Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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wird Ihr ganzes Leben in sich schließen und kann Ihr ganzes Leben ausfüllen. Auf der andern Seite werden all Ihre Gedanken und alle von Ihnen ausgestreuten Samenkörner, wenn Sie sie auch vielleicht längst vergessen haben, sich verkörpern und wachsen; wer sie von Ihnen empfangen hat, wird sie an einen andern weitergeben. Und wie können Sie wissen, welchen Anteil Sie dadurch an der künftigen Gestaltung der Schicksale der Menschheit haben werden? Wenn die theoretische Erkenntnis und ein ganzes dieser Arbeit gewidmetes Leben Sie schließlich dahin bringen, daß Sie imstande sind, ein gewaltiges Samenkorn auszustreuen, der Welt einen gewaltigen Gedanken als Erbe zu hinterlassen, dann ...‹ Und so weiter; ich redete damals noch viel über diesen Gegenstand.

      ›Und wenn man dabei daran denken muß, daß gerade Ihnen ein solches Leben nicht vergönnt ist!‹ rief Bachmutow im Ton eines erregten Vorwurfs, der sich gegen irgend jemand richtete.

      In diesem Augenblick standen wir auf der Brücke, mit den Ellbogen auf das Geländer gestützt, und blickten auf die Newa hinunter. ›Wissen Sie, was mir eben durch den Kopf gegangen ist?‹ sagte ich, indem ich mich noch weiter über das Geländer bog.

      ›Doch nicht, sich in das Wasser zu stürzen?‹ rief Bachmutow beinah in Entsetzen. Vielleicht glaubte er, diesen Gedanken auf meinem Gesicht gelesen zu haben.

      ›Nein, vorläufig nur eine Erwägung, nämlich diese: ich habe jetzt noch zwei bis drei Monate zu leben, vielleicht vier; wenn ich aber zum Beispiel nur noch zwei Monate übrig hätte und große Lust bekäme, ein gutes Werk zu tun, das eine Menge Arbeit, Lauferei und Mühe erforderte, in der Art wie die Angelegenheit unseres Arztes, so müßte ich in solchem Fall aus Mangel an noch verfügbarer Zeit von dem betreffenden Werk Abstand nehmen und mir ein kleineres, meinen Mitteln entsprechendes Werk suchen (wenn es mich nun einmal so nach guten Werken gelüstet). Geben Sie zu, daß das ein amüsanter Gedanke ist!‹

      Der arme Bachmutow war um mich sehr beunruhigt; er begleitete mich ganz bis zu mir nach Hause und war so zartfühlend, daß er sich gar nicht auf Tröstungsversuche einließ und fast immer schwieg. Als er von mir Abschied nahm, drückte er mir warm die Hand und bat mich um die Erlaubnis, mich besuchen zu dürfen. Ich antwortete ihm, wenn er als ›Tröster‹ zu mir kommen wolle (und auch sein Schweigen würde diesen selben Sinn haben; ich machte ihm das klar), so werde er mich ja dadurch jedesmal erst recht an den Tod erinnern. Er zuckte die Schultern, gab mir aber recht; wir schieden recht höflich voneinander, was ich gar nicht erwartet hatte.

      Aber an diesem Abend und in dieser Nacht wurde das erste Samenkorn meiner ›letzten Überzeugung‹ gesät. Eifrig erfaßte ich diesen neuen Gedanken; eifrig durchdachte ich ihn in allen Einzelheiten und Möglichkeiten (ich schlief die ganze Nacht nicht), und je mehr ich mich in ihn vertiefte, je mehr ich ihn in meine Seele aufnahm, um so größer wurde meine Angst. Sie wuchs schließlich zu furchtbarer Größe heran und wich auch an den folgenden Tagen nicht von mir. Manchmal, wenn ich an diese beständige Angst dachte, überlief es mich eiskalt infolge einer neuen Angst: aus dieser Angst konnte ich ja schließen, daß meine ›letzte Überzeugung‹ in mir sehr fest Wurzel gefaßt hatte und mich jedenfalls zur Ausführung drängen werde. Aber zur Ausführung fehlte es mir an Entschlossenheit. Nach drei Wochen war dies alles zum Ende gelangt, und die Entschlossenheit hatte sich eingestellt, aber infolge eines sehr merkwürdigen Umstandes.

