Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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an die russische Redensart vom Stock mit den zwei Enden. Oben war wieder Lärm zu hören.

      »Willst du gehen?« fragte Ganja, der sich zu ihr umwandte, als er hörte, daß sie sich von ihrem Sitz erhob. »Warte noch einen Augenblick, und sieh dir einmal dies hier an!«

      Er trat zu ihr heran und warf ein kleines, nach Art eines Briefchens zusammengelegtes Zettelchen vor ihr auf den Stuhl.

      »O Gott!« rief Warja und schlug die Hände zusammen.

      Das Billett enthielt nur wenige Zeilen:

      »Gawrila Ardalionowitsch! Da ich mich von Ihrer freundlichen Gesinnung gegen mich überzeugt habe, so möchte ich Sie in einer für mich sehr wichtigen Angelegenheit um Ihren Rat fragen. Ich würde Sie gern morgen sprechen, Punkt sieben Uhr früh, auf der grünen Bank. Das ist nicht weit von unserem Landhaus. Warwara Ardalionowna, die Sie unbedingt begleiten soll, kennt diesen Platz ganz genau. A.J.«

      »Und dabei soll man auf ihren Charakter Spekulationen gründen!« rief Warwara Ardalionowna, erstaunt die Arme ausbreitend.

      Obgleich Ganja in diesem Augenblick die größte Lust hatte, den Stolzen zu spielen, konnte er doch nicht umhin, sein Triumphgefühl merken zu lassen, noch dazu nach den soeben vorhergegangenen demütigenden Prophezeiungen Ippolits. Ein selbstzufriedenes Lächeln erglänzte unverhohlen auf seinem Gesicht, und auch Warja selbst strahlte vor Freude.

      »Und das schreibt sie gerade an dem Tag, an dem bei ihnen die Verlobung öffentlich bekanntgegeben wird! Dabei soll einer mit ihrem Charakter rechnen!«

      »Was meinst du, worüber sie morgen mit mir reden will?« fragte Ganja.

      »Das ist ganz gleich; die Hauptsache ist, daß sie dich nach sechs Monaten zum erstenmal wieder zu sehen wünscht. Höre auf mich, Ganja: um was es sich auch handeln mag, und wie sich die Sache auch wenden mag, vergiß nicht, daß es für dich wichtig ist! Sehr wichtig! Spiele nicht wieder den Stolzen, mache nicht wieder Fehler, und hüte dich auch davor, ängstlich zu werden! Es hat ihr doch unmöglich entgehen können, zu welchem Zweck ich ein halbes Jahr lang immer hingekommen bin. Und kannst du dir das vorstellen: kein Wort hat sie mir heute davon gesagt; nichts hat sie sich merken lassen. Ich bin nämlich heimlich bei ihnen gewesen; die Alte hat nichts davon gewußt, daß ich da war; sonst hätte sie mich am Ende weggejagt. Ich habe es um deinetwillen riskiert, hinzugehen, weil ich durchaus erfahren wollte ...«

      Wieder erscholl von oben Geschrei und Lärm; mehrere Personen kamen die Treppe herunter.

      »Wir dürfen das jetzt um keinen Preis zulassen!« rief Warja hastig und ängstlich. »Es darf auch nicht die Spur von Skandal vorkommen! Geh hin und bitte um Verzeihung!«

      Aber das Oberhaupt der Familie war schon auf der Straße. Kolja, der die Reisetasche trug, hinter ihm. Nina Alexandrowna stand auf der Freitreppe und weinte; sie wollte ihm nachlaufen; aber Ptizyn hielt sie zurück.

      »Sie fachen seinen Zorn dadurch nur noch mehr an«, sagte er zu ihr. »Er kann ja nirgends hingehen; in einer halben Stunde wird er wieder hierher zurückgebracht werden; ich habe schon mit Kolja darüber gesprochen; lassen Sie ihn nur seine Dummheit begehen!«

      »Was machen Sie denn für Streiche? Wo wollen Sie denn hin?« rief Ganja aus dem Fenster. »Sie können ja nirgends hingehen!«

      »Kommen Sie wieder zurück, Papa!« rief Warja. »Die Nachbarn werden aufmerksam.«

      Der General blieb stehen, wandte sich um, streckte den Arm aus und schrie:

      »Mein Fluch komme über dieses Haus!«

      »Anders als in diesem Theaterton kann er gar nicht reden!« murmelte Ganja und schlug das Fenster zu.

      Die Nachbarn hörten wirklich zu. Warja lief aus dem Zimmer. Als Warja hinausgegangen war, nahm Ganja den Zettel vom Tisch, küßte ihn, schnalzte mit der Zunge und machte einen kleinen Luftsprung.

