen parierten wie gutdressierte Ehemänner. Dann endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, wagte er es schließlich, an die vergangene Nacht zu denken.

      Er hatte mit einem vielversprechenden Flirt begonnen. Daphne hieß der hoffnungsvolle Nachwuchs, dem die Amateureigenschaften noch nicht verloren gegangen waren, und schon nach zehn Minuten hatte Ragnar gewusst, dass mit ihr der Rest des Abends und die Stunden danach gesichert waren.

      Und dann war Garrett Simmons mit seinem völlig idiotischen Vorschlag dahergekommen: »Lass' uns auf Russisch trinken!«

      Der ›Trick‹ beim Russischen war, dass nicht im Sitzen sondern Stehen getrunken wurde. Gewonnen hatte derjenige, der sich zum Schluss noch auf den Beinen halten konnte. Ragnar hatte zwar bis zum Schluss gestanden, sich anschließend aber heimtragen lassen müssen – und Daphne war ihm durch die Lappen gegangen.

      Die Türglocke schlug an, schrill und durchdringend. Augenblicklich vollführte Ragnars Kleinhirn erschrocken einen doppelten Salto rückwärts, und der gleichzeitig aufjaulende Kater brachte seinen Organismus endgültig durcheinander. Aber der Rest seines Verstandes, der das Weiterleben ernsthaft in Erwägung zog, entschloss sich dazu, die Tür zu öffnen.

      Im Flur stand, langbeinig, kurzberockt und mit schwarzen Haaren bis weit über die Schultern, die Augenweide eines weiblichen Wesens.

      Ragnar starrte auf die enganliegende Bluse der faszinierenden Erscheinung und bekam akute Atemnot. Nur unter Aufbringen all seiner geistigen Kräfte schafft er es seinen Blick von den Wölbungen zu lösen und seinen Mund zu schließen. »Ach, du bist es«, stieß er enttäuscht hervor, als er das Gesicht der Frau als Clairé Beauvais identifizierte. »Komm' rein!«

      Ragnar streckte sich, wobei sein Bademantel auseinander klaffte und seine breite, leicht behaarte Brust freigab. Er lächelte jungenhaft und schaute Clairé aus unbekümmert frechen Augen aus.

      Er war Ende Zwanzig, über sechs Fuß groß, breitschultrig und hatte blonde Haare. Er verbreitete Wärme und Sympathie. Aber so, wie er nun dastand, mit traurigen Augen, was auch dem Alkoholkonsum geschuldet war, hatte er reichlich Ähnlichkeit mit einem Bernhardiner.

      »›Fatso‹ hatte Besuch vom ›Chancellor of the Exchequer‹. Der Schatzkanzler Hammond hat ein Problem, mit dem er nicht allein fertig wird«, ließ Clairé ihn wissen, wobei ein spöttisches Lächeln um ihre Mundwinkel spielte. »Aber ich sehe schon: Du brauchst erst einmal etwas gegen deinen Rausch. Na, da komme ich ja genau richtig, wo ich doch Expertin in Sachen Katerfrühstück bin, nicht wahr?!« Sie schritt mit wiegenden Hüften auf die Küche zu, verschwand darin und rief Ragnar nach ungefähr zwei Minuten zu sich.

      Das rohe Eigelb, das ihn dick gesalzen und gepfeffert aus einer Höllenbrühe von Worcestersoße, Zitronen- und Tomatensaft und Sesamöl aus einem Glas zum Übelwerden anstarrte, war eines der Meisterwerke aus Clairés persönlicher Apotheke.

      »So eine ›Prärieauster‹ ist der perfekte Drink nach einer durchzechten Nacht, mein Bester. Ein wahres Wundermittel gegen einen Kater«, bemerkte Clairé und reichte ihm den Göttertrank mit einem vor tiefempfundenem Mitleid triefenden Blick aus ihren geheimnisvollen fast schwarzen Augen.

      »Da wird einem klar, warum dich bislang kein Mann geheiratet hat: Du bist echt die reinste Giftmischerin«, erwiderte Ragnar prustend und erreichte gerade noch rechtzeitig den kleinsten Raum seiner Wohnung. Anschließend fühlte er sich aber in der Tat besser. Sie ist doch die Größte, dachte er bei sich. »Wo ist eigentlich Garrett?«, erkundigte er sich und bekam langsam wieder Lust am Leben.

      »Den habe ich bereits in Marsch gesetzt. Ihm ging es übrigens ebenso schlecht wie dir«, schmunzelte Clairé. »Ihr müsst gestern Abend ordentlich einen gehoben haben.«

      Ragnar nickte vorsichtig. »Selbstlos wie wir sind, opfern wir uns für das Wohl der britischen Spirituosenindustrie auf … Aber glaub' nur nicht, dass uns das jemand danken würde!«

      *

      Eine Stunde später fuhren sie nach ›Llantrisant‹, einer Stadt in der Grafschaft ›Rhondda‹ in Wales, wo sich seit 1975 Sitz und Prägestätte der ›Royal Mint‹ befand.

