Tilman Janus

Nachbar-Schaft


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Nazi-Familie. Er konnte nichts dafür, klar, aber mir war das immer irgendwie unheimlich.« Er seufzte leise.

      »Bist du deshalb da weggegangen?«

      »Ja, auch! Aber hier bei Ihnen gefällt es mir sowieso besser.« Er lächelte jetzt wieder.

      Ich schaute verträumt in sein wunderschönes Gesicht. »Warum sind deine Eltern von Israel hierher gekommen?«, fragte ich nun doch mal, obwohl es mich natürlich nichts anging.

      »Ihre Vorfahren stammten aus Deutschland, die sind dann nach England geflohen und später nach Israel. Aber sie fühlten sich dort nicht richtig wohl, zu heiß, zu … eben zu fremd. Sie haben oft von Deutschland erzählt, von den Wäldern, den grünen Bergen, den großen Flüssen, den romantischen Dörfern … Das hat mein Vater schon als Kind immer gehört, und es hat ihm keine Ruhe gelassen. Er meinte dann, dass die heutigen Deutschen ja anders seien als die damals. Also die meisten wenigstens. Dann hat er eine Stellenzusage von der Firma hier in diesem Landkreis gekriegt. So sind wir hergekommen.«

      »Und wie gefällt es dir hier in unserem Landkreis?« Ich fragte das mit einem schmerzhaften Ziehen in der Brust. Ja, ich hoffte, dass Dan für immer und ewig mein Praktikant sein würde – wenigstens das, wenn er schon nicht mein Geliebter werden konnte. In dieser Hinsicht hatte ich einfach schwachsinnige Vorstellungen.

      »Ganz gut«, meinte er. »Aber so genau kann ich mich an Israel gar nicht erinnern. Irgendwann will ich natürlich mal hin.«

      »Hast du inzwischen schon einen Studienplatz bekommen?« >Hoffentlich nicht!<, dachte ich selbstsüchtig. Ich wusste, dass er Geschichte und Politik studieren wollte, und dafür hätte er bestimmt in eine andere Gegend ziehen müssen. Die Wahrscheinlichkeit, in der nahen Universitätsstadt einen Studienplatz zu erhalten, war nicht besonders groß.

      Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber hier lerne ich ja auch was, das wird sicher anerkannt werden.«

      »Chef!«, rief mein Sportredakteur, der ohne Vorwarnung ins Büro platzte. »Der neue Fußball-Skandal! Wie viel Platz bekomme ich dafür?«

      »So viel, wie du willst. Du musst dich nur mit deinen Kollegen einigen, wer seine Artikel für dich kürzen will«, gab ich ironisch zurück. Ich konnte mich schließlich nicht um jede einzelne Zeile kümmern.

      Er verließ mit einem unzufriedenem Grunzen den Raum. Gleich darauf klingelte mein Telefon, und danach gaben sich die anderen Redakteure die Klinke in die Hand. Die kostbaren Minuten, die ich mit Dan alleine im Zimmer verbrachte, waren so selten wie aussterbende Schmetterlingsarten.

      An diesem sonnigen Frühlingstag kam ich in der Mittagspause nicht mal zum Wichsen, es war einfach zu viel zu tun. Als ich endlich in mein Kabuff verschwinden wollte, kehrte Dan schon vom Essen zurück. Schicksal!

      Wir arbeiteten so konzentriert, wie es ging bei den dauernden Anfragen meiner Redakteure. Erst abends war die neue Zeitungsausgabe für den nächsten Tag fertig vorbereitet und konnte in den Druck gehen. Wieder mal eine Etappe geschafft! Alle anderen Mitarbeiter waren schon nach Hause gegangen. Dan hatte mit mir zusammen durchgehalten, obwohl er gar nicht so viele Stunden arbeiten sollte. Tat er das für mich? Wohl kaum! Er war einfach besonders interessiert an dieser Arbeit.

      »Feierabend!«, rief ich ihm zu, stand auf und schob meinen Bürostuhl unter den Schreibtisch. »Was sagen deine Eltern, wenn du immer so spät nach Hause kommst?«

      Er prustete beleidigt die Luft durch die süßen Lippen.

      »Was geht meine Eltern das an, wann ich nach Hause komme? Ich bin doch kein Kind mehr! Wenn Wohnungen nicht so teuer wären, hätte ich längst eine eigene.«

      Ich dachte daran, dass ich alleine in einer Dreizimmerwohnung hauste. Mit Freuden hätte ich Dan eines der Zimmer angeboten … aber natürlich tat ich es nicht. Auf keinen Fall wollte ich, dass er dachte, ich alter Esel wäre auf ihn scharf!

