Juryk Barelhaven

Fürstin des Nordens - Trilogy


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in einem Satz bemerkte, dass etwas Schreckliches passiert war. Jemand war gestorben. Sie merkte, dass sie etwas auf der Spur war und schrieb weiter:

      -Keine Arbeit, kein Lohn

      -Burg im desolaten Zustand; Schmutz, brauchen Menschen um sauber zu machen

      Sie fuhr mit dem Finger über die Wehre. Selbst draußen war dieser Schmutz zu spüren. Widerlich. Baron Mattes Lyren war nicht sehr geschickt gewesen. Er hatte sich zu sehr dem Tierischen hingegeben, hatte gemordet und seine Herde nicht im Griff gehabt.

      Ja, Werwölfe herrschten über die Menschen – aber sie dezimieren nicht die Herde, weil es ihnen gerade in den Kram passte. Wie ein Bauer, der seine Kühe schlug oder ein Reiter, der sein Pferd die Flanken blutig schlug. Das war Irrsinn.

      Er musste dafür bezahlen.

      Die Welt war in einem grässlichen Zustand, fand Claudile. Francesco meinte, die Sanftmütigen würden sie einst erben. Welche Sünden hatten ihre Untergegebenen begangen, dass sie diese verdienten?

      Sie wandte sich um, ging durch ihr Gemach und steuerte auf das Arbeitszimmer zu.

      Menschenmöbel. Papiere, Bücher und Staub.

      Lyren hatte hier gearbeitet.

       Tja, was man so Arbeit nannte.

      Die Tinte in dem Tintenfass war getrocknet, der Federkiel zerbrochen. Mahnungen und Rechnungen lagen zerknüllt auf dem Boden und neben dem Tisch lagen Flaschen. Probeweise hob sie eine auf und besah sich das Etikett. Schnaps. Viele leere Flaschen, einige lagen im Kamin und viele standen auf dem Schrank. Sie rümpfte die Nase und witterte.

      Der Geruch war kaum wahrnehmbar, aber er hatte hier gesessen und getrunken. Viel getrunken.

      Warum trank ein Werwolf Alkohol?

      Hatte er Kummer?

      Im Teppich witterte sie getrocknete Schnapsflecken. An der gegenüberliegenden Wand bemerkte sie Glassplitter und die Reste einer Flasche. Er war kein dezenter Trinker gewesen.

      Der natürliche Ernst dieser Situation litt ein wenig unter dem Umstand, dass gerade jetzt Claudile den Geruch von Blut wahrnahm. Eine frische Spur, jedoch nicht von einem Menschen…

      Harzig. Moschus. Sehr alt.

      Der Werwolf hatte geblutet.

      Interessant, dachte sie und folgte der Spur. Jede weiter sie der Spur folgte, desto mehr vernahm sie auch den beißenden Geruch von Furcht war. Aber nicht menschlich. Tropfen von Tränen. Seine Tränen. Claudile schüttelte es, als die Erkenntnis sich Bahn brach. Ungeheuerlich. Werwölfe weinten nicht. Vielleicht klagten sie, aber nur kurz. Tränen waren ein Zeichen von Schwäche.

      Hatte er Kummer?

      Vor einigen Jahrhunderten hatte das neue Reich die Pax Magnis erzwungen. Sie ließ sich mit den Worten zusammenfassen: „Kämpft nicht, oder wir töten euch.“ Aber wie ließ sich das bewerkstelligen, wenn Werwölfe trauerten?

      Schwäche wird nicht geduldet.

      Warum, Mutter?

      Weil sie sich sonst erheben.

      Mit einem Mal wurde es ihr klar: der Werwolf hatte seine Herde geschunden und sich dann zurückgezogen, um zu trauern. Er hatte Schwäche gezeigt. Auf zweierlei Arten: zuerst hatte er maßlos gewütet und die Herde unruhig gemacht – und sich dann seiner Schwäche ergeben.

      „Du kannst ruhig hervortreten, Fritz“, murrte sie leise und sah zur Tür.

      „Herrin, ich“, begann der alte Mann und verbeugte sich umständlich. „Der Herr ist nicht da“, erklärte er überflüssigerweise.

      „Das Volk steht kurz vor der Revolte“, bemerkte sie spitz und überlegte sich ihre nächsten Worte sehr genau. „Du wirst mir alles sagen.“

      „Da war ein Mädchen“, stammelte Fritz und wich an die Wand zurück, während seine Drüsen Angstpheromone produzierten. Claudile schnupperte und unterdrückte ein Schütteln. Widerlich.