      Ich verzeichne hier in meiner Erklärung all diese Zeitangaben. Mir kann das natürlich gleichgültig sein; aber jetzt (und vielleicht erst in diesem Augenblick) hege ich den Wunsch, es möchten diejenigen, die über meine Handlung ein Urteil fällen werden, klar erkennen, aus welcher Kette logischer Schlüsse meine ›letzte Überzeugung‹ hervorging. Ich habe im obigen soeben die Bemerkung hergeschrieben, daß die endgültige Entschlossenheit, an der es mir zur Ausführung meiner ›letzten Überzeugung‹ gemangelt hatte, bei mir anscheinend gar nicht aus einem logischen Schluß hervorging, sondern aus einem sonderbaren äußeren Anstoß, aus einem sonderbaren, mit dem Gang der Sache selbst vielleicht gar nicht in Zusammenhang stehenden Umstand. Vor zehn Tagen kam Rogoschin zu mir, und zwar in einer ihn betreffenden Angelegenheit, auf die hier näher einzugehen ich für überflüssig halte. Ich hatte Rogoschin früher nie gesehen, aber sehr viel von ihm gehört. Ich gab ihm alle nötigen Auskünfte, und er ging bald wieder weg; und da er nur um dieser Auskünfte willen gekommen war, so hätte unser Verkehr damit beendet sein können. Aber er hatte in hohem Grade mein Interesse erregt, und ich befand mich diesen ganzen Tag über im Bann sonderbarer Gedanken, so daß ich beschloß, am andern Tag zu ihm zu gehen und seinen Besuch zu erwidern. Rogoschin war über mein Kommen offenbar nicht erfreut und deutete sogar ›zart‹ an, wir hätten eigentlich keinen Anlaß, unsere Bekanntschaft fortzusetzen; aber trotzdem verbrachte ich eine sehr interessante Stunde, und wahrscheinlich auch er. Es war zwischen uns ein solcher Gegensatz, daß er uns beiden notwendigerweise auffallen mußte, namentlich mir: ich war ein Mensch, der schon die ihm noch übrigen Lebenstage zählte, er aber überließ sich dem vollen, unmittelbaren Lebensgenuß, dem Genuß des gegenwärtigen Augenblicks ohne alle Sorge um die ›letzten‹ Ergebnisse, um zeitliche Daten oder um irgend etwas, was nicht mit dem Gegenstand seiner ... seiner ... nun meinetwegen seiner Verrücktheit zusammenhing; möge mir Herr Rogoschin diesen Ausdruck verzeihen, meinetwegen als einem schlechten Stilisten, der seine Gedanken nicht recht auszudrücken versteht. Trotz all seiner Unliebenswürdigkeit schien es mir, daß er ein Mensch von gutem Verstand sei und vieles begreifen könne, obgleich er für das, was ihn nicht unmittelbar angeht, wenig Interesse hat. Ich machte ihm keine Andeutungen über meine ›letzte Überzeugung‹; aber ich hatte aus einem nicht recht verständlichen Grund den Eindruck, daß er sie erriet, indem er mir zuhörte. Er schwieg meist; er ist sehr schweigsam. Beim Fortgehen deutete ich ihm an, daß trotz aller zwischen uns bestehenden Verschiedenheit und trotz aller Gegensätzlichkeit doch les extrêmités se touchent (ich erklärte es ihm auf russisch), so daß vielleicht auch er selbst von meiner ›letzten Überzeu gung‹ gar nicht so weit entfernt sei, wie es scheine. Hierauf antwortete er mir mit einer sehr mürrischen, sauren Grimasse, stand auf, suchte mir meine Mütze, tat so, als ob ich von selbst hätte weggehen wollen, und führte mich unter dem Anschein, mir höflich das Geleit zu geben, ganz einfach aus seinem finsteren Haus hinaus. Sein Haus überraschte mich; es hat Ähnlichkeit mit einem Kirchhof; ihm aber scheint es zu gefallen, was übrigens begreiflich ist: ein so volles, unmittelbares Leben, wie er es führt, ist an sich schon zu voll, als daß es einer besonderen Umgebung bedürfte.

      Dieser Besuch bei Rogoschin hatte mich sehr ermüdet. Außerdem hatte ich mich schon vom Morgen an nicht wohl gefühlt; gegen Abend wurde ich sehr schwach und legte mich zu Bett; zeitweilig verspürte ich eine starke Hitze und redete in manchen Augenblicken sogar irre. Kolja blieb bis nach zehn Uhr bei mir. Ich erinnere mich jedoch an alles, worüber wir miteinander sprachen. Aber wenn mir für einige Minuten die Lider zufielen, stand mir sofort Iwan Fomitsch vor Augen, der in den Besitz mehrerer Millionen Rubel gelangt war. Er wußte gar nicht, wo er damit bleiben sollte, zerbrach sich darüber den Kopf, zitterte vor Angst, das Geld könnte ihm gestohlen werden, und beschloß endlich, es in der Erde zu vergraben. Ich riet ihm nun, statt einen so großen Haufen Gold nutzlos in die Erde zu legen, möchte er aus der ganzen Masse einen kleinen Sarg für das erfrorene Kind gießen lassen und zu diesem Zweck das Kind wieder ausgraben. Diesen meinen Spott nahm Surikow mit Tränen der Dankbarkeit auf und schritt sogleich zur Ausführung des Planes. Angeekelt spuckte ich aus und ging von ihm weg. Als ich wieder ganz zur Besinnung gekommen war, sagte mir Kolja, ich hätte gar nicht geschlafen und die ganze Zeit über mit ihm von Surikow gesprochen. Zeitweilig befand ich mich in außerordentlicher Angst und Verwirrung, so daß Kolja in großer Unruhe fortging. Als ich selbst aufstand, um hinter ihm die Tür zuzuschließen, fiel mir plötzlich ein Gemälde ein, das ich vorher bei Rogoschin in einem der düstersten Säle seines Hauses über der Tür gesehen hatte. Er selbst hatte es mir im Vorbeigehen gezeigt, und ich hatte ungefähr fünf Minuten lang davorgestanden. In künstlerischer Hinsicht war an ihm nichts Hervorragendes; aber es hatte in mir eine eigentümliche Unruhe hervorgerufen.

      Auf diesem Bild ist der soeben vom Kreuz abgenommene Christus dargestellt. Ich glaube, die Maler pflegen Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Abnahme von demselben immer noch mit außerordentlich schönem Gesicht darzustellen; diese Schönheit suchen sie ihm sogar bei den furchtbarsten Leiden zu bewahren. Auf Rogoschins Bild aber kann von Schönheit