Tilman Janus

Nachbar-Schaft


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Wagen.

      Ich raste los. Meine nackten Füße flogen über das kalte Steinpflaster. Den eisigen Wind an meiner Brust spürte ich gar nicht.

      Das Taxi fuhr vom Bordstein ab. Ich sprang einfach vor die Motorhaube, todesmutig, setzte alles auf eine Karte.

      Bremsen quietschten. Der Taxifahrer steckte den Kopf aus dem Seitenfenster und fluchte wie ein Bierkutscher. Ich machte einen Satz zur Beifahrertür, riss sie auf und warf mich auf den Vordersitz.

      Der »Graf« saß im Fond des Wagens und starrte mich an.

      »Komm zurück!«, sagte ich. »Bitte! Komm mit mir zurück! Und verzeih mir, was ich getan habe!«

      »Steig aus und lass mich in Ruhe!«, fauchte er mich an.

      Ich dachte gar nicht daran! Schlangengleich wand ich mich über die Lehne des Beifahrersitzes und ließ mich neben meinen »Grafen« auf den Rücksitz fallen. Ich umarmte ihn, küsste ihn, strich sanft über die schwarze Maske.

      »Vielleicht klingt es blöd, so kurz, wie wir uns erst kennen«, murmelte ich. »Aber ich liebe dich!«

      Er sagte nichts mehr. Er küsste mich auch. Ich merkte, dass der Taxifahrer uns verblüfft anstarrte. Es war mir egal.

      »Mein Name ist Dorian«, sagte der »Graf«, als wir das Taxi stehen ließen und zu meinem Wohnhaus zurückgingen. Dann legte er mir wieder einmal sein Jackett über die nackten Schultern. Eng umschlungen stiegen wir die Treppe hinauf.

      »Mach diese Maske ab«, sagte ich zu Dorian, als wir in meinem Wohnzimmer saßen. »Ich will dich so sehen, wie du bist.«

      »Ich weiß nicht, ob du das aushältst«, widersprach er. »Bisher hat es keiner lange ertragen.«

      »Aber ich tue es. Du kannst nicht dein Leben lang maskiert herumlaufen!«

      Er lachte hart auf. »Ich war früher Schauspieler, meistens in der Rolle des >jungen Liebhabers<. Vor drei Jahren, als ich 25 war, hatte ich auf einem Grillabend den Unfall. Jemand hat im Suff Spiritus in den glühenden Holzkohlengrill geschüttet, und ich bekam die Stichflamme ab. Es war ein Glück, dass meine Augen heil geblieben sind. Seitdem arbeite ich im Theater als Inspizient. Da trage ich auch diese Maske, wenn ich keine Lust oder Zeit habe, mich umständlich mit meinem Camouflage-Make-up zu befassen. Oder weil ich das alles hasse.« Er lachte noch einmal sarkastisch. »Die Kollegen nennen mich >Das Phantom der Oper<. Also habe ich mich dieses Jahr mal als >Phantom< ins Karnevalstreiben gewagt.«

      Ich griff noch einmal nach der Maske und zog ganz leicht daran. »Darf ich?«

      »Wenn du willst …«

      Ich nahm ihm die Maske weg und strich sanft über die verbrannte Haut. Was war schon ein bisschen fehlendes Gesicht gegen die Schönheit seines Körpers, gegen seinen perfekten Schwanz, gegen seine unfassbare Fick-Kunst – gegen ihn als Mensch.

      Er lächelte mich an. »Tanz noch einmal für mich, Pol! Du hast mich verzaubert mit deinem Flamenco.«

      Ich legte eine CD mit der passenden Musik auf. Immer noch trug ich nur die schwarze Hose, sonst nichts, fast wie ein jüngerer Joaquín Cortés. Nur die Schuhe zog ich noch an, um mit den Absätzen den richtigen Rhythmus hinzukriegen. Ich tanzte nur für ihn, für Dorian – stolz, biegsam, leidenschaftlich.

      Er sprang auf, hielt mich mitten im Tanz fest, küsste mich. Nun gingen wir in mein Schlafzimmer. Er legte mich auf mein Bett und fickte mich zärtlich, von vorn, wieder so gut, dass ich zerschmolz vor Lust. Ich sah ihm dabei ins Gesicht. In sein echtes, wahres Gesicht.

      Mein Sherpa

      »Dan?«

      »Ja, Herr Platen?«

      »Dan, prüf bitte hierzu die Fakten, okay?« Ich gab meinem Praktikanten den Ausdruck des Artikels aus dem Ressort Politik, den mein zuständiger Redakteur geschrieben hatte.

      »Wieder auf Papier?«, spottete Dan.

      Ich seufzte. »Meiner Meinung nach sieht man in einem Ausdruck einfach die Fehler besser als in einer Datei.«

      »Sie sind hoffnungslos konservativ, Herr Platen«, meinte er frech.

