Birgit Henriette Lutherer

Uppers End


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– merkte das denn keiner, Fridolin?“

      „Linda, das konnte keiner merken. Du hattest dein gesamtes Quod verbraucht. Für sie warst du tot. Du hörtest auch erst in dem Moment wieder die Stimmen, als ich dir neues Quod eingeflößt hatte. Ich wollte und durfte dich nicht wieder nach Hause bringen. Du hattest noch so viel zu erledigen. Auch Hannah durfte noch nicht zurück in die Heimat. Ihr musstet beide weiterleben!“

      „Aha, deshalb. Jedenfalls lag ich auf einer harten Unterlage, ich glaube in einer Art Schale. Ich wollte endlich atmen, doch es wollte mir immer noch nicht so recht gelingen. Ein ganz klein wenig Luft strömte in meine Lungen. Mehr Luft konnte auch nicht in mich hineingelangen, denn meine Nase und mein Mund waren immer noch mit Glibber verschmiert. Panik stieg in mir auf. Ich musste atmen aber es ging nicht. In meiner Panik wollte ich schreien – das gelang auch nicht. Lediglich ein zartes Wimmern brachte ich zustande. Es wurde nicht gehört. Alle Anwesenden waren zu sehr damit beschäftigt sich um Hannah zu kümmern. ´Wir haben sie wieder´, hörte ich jemanden sagen, ´Gott sei Dank, sie ist wieder bei uns! Psst, seid still! ´. Die Hebamme horchte aufmerksam auf. ´Jetzt seid doch endlich still! Hört ihr das? Dieses Wimmern? ´ Ein Arzt und die Hebamme beugten sich über mich. ´Mein Gott sie lebt! Das kleine Mädchen lebt. Wir haben beide wieder. Schnell holt einen Schlauch und saugt die Nase frei, damit sie atmen kann. Wascht sie, packt sie ins Wärmebett, los schnell! ` Endlich kümmerte sich jemand um mich. Ich war gerettet.

      Linda ist auf der Welt

      „Hannah und ich lebten. Wir brauchten allerdings beide noch zwei Wochen bevor wir wieder einigermaßen bei Kräften waren und in mein neues Zuhause gehen durften. Meinen Vater Erhard durfte ich schon im Krankenhaus kennenlernen. Er besuchte Hannah und mich regelmäßig. Nun war ich gespannt auf meine Geschwister und den Rest der Familie. Bisher hatte ich sie nur durch Hannahs Bauch hören können. Manchmal hörte ich sie lachen, manchmal einfach nur reden und hin und wieder hörte ich sie streiten. Sie kamen mir ganz nett vor. Wenn sie so wären, wie ich sie mir vorstellte, würden wir bestimmt prima zusammenpassen. Natürlich hatte ich damals keinerlei Vorstellung, wie es in Wirklichkeit sein würde. Genauso vermochte ich mir zum Zeitpunkt, als ich im Bauch meiner Mutter war, nicht vorzustellen, diesen Ort jemals verlassen zu müssen. Heute weiß ich es selbstverständlich besser, denn ich habe alle Stadien des Seins durchleben dürfen. Ich weiß, wie es Zuhause ist – in der Zeit ohne Zeit. Ich weiß, wie es ist, als Forschungs-Sein auf Reise zu sein. Ich weiß, wie es ist, als winzige Zelle den Impuls zu spüren, wenn diese Zelle – Ich - beginnt sich immer wieder zu teilen, sich aus diesen immer mehr werdenden Zellen ein Zellhaufen bildet – eine Morula – aus deren Zellen heraus sich wiederum Spezifizierungen bilden – Arme, Beine , Hände, Füße, Ohren, die irgendwann hören können und so weiter. Ich weiß, wie es sich anfühlt, diese Gliedmaßen als zu mir gehörend zu erkennen und sie dann nach meinem eigenen Willen zu bewegen, mir bewusst zu sein, dass ich das tue. Ich weiß sogar, wie es sich anfühlt, wenn das eigene Leben im Bauch der Mutter bedroht wird, obwohl man bestens versorgt zu sein scheint und dann aus dieser Sicherheit heraus vollkommen überraschend angegriffen wird. Ich weiß, wie es ist sich den Weg in die Welt zu erkämpfen, geboren zu werden. Und ich weiß, wie es ist sein Leben zu leben. Für all das bin ich sehr dankbar – selbst dafür, dass dieses Leben irgendwann endet. Es ist seltsam, wenn dieser Zeitpunkt kommt, doch auch gut. Schließlich geht es dann wieder nach Hause, zum Ursprung. Ich weiß aber auch, wie gut es ist, einen ständigen Reisebegleiter zu haben, auf den man sich immerzu verlassen kann – Fridolin. Ich verstehe gar nicht, warum die Menschen solche Angst vor ihm haben. Er ist ein sehr lieber Kerl, der nichts Böses im Schilde führt. Ich kann mir vorstellen, es ist nicht wirklich die Angst vor Fridolin, sondern vielmehr die Angst vor dem Unbekannten. In der Regel vergessen wir, wie und woher wir gekommen sind. Aber ich kann euch versichern: alles ist gut. Die Welt wieder zu verlassen, ich meine zu sterben, ist meiner Erfahrung nach genauso wie geboren zu werden. Du gehst aus einer sicheren, ich meine damit bekannten, vertrauten Situation heraus und in eine neue unbekannte hinein. Du wechselst lediglich den Ort – hey, das ist doch cool, oder? Wenn ich´s mir so recht überlege, ist alles nichts weiter als ein spannendes Abenteuer. Das einzige Manko, das ich als unangenehm empfunden habe war, dass ich es selten, eigentlich nie, selber beeinflussen konnte. Vielleicht war das auch ganz gut so. Ich glaube, ich hab´ mein Umfeld mit meiner Anwesenheit schon genug irritiert.