      Der Skandal mit dem General würde zu jeder andern Zeit spurlos im Sande verlaufen sein. Es waren auch früher schon bei ihm Fälle von plötzlicher Störrigkeit derselben Art vorgekommen, jedoch nur recht selten, da er, im allgemeinen gesagt, ein sehr friedlicher Mensch war und zur Gutherzigkeit neigte. Er hatte wohl hundertmal den Kampf mit der Verlotterung aufgenommen, die sich seiner in den letzten Jahren bemächtigt hatte. Er erinnerte sich dann plötzlich, daß er »der Vater der Familie« sei, versöhnte sich mit seiner Frau und vergoß aufrichtige Tränen. Er verehrte Nina Alexandrowna bis zur Vergötterung zum Dank dafür, daß sie ihm so vieles schweigend verzieh und ihn trotz seines clownhaften, unwürdigen Benehmens immer noch liebte. Aber dieser hochherzige Kampf mit der Verlotterung dauerte gewöhnlich nicht lange; der General war doch eine zu »impulsive« Natur, wenigstens in seiner Art; er konnte gewöhnlich das ruhige Büßerleben in seiner Familie nicht ertragen und revoltierte schließlich dagegen; er geriet dann in einen heftigen Zorn, über den er sich vielleicht selbst im gleichen Augenblick Vorwürfe machte; aber er konnte es eben nicht aushalten: er fing Streit an, begann hochmütige, pathetische Reden zu führen, verlangte seiner Person gegenüber einen maßlosen, ganz unmöglichen Respekt und verschwand schließlich aus dem Haus, manchmal sogar auf lange Zeit. In den letzten zwei Jahren hatte er von den Angelegenheiten seiner Familie nur ganz allgemeine Kenntnis, und nur vom Hörensagen; sich näher darum zu kümmern, hatte er aufgehört, da er dazu nicht die geringste Lust verspürte.

      Aber dieses Mal war bei dem Skandal mit dem General etwas Besonderes hervorgetreten; alle schienen etwas zu wissen, wovon sie sich zu reden scheuten. Der General war erst drei Tage vorher bei der Familie, das heißt bei Nina Alexandrowna, »formell« wieder erschienen, aber nicht in der demütigen, reuigen Stimmung, in der er sich in früheren Fällen immer »zurückzumelden« pflegte, sondern im Gegenteil in außerordentlich reizbarer Verfassung. Er war redselig und unruhig, knüpfte mit jedem, der ihm in den Weg kam, ein eifriges Gespräch an, indem er sich ordentlich auf die Menschen stürzte, redete aber dabei immer über so bunte, unerwartete Themata, daß man gar nicht begreifen konnte, was ihn eigentlich jetzt so aufregte. Zeitweilig war er heiter, meist aber nachdenklich, ohne daß er übrigens selbst gewußt hätte, worüber er nachdachte; auf einmal begann er etwas zu erzählen, von Jepantschins, vom Fürsten, von Lebedjew, brach dann aber plötzlich wieder ab, hörte gänzlich auf zu reden, antwortete auf weitere Fragen nur mit einem stumpfsinnigen Lächeln, ohne übrigens zu bemerken, daß er gefragt wurde, und daß er lächelte. Die letzte Nacht hatte er ächzend und stöhnend verbracht und seine Frau damit halb totgequält, die ihm die ganze Nacht über heiße Umschläge gemacht hatte; erst gegen Morgen war er eingeschlafen, hatte vier Stunden lang geschlafen und war in einem Anfall von sehr starker, seltsamer Hypochondrie erwacht, die dann dazu führte, daß er mit Ippolit in Streit geriet und einen »Fluch über dieses Haus« aussprach. Es war auch aufgefallen, daß er in diesen drei Tagen beständig ein sehr starkes Ehrgefühl bekundete und infolgedessen ungewöhnlich empfindlich war.

      Kolja allerdings behauptete der Mutter gegenüber beharrlich, das sei alles nur Sehnsucht nach Spirituosen und vielleicht nach Lebedjew, mit dem sich der General in der letzten Zeit außerordentlich angefreundet hatte. Aber drei Tage vorher hatte er sich mit Lebedjew auf einmal heftig gezankt und sich in schrecklicher Wut von ihm getrennt; und sogar mit dem Fürsten hatte es eine Szene gegeben. Kolja hatte den Fürsten um Aufklärung gebeten und war schließlich auf die Vermutung gekommen, daß auch dieser ihm irgend etwas nicht sagen wolle. Wenn wirklich, wie Ganja mit größter Bestimmtheit annahm, ein besonderes Gespräch zwischen Ippolit und Nina Alexandrowna stattgefunden hatte, so war es doch merkwürdig, daß dieser boshafte Herr, den Ganja so geradezu eine Klatschschwester nannte, kein Vergnügen daran gefunden hatte, auch Kolja in derselben Weise aufzuklären. Gut möglich, daß er gar nicht ein boshafter »Bube« von der Art war, wie ihn Ganja in seinem Gespräch mit der Schwester geschildert hatte, sondern in anderer Weise boshaft; und er hatte auch Nina Alexandrowna eine gewisse von ihm gemachte Beobachtung wohl kaum einzig und allein zu dem Zweck mitgeteilt, »ihr das Herz zu zerreißen«. Wir wollen nicht vergessen, daß die Motive der menschlichen Handlungen gewöhnlich unendlich viel komplizierter und mannigfaltiger sind, als wir nachher