      „Und weiter?“ knurrte sie.

      „Der Herr… war besorgt um sie.“

      „Was hat sie gemacht??“

      „Was sie gemacht hat? Nichts, nehme ich an. Ihre Mutter hatte nur neun Kinder großgezogen, in zwei Zimmern, die einmal genug Platz bieten, um sich ganz auszustrecken. Sie nähte Hemden für zwei Cent das Stück. Die ganze Familie arbeitete rund um die Uhr, so auch die Tochter Alexandra Häberlein. Ja, so war ihr Name“, brabbelte der alte Mann hilflos und sah ihre Krallen bedrohlich näherkommen. „Er wollte sie haben. Sie war die Tochter des Tünchers, er versuchte sie vor ihm zu verbergen doch der Herr wollte sie. Er besuchte die Familie, und…“

      „Still“, mahnte sie und sah sich nochmal um. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Ja, da waren Kratzspuren im Holz, in den Steinen. Überall. Der Baron war unruhig geworden. „Er konnte sie nicht haben“, schloss sie zusammen. „Sie liebte ihn nicht. Wie frustrierend für einen mächtigen Mann, nicht wahr?“

      Sie nahm am Schreibtisch Platz, nahm erneut ihr kleines Buch und notierte:

      -Alexandra Häberlein??

      „Wo ist sie jetzt?“

      Erneut schien er mit sich zu ringen, während seine Augen unstet hin und her gingen. „Vermutlich tot… nach dem Brand…“

      „Brand?“ fragte sie.

      „Das ganze Haus in der Tuchmüllenstraße. Niemand weiß es. Ich schwöre es, Herrin.“

      Erneut schien ihr irgendetwas an dem Haushalter sonderbar, aber sie konnte beim besten Willen nicht sagen, was.

      Francesco trat durch die Tür.

      „Er hat das hier gelesen, oder?“

      Claudile schaute auf. In seinen Händen eine Art Buch, ein zerfleddertes Irgendetwas. Als es Fritz sah, geschah etwas Seltsames: er wurde kreidebleich.

      „Was ist das?“ fragte sie und nahm es entgegen.

      Fritz wollte etwas sagen, schwieg aber schnell.

      Es waren Notizen auf Pergamentpapier, die mit einem einzelnen Faden zusammengehalten wurden. KLÄRUNG DER SINGULARITÄT. Ein Regelwerk für die Töchter der Einen.

      Claudile stutzte kurz, und blätterte.

      Die Erde muss von Wahnsinn, Krieg und Verbrechen befreit und eine Zivilisation ermöglichen werden, in der es geistige Gesundheit und Frieden gibt. Um dies tun zu können, müssen sie dem Einzelnen helfen, sich von seinen individuellen spirituellen Belastungen zu befreien und die dem Menschen grundlegend innewohnende Güte wiederzuerlangen. Zu diesem Zweck müssen wir uns läutern lassen von der Einen, die Alles sieht, die Alles kennt und die das Grün bevorzugt.

      „Es war im Zimmer des Barons“, bemerkte Francesco kühl und maß Fritz mit unverhohlener Verachtung: „Es kommt dir bekannt vor, oder Fritz?“

      Fritz fuhr sich mit der Zunge über die trocknen Lippen. Seine Augen verengten sich und seine angespannte Haltung sprach eine deutliche Sprache.

      Claudile blätterte weiter. Es war nicht nur ein Regelwerk, sondern mehr eine schwulstige, nicht besonders gut verfasste Offenbarung. Eine Zukunftsvision, die keine Werwölfe duldete. Und ein Hohelied auf die „Eine“.

      „Die Eine“, las sie laut vor, „ist das Gesamte der ganzen Kraft, die seit Tausenden von Jahren über alles Grün herrschte. Wir sind nur Staubkörner in ihrem Wesen, aber wenn wir befolgen, was sie befiehlt, wird sie uns vom Joch befreien.“ Sie schloss kurz die Augen und fasste für sich zusammen: „Er las ein Buch, dass eine Welt verspricht, in der die Werwölfe nicht existieren? Wer ist diese „Eine“?

      „Hat dieser Geistliche etwas damit zu tun“, herrschte Francesco den Mann an. „Religionen sind nicht gestattet!“

      Fritz