      Sei´s drum. Zurück zur Geschichte. Ich war jetzt auf der Welt und freute mich

      darauf, bald die Personen kennenzulernen, von denen ich bisher nur die

      Stimmen kannte.

      Alles war so neu, so unbekannt. Es gab so viel zu entdecken. Ich musste mich erst noch daran gewöhnen, dass so vieles anders war als zuvor. Der Klang der Stimmen und der Geräusche war viel klarer und lauter als zuvor im Bauch von Hannah. Auch meine Bewegungsfreiheit war auf einmal eingeschränkt. Ich wollte, genau wie zu Beginn in Hannahs Bauch, meine Bewegungsfähigkeit trainieren. Ich wollte spielen, mich ausprobieren. Doch irgendetwas schränkte mich ein. Plötzlich fühlte sich alles viel schwerer an. Ich war bedeckt von Stoff, Kleidung und Decken, die mich einhüllten. Bewegung fiel mir schwer. Alles war schwer. Hier war alles nicht so einfach. Hier floss nicht einfach so Nahrung in mich hinein. Auch war ich hier weder von Wasser umhüllt, was meine Bewegungen leicht gemacht hatte, noch war ich mit einer sichern Leine verbunden. Ich konnte plötzlich nichts weiter als herumliegen. Okay, ein wenig mit meinen Armen rudern und mit meinen Beinen strampeln gelang mir schon, aber an Drehen und Wenden, geschweige denn Purzelbäume schlagen, war kein Denken – keine Chance. Stunde um Stunde, tagein tagaus lag ich in meinem Bettchen. Nur ab und zu wurde ich dort herausgenommen. Dann wurde ich mit einer Flasche gefüttert an der ein weicher Stopfen befestigt war, der auf seiner Spitze ein kleines Loch hatte. Ich musste daran saugen, damit ich die nährende Milch trinken konnte. Auch das war gar nicht so leicht, sogar richtig anstrengend für mich. Es klappte nicht so, wie es sollte. Es dauerte lange, bis ich wenige Milliliter Milch getrunken hatte. Danach schlief ich direkt vor Erschöpfung ein und wurde erst wieder wach, als sich der Hunger erneut meldete. Ich war sowieso schon ein dürres, viel zu kleines Menschlein und nun gelang auch noch die Nahrungsaufnahme nicht einmal richtig. Es war zum Verzweifeln. Ich wollte Milch trinken, konnte es aber nicht. Ich bekam mit, wie Hannah sich mehr und mehr sorgte. Sie hatte Angst, ich würde verhungern. An dem Tag, als Hannah und ich in mein neues Zuhause gehen durften, kam ein Arzt bei der abschließenden Untersuchung auf die Idee, in meinen Mund zu gucken. Er drückte mit so einem harten Holzstäbchen meine Zunge beiseite und stellte erstaunt fest, dass meine Zunge am Zungengrund angewachsen war. Es war also kein Wunder, dass ich nicht zu saugen vermochte. Noch bevor Hannah etwas sagen konnte, hatte der Arzt ein Operationsbesteck in der Hand und ratsch, schnitt er beherzt das Zungenbändchen ein, sodass sich meine Zunge löste. Das tat höllisch weh, sogar noch viele Tage später. Durch den Schmerz im Mund hatte ich erst recht keine Lust mehr aufs Essen. Ich dachte mir: wenn ich mich nicht mehr mit dem Saugen abmühen muss, dann kann ich dafür mehr schlafen. Außerdem tat mir mein Mund dann auch nicht so sehr weh. Sollten die doch alle machen was sie wollten – war mir doch egal. Ich jedenfalls wollte meine Ruhe haben.“

      „Oh ja, das weiß ich noch, als wenn es gestern wäre“, erinnerte sich Hannah. „Was hab´ ich da für Ängste ausgestanden. Als ich mit dir Zuhause war, bin ich immer wieder zu deinem Bettchen gegangen, habe mich über dich gebeugt und nachgesehen, ob du noch atmest. Du warst so schwach Linda. Ich war voller Sorge um dich. Egal was ich versuchte, damit du genug von deinem Fläschchen trinkst, es fruchtete nicht. Du wolltest einfach nicht trinken und wurdest jeden Tag noch dünner. Eines Tages kam Oma Martha mal wieder zu uns. Sie war so nett und nahm deine Geschwister Ute und Hans für ein paar Stunden zu sich nach Hause, damit ich mich ein wenig ausruhen könnte - sagte sie zumindest. Ich hatte dich gerade auf meinem Arm, als sie an der Wohnungstür klingelte. Ich öffnete ihr und bat sie herein. Martha beäugte dich mit missbilligenden Blicken. „Das dürre Ding wird ja immer mickriger“, mäkelte sie herum. „Hannah, hab` ich dir schon mal erzählt, was wir mit solchen kleinen Dingern damals gemacht haben?“

      „Ich glaub´, das will ich gar nicht wissen“, wiegelte Hannah sofort ab. „Du und deine Ratschläge – da kommt nichts Gutes bei rum. Das weiß ich mittlerweile. Wahrscheinlich habt ihr sie ertränkt, wie die Katzen! Das