Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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er es schon verstehen.«

      »Also auf diese Art? Wäre es nicht besser, zu sagen, daß ich sie wiedergefunden hätte, und so zu tun, als hätte ich sie bisher nicht bemerkt?«

      »N-nein«, versetzte der Fürst nach einiger Überlegung, »n-nein, dazu ist es jetzt zu spät; das ist zu gefährlich; wirklich, sagen Sie lieber nichts! Und seien Sie gegen ihn freundlich; aber ... tragen Sie dabei nicht zu stark auf, und ... und ... nun, Sie wissen schon ...«

      »Ich weiß, Fürst, ich weiß, das heißt, ich weiß, daß ich es vielleicht nicht werde durchführen können; denn dazu muß man ein solches Herz haben wie das Ihrige. Und überdies bin ich selbst reizbar und empfindlich; er behandelt mich aber jetzt manchmal auch gar zu sehr von oben herab; bald schluchzt er und umarmt mich, und dann auf einmal fängt er an, mich herabzuwürdigen und geringschätzig zu verspotten; na, dann stelle ich flugs absichtlich den Rockflügel zur Schau, hehe! Auf Wiedersehen, Fürst; denn ich halte Sie offenbar auf und störe Sie sozusagen in den interessantesten Gefühlen ...«

      »Aber um Gottes willen: schweigen Sie von der Sache wie bisher!«

      »Mit leisen Schritten, mit leisen Schritten!«

      Aber obgleich die Sache nun erledigt war, war der Fürst nach Lebedjews Weggang doch fast in noch größerer Sorge als vorher. Ungeduldig sah er der morgigen Zusammenkunft mit dem General entgegen.

      Die Zusammenkunft war auf zwölf Uhr festgesetzt; aber der Fürst verspätete sich ganz unerwartet. Bei seiner Heimkehr fand er in seiner Wohnung den General vor, der auf ihn wartete. Er bemerkte auf den ersten Blick, daß dieser unzufrieden war, und vielleicht gerade darüber, daß er hatte warten müssen. Der Fürst bat um Entschuldigung und setzte sich schleunigst hin, aber in einer eigentümlich ängstlichen Art, wie wenn sein Gast von Porzellan wäre und er jeden Augenblick fürchtete, ihn zu zerschlagen. Früher war er dem General gegenüber niemals ängstlich gewesen; dergleichen war ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen. Der Fürst erkannte bald, daß er da einen ganz andern Menschen vor sich hatte als tags zuvor: statt der Verwirrung und Zerstreutheit gab sich eine große Zurückhaltung zu erkennen; man konnte schließen, daß dies ein Mensch sei, der irgendeinen endgültigen Beschluß gefaßt habe. Übrigens war der Gast von einer vornehmen Zwanglosigkeit, obgleich sie mit zurückhaltender Würde gepaart war; am Anfang behandelte er den Fürsten sogar mit einer Art von Herablassung; diese vornehme Zwanglosigkeit findet man ja oft bei stolzen, ungerecht gekränkten Leuten. Er sprach freundlich, wiewohl in seinem Ton etwas Trauriges lag. »Da ist Ihr Journal, das ich neulich von Ihnen entliehen habe«, sagte er und wies mit einer Kopfbewegung nach einem von ihm mitgebrachten Heft hin, das auf dem Tisch lag. »Ich danke Ihnen.«

      »Ach ja; haben Sie diesen Artikel gelesen, General? Wie hat er Ihnen gefallen? Ist er nicht interessant?« erwiderte der Fürst, erfreut über die Möglichkeit, schnell ein Gespräch über einen nebensächlichen Gegenstand anfangen zu können.

      »Ja, interessant ist er, meinetwegen, aber plump und jedenfalls abgeschmackt. Vielleicht wimmelt er auch von Lügen.«

      Der General sprach mit affektierter Würde und zog sogar die einzelnen Worte ein wenig in die Länge.

      »Ach, es ist ja eine so schlichte Erzählung, die Erzählung eines alten Soldaten von dem, was er während des Aufenthalts der Franzosen in Moskau mit eigenen Augen gesehen hat; manches darin ist überaus reizvoll geschildert. Memoiren von Augenzeugen sind ja überhaupt wertvoll, wer auch immer diese Augenzeugen sind; nicht wahr?«

      »An Stelle des Redakteurs hätte ich diesen Artikel nicht abgedruckt; was aber Memoiren von Augenzeugen im allgemeinen anlangt, so findet ein dreister, aber amüsanter Lügner leichter Glauben als ein würdiger, wohlverdienter Mann. Ich kenne gewisse Memoiren aus dem Jahre 1812, die ... Ich habe meinen Entschluß gefaßt, Fürst, und verlasse dieses Haus, das Haus des Herrn Lebedjew.«

      Der General sah den Fürsten bedeutsam an.

      »Sie wohnen ja auch eigentlich hier in Pawlowsk bei ... bei Ihrer Tochter ...«, antwortete der Fürst, der nicht recht wußte, was er sagen sollte.