      Die Frage stellte sich, wie so oft, wer schwul war und wer nicht. Oder wer es war, aber es nicht zugab. So ähnlich. Meine Redakteure und Redakteurinnen wussten mehr oder weniger, dass ich auf Männer stand. Es war kein Geheimnis, aber auch kein Thema in der Redaktion, wir hatten wirklich anderes zu tun. Sicher waren auch einige meiner Leute schwul oder lesbisch, doch ich kümmerte mich nicht darum. Sex im Büro kam nicht in Frage für mich, und was die anderen taten, ging mich nichts an. Die Zusammenarbeit von allen klappte meistens wunderbar. Kurz gesagt: Ich wusste nicht, ob Dan wusste, dass ich schwul war, und von ihm wusste ich gar nichts in dieser Hinsicht. Leider!

      »Was machen Sie denn eigentlich immer nach Feierabend, Herr Platen?«, fragte Dan. Das hatte er noch nie wissen wollen.

      »Na ja, viel Feierabend ist ja nicht. Essen, Nachrichten gucken, schlafen. So in etwa.«

      »Sie könnten mich ja mal zum Essen einladen!« Sein Blick schien mich zu durchlöchern.

      Ich erschrak fast. »Äh, ja … klar … wenn du willst.« >Vorsicht! Feuergefahr!<, dachte ich.

      »Aber ich bin ja bloß Ihr Sherpa!«, murrte er.

      »Sherpa?« Ich starrte ihn an. Himmel, er wurde von Minute zu Minute schöner und reizvoller.

      »Na ja, wie die Bergführer im Himalaya. Die Sherpas schleppen das Gepäck und die Sauerstoffflaschen, bauen das Zelt auf, kümmern sich um alles, zeigen den Bergtouristen den Weg auf den Mount Everest, passen auf, dass die nicht abstürzen – und den Ruhm ernten dann die Touristen.«

      Ich musste schmunzeln. So etwas beschäftigte ihn also!

      »Die Erstbesteigung des Mount Everest wurde von Edmund Hillary und dem Sherpa Sardar Tenzing Norgay aber zusammen bewältigt«, gab ich zu bedenken. »Sie haben immer betont, dass sie gleichberechtigt waren. Und sie sind lebenslang Freunde geblieben.«

      »Damals vielleicht, das eine Mal. Das war eben noch ein echtes Zweierteam.«

      »Sind wir nicht auch ein echtes Zweierteam?«, fragte ich leise. Plötzlich kochte eine wilde Hoffnung in mir hoch.

      »Weiß nicht«, gab er zurück und sah mich wieder durchdringend an.

      »Ich glaube schon«, meinte ich. »Wenn ich das nicht so deutlich mache, dann nur deshalb, weil …« Mir gingen die Worte aus. Mir, dem Chefredakteur!

      »Weil?« Dan kam näher, immer näher. Er stand jetzt nur noch zehn Zentimeter von mir entfernt. Er war kleiner als ich, sein schwarzes Seidenhaar schien mich an der Nasenspitze zu kitzeln. Ich atmete den Duft seiner jungen Haut ein, sah mein eigenes, winziges Spiegelbild in seinen dunklen Pupillen. Mein Schwanz wuchs, ohne dass ich es verhindern konnte, und ich hatte in dem Moment keinen Schreibtisch zum Verstecken. Bestimmt sah Dan meine Latte, die den Hosenstoff spannte.

      »Weil …« Ich wusste immer noch nicht, was ich sagen sollte.

      »Bin ich nun bloß ein gewöhnlicher Sherpa für Sie – oder ein Tenzing Norgay?« Seine Augen funkelten mich an.

      »Dan … ich …«

      »Sie wissen es nicht?«, unterbrach er mich.

      »Doch!«, erwiderte ich plötzlich ohne Zögern. »Natürlich weiß ich es! Du bist alles für mich! Und du weißt es! Ich bin verliebt in dich, und das weißt du auch. Ganz altmodisch verliebt!« Ich schloss die Augen kurz, weil ich mich zu diesem Geständnis hatte hinreißen lassen. Würde er mich jetzt auslachen?

      Leichte, weiche Arme umfassten mich. Ungläubig öffnete ich die Lider. Dans dunkle Augen schimmerten dicht vor meinen. Ich spürte die Wärme seines Körpers.

      »Hallo, Edmund!«, sagte er leise.

      Ich zog ihn fest an mich. »Mein Vorname ist Ronald«, murmelte ich in meiner geilen Verwirrung.

      »Ronald-Edmund!« Er presste seine süßen Lippen auf meinen Mund.

      Da küsste ich ihn. Wie lange war es her, dass ich einen Mann geküsst hatte? Ich wusste es nicht mehr. Aber ich wusste, dass ich noch nie einen so wundervollen, schönen, jungen Mann geküsst hatte. Meine Zunge glitt in seine hitzige Mundhöhle. Er saugte sie gierig ein.