      Clairé saß am Steuer ihres ›Jaguar F-Type‹, während Ragnar wie ein Häuflein Elend neben ihr hockte. In diesem Moment sah man den beiden wirklich nicht an, dass sie sich – zusammen mit Garrett Simmons – erst vor wenigen Wochen mit der Londoner Unterwelt und Mafia angelegt hatten. Vor über einem Jahr war sie von Leonard Edwards, den sie wegen seiner enormen Körperfülle nur ›Fatso‹ nannte, als freie Mitarbeiterin für den ›MI5‹ angeheuert, weil sie bei geheimen Recherchen, sei es auf politisch-militärischem, gesellschaftlich-diplomatischem oder auch nur kriminellen Gebiet größere Erfolgsaussichten hatte, als andere seiner Mitarbeiter.

      *

      Im Zimmer von Horace Garside, dem Chef der ›Royal Mint‹, saßen bereits vier Männer, als sie zur angesetzten Besprechung hinzukamen. Der schlanke Drahtige mit den roten Haaren war Glen Underwood. Der kleine Gedrungene Brian McLaughlin wurde auch ›Professor‹ genannt. Die beiden waren die absoluten Stars unter den Detektiven zur Aufklärung von Delikten der Falschmünzerei. Außerdem war da noch Garrett Simmons, ein kleiner, dicklicher Mann mit Glatze, der immer so bekümmert aus dem Anzug sah wie ein deprimierter Dackel, dem der letzte Knochen gestohlen worden ist.

      Hinter dem Schreibtisch thronte Horace Garside. Er hatte gerade die Hände aufgestützt und stemmte sich hoch. Mit einer schnellen Bewegung griff er nach seinen beiden Krücken und bewegte sich auf einen Aktenschrank zu, der links von ihm stand. Wo Garsides rechtes Bein hätte sein müssen, war nur noch ein aufgekrempeltes Hosenbein. Den Inhalt hatte er nach einem Unfall auf einem Operationstisch lassen müssen. Aber auch dieser Schicksalsschlag hatte seinem sprichwörtlichen Optimismus keinen Dämpfer verpassen können. Garside holte eine Akte aus dem Schrank, warf sie auf den Schreibtisch und setzte sich wieder. »Es gibt Arbeit für Sie, Gentlemen«, begann er ohne Vorrede. »Ich muss dazu allerdings ein wenig ausholen.« Er sah die Anwesenden mit unverhohlener Besorgnis nachdenklich an. »Ihnen dürfte bekannt sein, dass Adolf Hitler gegen Ende des Zweiten Weltkrieges exzellente Geldfälscher im Lager Sachsenhausen für sich arbeiten ließ. Am 20. Februar 1945 wurde das sogenannte ›Unternehmen Bernhard‹ vom SS-Wirtschaftsverwaltungshauptamt ins KZ-Außenlager Schlier, einem Kommando des KZ Mauthausen verlegt, … Maschinen, Werkzeuge und das inzwischen sehr erfahrene Personal an Fälschern. Doch die Aktion konnte nicht mehr realisiert werden, denn am 6. Mai 1945 erfolgte deren Befreiung durch US-Truppen. Ein gewisser Adolf Burger berichtete den Befreiern von dem Staatsgeheimnis, dessen Zeugen allesamt der Tod erwartete. Allerdings schenkte man ihm keinen rechten Glauben.« Er machte eine kurze Pause und musterte die gespannten Gesichter vor ihm. »Das änderte sich erst 1959, als Taucher auf dem Grund des Toplitzsees im Salzkammergut Kisten mit Pfundnoten und Fälscherwerkzeugen fanden. Die Noten, die Burger und seine Leidensgenossen hergestellt hatten, waren teilweise so gut, dass nicht einmal Kassierer der ›Bank of England‹ sie von echten Noten unterscheiden konnten. Deshalb tauschten wir schon damals die Fünf-Pfund-Note, den am häufigsten gefälschten Geldschein, gegen eine neue Serie aus. Burger sagte auch aus, dass fast alles aus der Fälscherwerkstatt nach Südamerika verbracht worden ist und eine jüngere Fälschergeneration ausgebildet wurde. Und in der letzten Zeit verdichten sich die Gerüchte, wonach eine militante Untergrund-Organisation einen dieser ›Lehrlinge‹ in Argentinien aufgetrieben und in Großbritannien eingeschleust haben soll.«

      »Dieser Adolf Burger muss doch inzwischen steinalt sein«, warf Garrett ein.

      »Burger selbst wurde neunundneunzig Jahre alt und verstarb vor zwei Jahren«, erwiderte Garside abwinkend. »Der Mann, um den es geht, ist unseren Informationen nach zweiundsechzig Jahre alt. Er heißt Wilhelm Kellermann, und es existiert lediglich ein Jugendbild, das ihn am Strand von ›Balneario el Cóndor‹ zeigt. Unsere Spezialisten haben versucht, ein Phantombild anzufertigen, um zumindest ungefähr herauszufinden, wie er heute aussehen könnte. Aber …« Er zuckte mit den Achseln. »Selbstverständlich