die Hauptsache, die Hauptsache ist nicht der Gedanke selbst, sondern daß er unter solchen Um ständen geäußert wurde! Hätte das Voltaire oder Rousseau oder Proudhon geschrieben, so würde ich es gelesen und mir eingeprägt haben; aber es hätte mir nicht in dem Grade imponiert. Aber wenn ein Mensch, der bestimmt weiß, daß er nur noch zehn Minuten zu leben hat, wenn ein solcher Mensch so redet, das ist doch etwas Großartiges! Das ist doch die höchste Unabhängigkeit der eigenen Würde; das stellt doch eine direkte Herausforderung dar ... Nein, das ist eine gigantische Geisteskraft! Bei solcher Lage der Dinge zu behaupten, er hätte absichtlich unterlassen, ein Zündhütchen aufzusetzen, das ist eine Gemeinheit, eine Absurdität! Aber wissen Sie, er hat gestern eine listige Täuschung begangen: ich habe nie mit ihm seinen Koffer gepackt und die Pistole nie gesehen; er hat alles selbst gepackt, so daß ich bei seiner Behauptung zunächst ganz verblüfft war. Wjera sagt, Sie würden ihn hierbehalten; ich stehe dafür, daß keinerlei Gefahr droht, um so weniger, da wir alle bei ihm unausgesetzt Wache halten.«
»Wer von Ihnen ist denn in der Nacht bei ihm gewesen?«
»Ich, Kostja Lebedjew und Burdowski. Keller war eine Weile da und ist dann zu Lebedjew gegangen, um bei dem zu schlafen, weil bei uns nichts war, worauf er hätte liegen können. Ferdyschtschenko hat ebenfalls bei Lebedjew geschlafen und ist um sieben Uhr weggegangen. Der General wohnt dauernd bei Lebedjew; jetzt ist er ebenfalls weggegangen ... Lebedjew wird vielleicht gleich zu Ihnen kommen; er sucht Sie, ich weiß nicht weswegen, und hat schon zweimal nach Ihnen gefragt. Sollen wir ihn hereinlassen oder nicht, wenn Sie sich jetzt schlafen legen wollen? Ich will mich auch hinlegen und schlafen. Ach ja, eines wollte ich Ihnen noch erzählen: ich habe mich vorhin über den General gewundert. Burdowski weckte mich zwischen sechs und sieben oder genauer kurz nach sechs, damit ich die Wache übernähme. Ich ging für einen Augenblick hinaus und stieß plötzlich auf den General, der noch so betrunken war, daß er mich nicht erkannte; er stand wie ein Holzpfahl vor mir. Als er dann seine Gedanken einigermaßen gesammelt hatte, fuhr er ordentlich auf mich los mit der Frage: ›Was macht der Kranke? Ich bin hergekommen, um mich nach dem Kranken zu erkundigen ...‹ Ich berichtete ihm dies und das. ›Das ist ja schön‹, sagte er; ›aber ich bin hauptsächlich hergekommen und deswegen aufgestanden, um dich zu warnen; ich habe Grund zu der Vermutung, daß man in Herrn Ferdyschtschenkos Gegenwart nicht alles sagen darf und ... sich vor ihm hüten muß.‹ Können Sie das verstehen, Fürst?«
»Eigentümlich; übrigens kann es uns ja ganz gleichgültig sein.«
»Ja, zweifellos kann es uns ganz gleichgültig sein; wir sind ja keine Freimaurer! Aber ich habe mich höchlichst darüber gewundert, daß der General deswegen in der Nacht hinkam und mich wecken wollte.«
»Sie sagen, Ferdyschtschenko ist weggegangen?«
»Ja, um sieben Uhr; er kam noch für einen Augenblick zu mir heran; ich hatte die Wache. Er sagte, er wolle zu Wilkin gehen und bei dem weiterschlafen; das ist ein arger Trunkenbold, dieser Wilkin. Na, nun will ich gehen! Da kommt auch Lukjan Timofejewitsch ... Der Fürst will schlafen, Lukjan Timofejewitsch; also kehrt, marsch!«
»Nur auf eine Minute, hochverehrter Fürst, in einer meiner Ansicht nach wichtigen Angelegenheit«, sagte der eintretende Lebedjew halblaut in ernstem Ton und verbeugte sich würdevoll.
Er war eben erst zurückgekehrt und noch nicht einmal in seine Wohnung gegangen, so daß er den Hut noch in der Hand hielt.
Sein Gesicht war sorgenvoll und trug einen besonderen, ungewöhnlichen Ausdruck von selbstbewußter Würde.
Der Fürst forderte ihn auf, Platz zu nehmen.