      »Deshalb arbeite ich auch immer noch für eine gedruckte Zeitung und nicht für eine Online-Redaktion«, erwiderte ich etwas genervt. »Außerdem bin ich in Würde 42 Jahre alt geworden, da darf ich wohl ein bisschen altmodisch sein. Du meinst doch sicher >altmodisch< mit dem Wort >konservativ<?«

      Er verzog seinen wunderhübschen Mund zu einem Grinsen, sagte aber nichts mehr, sondern setzte sich an den Tisch neben meinem und begann, den Artikel zu lesen. Dan durfte sich allerhand erlauben bei mir, jedenfalls, wenn ich allein mit ihm war. Das wusste er ganz genau. Bei den Redaktionssitzungen, oder wenn einer der Redakteure in mein Büro kam, benahm sich mein Praktikant vorbildlich. In solchen und ähnlichen Situationen veräppelte er mich nie, hörte aufmerksam zu und schwieg meistens.

      Dan war süße 20 Jahre alt und so schön, dass ich mich oft fragte, wie ich es eigentlich im selben Raum mit ihm aushielt, ohne über ihn herzufallen. Wahrscheinlich nur deshalb, weil ich unaufhörlich unter Stress stand und nie Zeit hatte. Trotz des grassierenden Zeitungssterbens als Chefredakteur für eine gedruckte Regionalzeitung zu arbeiten, forderte meine ganze Kraft. Täglich mussten unsere eigene Zeitung und die Mantelseiten für unsere zugehörigen Lokalzeitungen produziert werden. Ich war verantwortlich für alles, für die inhaltliche Richtigkeit, die juristische Korrektheit, für den sparsamen Einsatz unserer mageren Finanzmittel, für die Anzeigen, für die Herstellung und den Vertrieb, für die Führung und den sinnvollen Einsatz meiner Redakteure und der freien Mitarbeiter, außerdem für die Regelung sämtlicher Streitfälle und Probleme. Und wenn irgendwelche Wutbürger wieder mal die Presse angriffen, musste ich dafür meinen Kopf hinhalten. Kein Wunder, dass mein Privatleben gegen Null ging.

      »Das hier ist Quatsch!«, sagte Dan und guckte mich vorwurfsvoll an, als ob ich selbst den Artikel verfasst hätte.

      »Was ist Quatsch?«

      »Der >Sechstagekrieg< zwischen Israel und den arabischen Staaten fand 1967 statt und nicht 1956! Im Jahr 1956 gab es die Sueskrise.«

      Ich drehte die Augen gen Himmel. »Peinlich, so ein Fehler. Gut, dass du so pfiffig bist, Dan.«

      »Pfiffig? Was ist das denn wieder für ein Wort?«

      »Ein altmodisches!«

      Er musste lachen. Dadurch sah er noch bezaubernder aus als sowieso schon. Er war schlank und nicht besonders groß. Sein schwarz glänzendes Haar fiel ihm verführerisch in die Stirn, und seine großen, dunkelbraunen Augen brachten mich halb um den Verstand. 22 Jahre war ich älter als er, eine ganze Generation lag zwischen uns. Okay, für mein Alter hatte ich mich gut gehalten, mein dunkelblondes Haar war noch ohne Grau, ich wirkte groß, schlank und einigermaßen sportlich. Aber was nutzte das alles? 22 Jahre Unterschied!

      Dan stammte ursprünglich aus Israel, doch seine Eltern waren nach Deutschland gezogen, als er acht Jahre alt wurde. Warum, wusste ich nicht. Er sprach Hebräisch und Deutsch fließend und interessierte sich für alles intensiv, was mit Israel zusammenhing, außerdem für alles andere aus den Bereichen Politik und Geschichte. Ich konnte mich völlig auf ihn verlassen, damit nahm er mir viel Arbeit ab. Seit einem halben Jahr saß er in meinem Chefzimmer, machte sich unglaublich nützlich und brachte meinen Schwanz zu gigantischen Erektionen. Unter dem Schreibtisch. Ich hoffte, dass Dan es nicht merken würde. Wenn er zur Mittagspause ging, versteckte ich mich in meinem kleinen Privatraum neben dem Chefbüro, schloss die Tür ab und holte mir einen runter. Das half wenigstens für ein bis zwei Stunden.

      »Waren Ihre Großeltern eigentlich Nazis, Herr Platen?«, fragte er mich unvermittelt.

      Ich blickte von meiner Arbeit auf und sah Dan ruhig in seine schönen Augen. »Nein, und darauf bin ich sehr stolz. Nicht mal Mitläufer. Meine vier Großeltern hielten nichts von den Nazis und deren Partei. Bei mir gibt es also keine dunklen Familiengeheimnisse.« Ich lächelte