Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski: Hauptwerke


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Rogoschin immer selbst in der Tasche mitgebracht, jeden Tag ein neues Spiel, und dann wieder mit fortgenommen.

      Die Damen rieten ihm, noch einmal zu Rogoschin zu fahren und noch einmal möglichst stark zu klingeln und zu klopfen, aber nicht sogleich, sondern erst am Abend; vielleicht stelle sich heraus, daß er da sei. Die Lehrerwitwe erbot sich, selbst unterdes vor dem Abend nach Pawlowsk zu Darja Alexejewna zu fahren, ob dort irgend etwas bekannt sei. Sie baten den Fürsten, jedenfalls um zehn Uhr abends noch einmal zu ihnen zu kommen, damit sie für den nächsten Tag Verabredungen treffen könnten. Obwohl sie ihn auf alle Weise zu trösten und ihm Hoffnung zu machen suchten, hatte sich doch völlige Verzweiflung der Seele des Fürsten bemächtigt. In unbeschreiblichem Kummer ging er zu Fuß nach seinem Gasthaus zurück. In dem sommerlichen, staubigen, stickigen Petersburg fühlte er sich wie in einem Schraubstock; er drängte sich zwischen grobem oder betrunkenem Volk durch, betrachtete ohne Zweck die Gesichter und machte vielleicht einen weiten Umweg; es war schon beinah Abend, als er im Gasthaus in sein Zimmer trat. Er beschloß, sich ein Weilchen zu erholen und dann wieder zu Rogoschin zu gehen, wie ihm geraten worden war, setzte sich auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und dachte nach.

      Gott weiß, wie lange er so dasaß, und Gott weiß, woran er dachte. Vieles war es, was ihn ängstigte, und mit Schmerz und Qual war er sich dieser Angst bewußt. Es fiel ihm Wjera Lebedjewa ein; dann dachte er, daß Lebedjew vielleicht etwas von dieser Sache wisse oder, wenn er nichts davon wisse, vielleicht schneller und leichter als er etwas darüber in Erfahrung bringen könne. Dann dachte er an Ippolit und daran, daß Rogoschin zu Ippolit gefahren war. Dann dachte er an Rogoschin selbst: an dessen neuliche Anwesenheit bei der Seelenmesse; dann an die Begegnung im Park; dann auf einmal an die Begegnung hier im Korridor, als er sich damals im Winkel versteckt hatte und mit dem Messer auf ihn wartete. Jetzt fielen ihm seine Augen ein, die Augen, die ihn damals in der Dunkelheit angeschaut hatten. Er fuhr zusammen: der Gedanke, der sich ihm vorhin hatte aufdrängen wollen, kam ihm jetzt plötzlich in den Kopf.

      Dieser Gedanke bestand zum Teil darin, daß Rogoschin, wenn er in Petersburg war, mochte er sich auch zeitweilig vor ihm verbergen, dennoch unter allen Umständen schließlich zu ihm, dem Fürsten, kommen werde, sei es in guter, sei es in schlechter Absicht, vielleicht in derselben wie damals. Jedenfalls konnte Rogoschin, wenn er aus irgendeinem Grund zu ihm kommen wollte, nirgend anderswohin gehen als hierher, wieder nach diesem selben Korridor. Eine Adresse hatte der Fürst bei Rogoschin nicht hinterlassen; also konnte dieser sehr wohl denken, daß der Fürst wieder in dem früheren Gasthaus abgestiegen sei. Jedenfalls war zu erwarten, daß er versuchen werde, ihn hier zu finden ... wenn er großes Verlangen nach ihm trage. Und wie konnte man es wissen, vielleicht trug er wirklich schon großes Verlangen nach ihm.

      So dachte er, und diese Vermutung schien ihm durchaus möglich. Er würde, wenn er sich in diesen Gedanken vertieft hätte, nicht imstande gewesen sein, manche Fragen befriedigend zu beantworten: zum Beispiel warum Rogoschin so plötzlich Verlangen nach ihm bekommen solle, und warum es unmöglich sein solle, daß sie schließlich überhaupt nicht zusammenkämen. Aber der Fürst sagte sich in sehr gedrückter Stimmung weiter: »Wenn es ihm gutgeht, wird er nicht kommen; eher, wenn es ihm schlechtgeht; und es wird ihm gewiß schlechtgehen ...« Infolge dieser Überzeugung hätte er nun allerdings auf Rogoschin zu Hause, in seinem Gasthofszimmer, warten sollen; aber es war, als könne er seinen neuen Gedanken nicht ertragen; er sprang auf, ergriff seinen Hut und lief hinaus. Auf dem Korridor war es schon fast ganz dunkel. »Wie, wenn er jetzt plötzlich aus jenem Winkel heraustritt und mich auf der Treppe anhält?« ging es ihm durch den Kopf, als er sich der bekannten Stelle näherte. Aber niemand trat heraus. Er stieg die Treppe hinunter, ging unter dem Tor hindurch, trat auf das Trottoir hinaus, wunderte sich über den dichten Menschenschwarm, der mit Sonnenuntergang auf die Straße hinausströmte (wie das in Petersburg zur Hundstagszeit immer der Fall ist), und schlug die Richtung nach der Gorochowaja-Straße ein. Als er sich von seinem Gasthaus fünfzig Schritte entfernt hatte, berührte bei der ersten Straßenkreuzung auf einmal jemand in der Menge seinen Ellbogen und sagte halblaut dicht an seinem Ohr:

      »Ljow Nikolajewitsch, komm mit mir mit, Bruder; ich bedarf deiner.«

      Es war Rogoschin.