»Sie haben schon zweimal nach mir gefragt? Sie beunruhigen sich vielleicht immer noch wegen des gestrigen Vorfalls?«
»Sie meinen in bezug auf den Jungen, der uns gestern in Erregung versetzte, Fürst? O nein, nein; gestern waren mir meine Gedanken in Unordnung geraten ... aber heute habe ich nicht mehr vor, Ihre Anordnungen irgendwie zu konterkarieren.«
»Konterka ... Wie sagten Sie?«
»Ich sagte: konterkarieren; ein französisches Wort, wie viele andere, das in den russischen Sprachschatz aufgenommen worden ist; aber ich will es nicht sonderlich verteidigen.«
»Sie benehmen sich ja heute so würdevoll und zeremoniös, Lebedjew, und reden so bedächtig«, sagte der Fürst lächelnd.
»Nikolai Ardalionowitsch!« wandte sich Lebedjew an Kolja in einem Ton, der beinah gerührt klang; »ich habe dem Fürsten eine besondere Sache mitzuteilen: sie betrifft eigentlich ...«
»Nun, ja, selbstverständlich, selbstverständlich; was geht es mich an? Auf Wiedersehen, Fürst!« sagte Kolja und entfernte sich sogleich.
»Ich habe den Knaben wegen seiner schnellen Auffassung gern«, bemerkte Lebedjew, indem er ihm nachsah.
»Ein gewandter Junge, nur etwas zudringlich. Es ist mir ein außerordentliches Unglück widerfahren, hochgeehrter Fürst: gestern abend oder heute frühmorgens ... ich bin noch nicht imstande, die Zeit genau anzugeben ...«
»Was ist denn geschehen?«
»Es sind mir vierhundert Rubel aus der Seitentasche abhanden gekommen, hochgeehrter Fürst; eine nette Geschichte!« fügte Lebedjew mit einem sauren Lächeln hinzu.
»Sie haben vierhundert Rubel verloren? Das ist sehr bedauerlich.«
»Und besonders, wo es einen armen Menschen betroffen hat, der ehrenhaft von seiner Arbeit lebt.«
»Gewiß, gewiß; aber wie ist denn das zugegangen?«
»Es ist eine Folge des Weingenusses. Ich wende mich an Sie wie an die Vorsehung, hochgeehrter Fürst. Ich empfing gestern um fünf Uhr nachmittags eine Summe von vierhundert Rubeln von einem Schuldner und kehrte mit dem Zug hierher zurück. Die Brieftasche mit dem Geld hatte ich in der Tasche. Als ich die Uniform mit einem Zivilrock vertauschte, steckte ich das Geld in den Zivilrock, da ich es am Leib behalten wollte, weil ich darauf rechnete, daß ich es noch am selben Abend einer an mich gerichteten Bitte zufolge würde auszuzahlen haben ... Ich erwartete einen Vermittler.«
»Apropos, Lukjan Timofejewitsch, ist das wahr, daß Sie in den Zeitungen annoncieren, Sie gäben Geld gegen Verpfändung von Gold- und Silbersachen?«
»Durch einen Vermittler; mein eigener Name wird dabei nicht genannt, auch meine Adresse nicht angegeben ... Da ich nur ein geringfügiges Kapital besitze und auf das Heranwachsen meiner Familie Rücksicht nehmen muß, so werden Sie selbst zugeben müssen, daß ein ehrlicher Prozentsatz ...«
»Nun ja, nun ja; ich wollte mich ja auch nur danach erkundigen; entschuldigen Sie die Unterbrechung.«
»Der Vermittler erschien nicht. Unterdessen wurde dieser Unglückliche hergebracht; ich befand mich schon nach dem Mittagessen in animierter Stimmung; nun kamen diese Gäste; wir tranken ... Tee, und ... ich heiterte mich zu meinem Verderben an. Dann (es war schon spät geworden) kam dieser Keller und brachte die Nachricht von Ihrem Geburtstag und von Ihrer Anordnung in betreff des Champagners; da ich nun, teurer und hochgeehrter Fürst, ein Herz besitze (was Sie gewiß schon bemerkt haben; denn ich verdiene es), da ich ein Herz besitze, ich will nicht sagen ein empfindsames, aber ein dankbares, worauf ich stolz bin, so kam ich zu mehrerer Feierlichkeit des verbreiteten Zusammenseins und in der Erwartung, daß ich Ihnen meine Glückwünsche würde persönlich aussprechen dürfen, auf den Einfall, meinen alten Hausrock wieder mit der Uniform zu vertauschen, die ich bei meiner Heimkehr abgelegt hatte; dies tat ich denn auch, wie Sie, Fürst, wahrscheinlich bemerkt haben, da Sie mich den ganzen Abend über in Uniform gesehen haben. Bei diesem Kleiderwechsel vergaß ich in dem Zivilrock die Brieftasche ... Es ist eine alte Wahrheit: wen Gott bestrafen will, dem nimmt er zuerst den Verstand. Und erst heute, als ich aufwachte (es war schon halb acht), sprang ich wie halbverrückt auf und griff vor allen Dingen nach dem Zivilrock: die Tasche war leer! Die Brieftasche war spurlos verschwunden!«
»Oh, das ist unangenehm!«
»Ja, es ist wirklich unangenehm; und Sie haben mit richtigem Taktgefühl sofort den zutreffenden Ausdruck