      Er erinnerte sich, daß der General ja gekommen sei, um sich in einer wichtigen Angelegenheit Rat zu erbitten, in einer Angelegenheit, von der sein Schicksal abhänge.

      »Bei meiner Frau; mit andern Worten in meiner eigenen Wohnung, im Haus meiner Tochter.«

      »Verzeihen Sie, ich ...«

      »Ich verlasse Lebedjews Haus, lieber Fürst, weil ich mich von diesem Menschen losgesagt habe; ich habe mich gestern abend von ihm losgesagt und habe bereut, dies nicht schon früher getan zu haben. Ich verlange Respekt, Fürst, und möchte ihn mir auch von denjenigen Leuten erwiesen sehen, denen ich sozusagen mein Herz schenke. Fürst, ich verschenke mein Herz häufig und werde dabei fast immer betrogen. Dieser Mensch ist meines Geschenkes unwürdig.«

      »Sein Wesen ist nicht frei von inneren Widersprüchen«, bemerkte der Fürst zurückhaltend, »und manche Züge seines Charakters ... aber inmitten dieses bunten Ensembles kann man doch ein Herz wahrnehmen und einen schlauen, mitunter auch amüsanten Intellekt.«

      Daß der Fürst in gewählten Ausdrücken sprach und sich eines respektvollen Tones bediente, schmeichelte dem General offenbar, obgleich seine Miene immer noch manchmal ein plötzlich rege werdendes Mißtrauen bekundete. Aber der Ton des Fürsten klang so natürlich und aufrichtig, daß es unmöglich war, an seiner Echtheit zu zweifeln.

      »Gewiß besitzt er auch gute Eigenschaften«, stimmte der General bei, »und ich bin der erste gewesen, der das offen aussprach, als ich diesem Individuum beinah meine Freundschaft schenkte. Sein Haus und seine Gastfreundschaft benötige ich nicht, da ich eine eigene Familie besitze. Ich will meine Laster nicht entschuldigen: ich bin unenthaltsam; ich habe mit ihm Wein getrunken und vergieße jetzt vielleicht Tränen darüber. Aber ich hatte doch nicht allein des Suffs wegen (verzeihen Sie, Fürst, einem schwer gereizten Mann diese derbe Offenherzigkeit), nicht allein des Suffs wegen mich ihm angeschlossen. Was mich lockte, waren, wie Sie richtig sagen, seine guten Eigenschaften. Aber alles geht doch nur bis zu einer gewissen Grenze, auch die Wertschätzung der guten Eigenschaften; und wenn er auf einmal die Dreistigkeit hat, mir ins Gesicht zu behaupten, er habe im Jahre 1812 als Kind sein linkes Bein verloren und es auf dem Wagankowschen Friedhof in Moskau begraben, so überschreitet das denn doch alle Grenzen und zeugt von einer Respektlosigkeit und Frechheit ...«

      »Vielleicht war das nur ein Scherz, der heiteres Gelächter hervorrufen sollte.«

      »Ich verstehe. Eine unschuldige Lüge, die heiteres Gelächter hervorrufen soll, kann, wenn sie auch plump ist, ein Menschenherz nicht beleidigen. Mancher lügt auch sozusagen nur aus Freundschaft, um demjenigen, mit dem er sich unterhält, ein Vergnügen zu machen; aber wenn aus einem solchen Benehmen Respektlosigkeit durchschimmert und wenn namentlich der Erzähler durch eine solche Respektlosigkeit zeigen will, daß ihm der Umgang mit dem andern lästig wird, dann bleibt einem anständigen Mann nichts anderes übrig, als dem Beleidiger den Standpunkt klarzumachen, sich von ihm abzuwenden und die Beziehungen zu ihm abzubrechen.«

      Der General war, während er sprach, ganz rot geworden.

      »Aber Lebedjew konnte doch im Jahre 1812 gar nicht in Moskau sein, dazu ist er ja zu jung; das ist lächerlich.«

      »Erstens das; aber selbst angenommen, daß er damals schon geboren war, wie kann er mir ins Gesicht behaupten, ein französischer Chasseur habe eine Kanone auf ihn abgefeuert und ihm so zum Amüsement ein Bein abgeschossen; er habe dieses Bein aufgehoben, nach Hause getragen und nachher auf dem Wagankowschen Friedhof begraben. Er sagt, er habe ein Denkmal darüber errichten lassen, mit einer Inschrift, auf der einen Seite: ›Hier ruht ein Bein des Kollegiensekretärs Lebedjew‹, und auf der andern: ›Ruhe sanft, liebe Asche, bis zum frohen Tag der Auferstehung!‹ und schließlich noch, er lasse jährlich für dieses Bein eine Seelenmesse lesen (so etwas zu sagen ist geradezu eine Blasphemie) und fahre zu diesem Zweck jährlich nach Moskau. Und zum Beweis fordert er mich auf, nach Moskau mitzukommen; da wolle er mir das Grab zeigen