      Sonderbar: der Fürst begann auf einmal so erfreut, daß er stammelte und die Worte kaum zu Ende sprach, ihm zu erzählen, wie er ihn soeben im Gasthaus auf dem Korridor erwartet habe.

      »Ich war dort«, erwiderte Rogoschin zu seiner Überraschung. »Komm mit!«

      Der Fürst wunderte sich über diese Antwort; aber er wunderte sich erst mindestens zwei Minuten später, nachdem er die Antwort überlegt hatte. Bei dieser Überlegung erschrak er und begann Rogoschin aufmerksam zu betrachten. Dieser war ihm schon fast einen halben Schritt vorausgekommen; er schaute gerade vor sich hin und blickte keinen der Passanten an, wich aber allen mit mechanischer Vorsicht aus.

      »Warum hast du mich nicht auf meinem Zimmer aufgesucht ... wenn du doch im Gasthaus warst?« fragte der Fürst auf einmal.

      Rogoschin blieb stehen, sah ihn an, dachte ein Weilchen nach und sagte dann, wie wenn er die Frage nicht verstanden hätte:

      »Weißt du was, Ljow Nikolajewitsch, geh du hier geradeaus bis dicht an unser Haus, verstehst du? Aber paß auf, daß wir nicht auseinanderkommen ...!«

      Nach diesen Worten ging er quer über die Straße nach dem gegenüberliegenden Trottoir hinüber, sah sich um, ob der Fürst auch weitergehe, und als er bemerkte, daß dieser stehengeblieben war und mit weitgeöffneten Augen nach ihm hinblickte, machte er ihm mit der Hand ein Zeichen nach der Gorochowaja-Straße zu und ging dann weiter, indem er sich alle Augenblicke nach dem Fürsten hinwandte und ihn zum Nachkommen aufforderte. Er war augenscheinlich beruhigt, als er sah, daß der Fürst ihn verstanden hatte und nicht von dem andern Trottoir zu ihm herüberkam. Dem Fürsten ging der Gedanke durch den Kopf, daß Rogoschin wohl nach jemand Ausschau halten und ihn nicht auf der Straße unbemerkt vorbeipassieren lassen wolle und darum nach dem andern Trottoir hinübergegangen sei. »Aber warum hat er denn nicht gesagt, nach wem er Ausschau hält?« fragte er sich. So gingen sie etwa fünfhundert Schritte, und auf einmal begann der Fürst aus irgendeinem Grund zu zittern; Rogoschin sah sich immer noch um, wiewohl jetzt seltener; der Fürst konnte seine Angst nicht mehr ertragen und winkte ihm mit der Hand. Der kam sofort über die Straße zu ihm herüber.

      »Ist Nastasja Filippowna etwa bei dir?«

      »Ja, sie ist bei mir.«

      »Hast du vorhin hinter dem Rouleau hervor nach mir durchs Fenster gesehen?«

      »Ja.«

      »Warum hast du denn ...«

      Aber der Fürst wußte nicht, was er weiter fragen und wie er seine Frage schließen sollte; auch schlug ihm das Herz so heftig, daß ihm das Sprechen schwer fiel. Rogoschin schwieg ebenfalls und blickte ihn wie früher an, das heißt wie in Gedanken versunken.

      »Nun, dann werde ich wieder weggehen«, sagte er auf einmal, indem er sich anschickte, wieder hinüberzugehen; »und du geh für dich! Wir wollen auf der Straße getrennt gehen ... es ist besser so ... auf verschiedenen Seiten ... du wirst schon sehen.«

      Als sie endlich auf den zwei verschiedenen Trottoirs in die Gorochowaja-Straße einbogen und sich dem Haus Rogoschins näherten, wurden dem Fürsten wieder die Beine so schwach, daß er nur mit großer Mühe gehen konnte. Es war schon gegen zehn Uhr abends. Die Fenster in der Wohnungshälfte der alten Mutter standen wie vorhin offen, in der Rogoschinschen Hälfte waren sie geschlossen, und in der Abenddämmerung waren an ihnen die heruntergelassenen weißen Rouleaus noch auffälliger. Der Fürst näherte sich dem Haus auf dem gegenüberliegenden Trottoir; Rogoschin trat von seinem Trottoir auf die Stufen vor der Haustür und winkte ihm mit der Hand. Der Fürst ging zu ihm hinüber und stieg die Stufen hinan.

      »Daß ich nach Hause zurückgekommen bin, weiß jetzt nicht einmal der Hausknecht. Ich habe ihm vorhin gesagt, ich führe nach Pawlowsk, und bei meiner Mutter habe ich es ebenfalls gesagt«, flüsterte er mit einem schlauen, selbstzufriedenen Lächeln. »Wenn wir hineingehen, wird es niemand hören.«

      Er hatte schon den