Jochen Duderstadt

Schuld und Bühne


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Sie mich bitte nicht", sagte die Staatsanwältin kalt, sah dabei aber nur ihre Geschlechtsgenossin an. "Da Sie schon bei Ihren körperlichen Attributen sind: Ich sitze ja hier ganz in Ihrer Nähe. Der Herr Verteidiger, man sieht es ihm an, säße gern an meiner Stelle (Günter Lux winkte genervt ab), und da ist mit aufgefallen, Sie haben da einen Schatten über dem linken Auge, der nur geringe Ähnlichkeit mit einem Lidschatten hat, aber an ein Hämatom erinnert, das im Abklingen begriffen ist. Da Sie ja hier jede Distanz zum Angeklagten vermissen lassen, erlaube ich mir die Nachfrage, ob das blaue Auge vielleicht Ausdruck dieses Mangels an professioneller Distanz ist. Ich erinnere mich an die Schlagzeile, die ich vorgestern in einer seriösen Zeitung gelesen habe: Gleichstellungsbeauftragte von ihrem afghanischen Freund erschossen."

      

      Sie lächelte verächtlich und unterdrückte einen leisen Schmerz.

      

      "Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten", sagte der Vorsitzende schnell und bedachte die Staatsanwältin mit einem zornigen Blick. Günter Lux fiel auf, dass der Richter sich kurz darauf nervös über das schüttere Haar strich und dass sowohl die Haarfarbe wie auch Haardichte eine beträchtliche Ähnlichkeit mit den Borsten einer betagten Glanzbürste hatte, mit der braune Schuhe poliert werden.

      

      "Na ja", sagte die Kleine unbeirrt, "immer wenn ich mipm blauen Auge in unser Koordinationskomitee komme, ernte ich auch solche Blicke, ich mein, das ist doch klar, dass der Murat noch nicht so weit ist, dass er keine Frauen schlägt. Wenn es passiert, dann gucken sie irgendwie schadenfroh, diese Scheißtypen, Entschuldigung. Das ist natürlich immer einfacher, als da bei dem Opfer von solchen Kriegsgräueln Aufklärungsarbeit zu leisten und mit ihm seine Erlebnisse aufzuarbeiten und so."

      

      Ogottogott, dachte der Kammervorsitzende, wen haben sie uns denn da geschickt.

      

       "Übrigens sind da einige Frauen, muss ich ganz ehrlich sagen, auch nicht besser. Die eine hat auch völlig verständnislos reagiert, wie der Murat sie am Ende von unserer Solidaritätsparty ... , also er war auch ein bisschen betrunken, und da hat er sich ihr ein bisschen fordernd genähert, und da musste diese Bratze dann auch gleich wieder n Vergewaltigungsversuch draus machen - ich mein, das muss man doch auch im historischen Zusammenhang sehen und so. Der Murat ist so in einer voll machistischen Gesellschaft groß geworden, da kann er doch schließlich nichts für, und von daher ist es auch ganz normal, wenn er so reagiert. Ich beschwer mich ja auch nicht, dass ihm mal die Hand ausgerutscht ist, er fühlte sich eben von mir provoziert mit meinen Fragen und weil er sauer war, weil ich mal zu spät kam, als wir uns privat getroffen haben. So, jetzt wissen Sie´s. Aber Sie, Frau Staatsanwältin, wollen das nicht verstehen. Und jetzt will ich zum Punkt kommen: Als der Murat nach Deutschland gekommen ist, kannte er hier keinen, und da hatte er voll die Schuldgefühle, weil er ja desertiert war, wie es so schön heißt. In Wirklichkeit ist er da weg, weil er sich nicht weiter an den befohlenen Massakern beteiligen wollte. Aber das hat ihn so verfolgt, dass er angefangen hat zu trinken, und weil er das als Moslem auch nicht darf, hat er noch schlimmere Schuldgefühle gekriegt, und da musste er noch mehr trinken. Und weil das Geld kostet, hat er sich das durch Einbrüche in den Gartenlauben besorgt. Und dann eben den einen Tag, als ihn einer gesehen hatte und all die Kleingärtner mit Gartengeräten bewaffnet hinter ihm her waren, musste er ein Auto kurzschließen, um zu entkommen. Da hatte er schon so allerhand intus, wie Sie das wohl nennen würden, und da ist er dann erwischt worden. Also ich meine, dass Laubeneinbrüche und ein Auto kurzschließen unter Alkohol und so, dass das jugendtypische Sachen sind, das machen viele in dem Alter so zwischen 18 und 21. Und Reifeverzögerung hat er auch, weil nämlich seine Eltern hat er lange nicht gesehen, er weiß gar nicht, ob die noch leben, er musste ja mit 18 zum Militär, und da hat auch seine Einstellung zu Frauen drunter gelitten, Frau Staatsanwältin, auch wenn Sie jetzt wieder so lächeln. Der Murat ist noch nicht so weit. Und deshalb meine ich, dass er noch Jugendstrafrecht kriegen muss."

      

      Der Kammervorsitzende bedankte sich betreten, schloss die Beweisaufnahme und erteilte dem Pflichtverteidiger das Wort.

      Günter Lux legte sich schwer ins Zeug. Es ging zum einen darum, noch unter den Schutz des Jugendgerichtsgesetzes zu kommen, obwohl der Angeklagte zum Zeitpunkt der Taten schon etwa 20 ½ Jahre alt war, zum anderen und vor allem darum, dass die einjährige Jugendstrafe im Gegensatz zum Urteil der 1. Instanz noch einmal zur Bewährung ausgesetzt wurde. Günter Lux hob insbesondere die Ausführungen des vor dem Auftritt der Vertreterin der Jugendgerichtshilfe angehörten Sachverständigen Dr. Zlatan Pančević zum posttraumatischen Belastungssyndrom des Angeklagten hervor, bagatellisierte die Laubeneinbrüche der Vergangenheit, die seinem Mandanten einen mehrwöchige Arrest eingebracht hatten ("Dummejungenstreiche"), und ritt so lange auf der Reifeverzögerung seines entwurzelten Mandanten herum, bis er sich schließlich selbst glaubte. Schließlich wandte er sich an die Schöffen und beschwor sie in ausgesucht schlichten Worten, dem Angeklagten nicht die Empathie zu versagen, die die Vertreterin der Jugendgerichtshilfe ihm sicherlich nicht ohne Grund hatte zukommen lassen.

      All dies verlieh seinem Schlussvortrag eine derartige Überzeugungskraft, dass das Gericht (unbeeindruckt durch das nachfolgende Plädoyer der Staatsanwältin, die erwartungsgemäß beantragte, die Berufung zu verwerfen, nicht ohne die junge Dame als naive Unterstützerin krimineller Ausländer zu verhöhnen und den Angeklagten als feigen Deserteur zu brandmarken, der das Gastrecht in Deutschland mit Füßen getreten habe) schließlich trotz großer Bedenken, die der Kammervorsitzende auch in aller Breite erläuterte, die Freiheitsstrafe unter Anwendung des Jugendgerichtsgesetzes mit straffen Auflagen zur Bewährung aussetzte.

      Als der Dolmetscher mit der Übersetzung der Urteilbegründung fertig war, huschte ein flüchtiges Siegerlächeln über das Gesicht von Murat Ibrahimović. Der Abschied von Günter Lux war eher frostig-formell. Murat Ibrahimović war der Überzeugung, dass der Verteidiger nichts taugte, weil es ihn umsonst gab. Das Ergebnis schrieb er Frau Weber zu, die er Wochen zuvor mit dem hochbetagten Trick herumgekriegt hatte, sie wolle ja bloß nichts von ihm wissen, weil er Moslem sei. Günter Lux dachte, dass sein Pflichtverteidigerhonorar von 216 € in einem auffälligen Missverhältnis zu der Tatsache stand, dass er seinem Mandanten ein Jahr Knast erspart hatte, Ganz unabhängig davon hielt er ihn für einen Drecksack.

      Drei Wochen später saß Günter Lux mittags in einem Café in der Nähe seiner Kanzlei und las die örtliche Tageszeitung. Er war ein wenig verärgert und besorgt, weil eine seiner Scheidungsmandantinnen, Frau Schünemann, um 12 Uhr nicht zum Besprechungstermin erschienen war, obwohl sie als zuverlässig gelten konnte. Er mochte sie. Es waren ihre Lebensumstände und ihr Naturell, nicht etwa ihr Aussehen, die seine Empathie für Frau Schünemann hervorgerufen hatten. Sie war groß und hager. Ihre kurzen blonden Haare hatte sie schon lange nicht mehr einem Friseur vorgeführt, was ihm zusätzlich gefiel, weil es seiner Ansicht nach große Souveränität verriet. Sie lebte von einem Mann getrennt, der krankhaft eifersüchtig war, der sie geschlagen und betrogen hatte. Und jetzt mit den Einkommensauskünften nicht überkam. Sie verstand politische Anspielungen und Wortspiele. Manchmal schwang in ihren Bemerkungen sogar eine federleichte Anzüglichkeit mit. Sie konnte analytisch denken und mied Sprachschleifen. Wenn es ihr gleichwohl gelang, ihren Anwalt an den Rand seiner Geduld zu treiben, so war es ihre Unentschlossenheit, über die sie sich allerdings – was ihn regelmäßig versöhnte – selbst lustig machen konnte. Günter Lux hatte ihr einmal Feuer angeboten, und zwar mit einem Feuerzeug, das er lange Jahre zuvor in einer Kneipe einer hausierenden Taubstummen abgekauft hatte und aus dem zwei Flammen hervor geschossen kamen. Frau Schünemann hatte die Zigarette sinken lassen und gesagt: "Ich kann mich einfach nicht entscheiden."

      Günter Lux überflog die Todesanzeigen und schlug den Lokalteil auf. Er sah das farbige Foto eines zerknautschten Autos, das ihm von seinem Kanzleiparkplatz her bekannt vorkam, und las folgenden Text:

      Ein polizeibekannter 22-Jähriger verursachte gestern auf der K 411 mit einem gestohlenen Auto