Alfons Winkelmann

ZWISCHEN ZWÖLF UND MITTERNACHT


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mal zusammengezogen aus zwei anderen Worten, mal altertümelnd, mal völlig neu erfunden. Auf jeden Fall immer: eigenwillig.

      Alfons Winkelmann

      Willkommen im Labyrinth! Diese Geschichte, sie beginnt in Göttingen, spielt jedoch größtenteils in Wien, und zwar im Jahr 1984, ist nicht nur eine wundersame, sondern auch eine wilde. Sie ist eine Liebesgeschichte, ein Verwirrspiel, ein Rätsel. Peter Piechowiak, 25, seines Zeichens arbeitslos, Ex-Student der Mathematik, der Germanistik und bis vor Kurzem Verkaufsfahrer, und Christine Bellinger, 22, Buchhändlerin, sind das Liebespaar. Siegfried Börries, Besitzer eines „Fast-Book-Shops“, wie er seinen kleinen Buchladen nennt, ist Christine Bellingers Chef – er spricht von ihr immer ganz altmodisch als „Fräulein Bellinger“ und ist offenbar hinter ihr her. Weiterhin eine Rolle spielen Elène, Herrn Börries’ Ehefrau, die aber anscheinend unter mysteriösen Umständen ums Leben kommt oder gekommen ist, und eine sexbesessene Baronesse namens Angélique von Lichtblau, die aus unerfindlichen (oder doch offensichtlichen) Gründen hinter Herrn Börries her ist. Hin und wieder taucht ein gewisser Mann auf, Herr Brahms, keine Verwandtschaft, der sich ganz unauffällig und grau gibt und offenbar den Tod Elènes untersucht, außerdem ein anderer Mann, von dem immer nur gesagt wird, er sei ein Glatzkopf mit Brille und würde Zigaretten rauchen.

      Berichtet wird das Ganze von uns, einem Reporterteam, bestehend aus mir, dem namenlosen Erzähler, und meinem Kameramann Willi Be (Sollen wir etwas verraten? Das ist eine Anspielung auf William Burroughs. Aber nicht weitersagen).

      Ach ja, und nicht zu vergessen: Durch die gesamte Geschichte hüpft und springt ein kleines Mädchen mit einem Stoffherzen unter dem Arm – „Anaëlle“ (Weshalb gerade ein Stoffherz? Hat es etwas damit zu tun, dass Anaëlle der Schutzengel der Liebe ist?).

      Diese Geschichte, es ist eine wundersame, eine wilde Geschichte, das vor allem, lassen wir wie kaum eine vor ihr in Göttingen beginnen. In Göttingen, im südlichsten Zipfel Niedersachsens, den Touristen und Besuchern zufolge eine malerische Stadt mit vielen alten Häusern. Aufgemöbeltes Fachwerk allerorten – kriegsunversehrt, trotz und alledem leidend am Karies der Zeit, und die Füllungen alles andere als zufriedenstellend. Gelegen in einem weiten, offenen Tal, fließt die Leine hindurch, ein Fluss, oder vielmehr, ein Flüsschen, und einige Hänge der umliegenden Hügel sind gut mit Neubauten bewachsen.

      Wir erreichen die Stadt von Norden über die Autobahn Hannover-Würzburg. Wir kommen mit einem Auto, denn wir wollen nicht so mir nichts, dir nichts in der Stadt auftauchen und eventuell die Bürger und -innen völlig verschrecken, indem wir einfach so auf der Straße, vielmehr, dem Bürgersteig, erscheinen. Das nicht in unserer Absicht. Obwohl wir es könnten. Sind wir doch völlig substanzlos, unwirklich. Habe zumindest ich nicht mal einen Namen – wozu auch! –, anders als mein Kameramann, der sich Willi Be nennt. Auf ihn, das weiß ich schon jetzt, werde ich im Weiteren gut achtgeben müssen. Ist schließlich er derjenige mit dem Hang zu den wilden Geschichten, zu den ganz wilden. Werden wir das noch erleben, da bin ich mir sehr sicher. Ich kann schließlich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag auf ihn aufpassen. Zunächst jedoch fahren wir ganz normal wie die anderen und verlassen an der Ausfahrt Göttingen/Dransfeld die Autobahn. Ebenso gut hätten wir schon die Ausfahrt Göttingen-Nord nehmen können, haben diese jedoch verpasst. Vor uns liegen die grünen Hügel Groß Ellershausens, und fahren wir jetzt auf einer modisch-praktischen Vierspurstraße in die Stadt, sind uns, zunächst, unserer Umgebung nur halb bewusst. Das deren Fremdheit. Am Ortseingangsschild müssen wir uns in die Grüne Welle einschwimmen lassen und bewundern derweil das grellbunt gemusterte Schuh-Center: Begrüßung mit Stepp und Pop.

      Jetzt und in die Grüne Welle eingetaucht, trauen wir den Vorampeln mit ihren Richtgeschwindigkeiten nicht so recht, stets den rechten Fuß in Bereitschaft, das Pedal zu wechseln. Der dicke Bus vor uns kurvt bemerkenswert geschmeidig in die Haltestellenbucht. Zuvor jedoch die Tankstelle: tankte unser Fahrzeug dort neues Leben. Und weiterfahren. Verbergen sich vor Willi Bes Kameraaugen die Neue-Heimat-Hochhäuser, von denen uns berichtet – Lebenspferche für diejenigen, denen Faustrecht noch immer als alleiniges Recht gilt, für Kinder, die sich in RamboZombiePorno besser auskennen als im Stundenbuch der Liebe. Aber was soll’s uns kümmern. Unser Ziel liegt woanders.

      Und weiterfahren. Neben dem Stadtfriedhof – dort hat der allmächtige EAM-Block (Elektrizitäts-Aktiengesellschaft Mitteldeutschland, mit anderen Worten: Strom- und Energieversorger für die Stadt und den Landkreis. Aber das nutzt denen, die dort auf dem Friedhof liegen, auch nichts mehr.) von gegenüber seine Macht verloren, das Leben ausgeströmt – gebietet uns die Grüne Welle Einhalt: Gedenket der Toten und hupt nicht gar so ungeduldig! Spielt nicht gar so nervös mit dem Gaspedal, eure ärmeren Zu-Fuß-Mitmenschen werden’s euch danken. So gern liegt niemand nicht dort unter nasskaltem oder trockenheißem Rasen. Willi Be hat sich offenbar die städtische Dröhnung schon wieder eingeworfen; können wir endlich unserer Ungeduld freien Lauf lassen, rasen vorüber an der alten Gerichtslinde, deren Blätter unsere Abgase noch geduldig schlucken, am neuen Wohnblock, Posthof genannt, weiße Wände, rotbemalte Fensterlider. Stop dem Atomtod! hängt da ein Bettlaken aus einem Fenster gegenüber. Und weiterfahren, die Normaluhr zeigt elf. So langsam und merken wir nicht, dass unsere Autos selbst jetzt tödliche Geschosse.

      Da, nun über den schmalen Fluss, die Leine, rächt sich für die Eindämmung mit alljährlichem Hochwasser, setzt Straßen und Fußballplatz unter schmutziges Nass. Was alles schon wieder vergessen?

      Und weiterfahren. Die Straße noch immer vierspurig, hat das denn niemals ein End’. Unter unseren Achseln Stadtschweiß. Nun, da die Eisenbahn, über die Straße, der Tunnel darunter Schrecken vieler Frauen, Pinkelhöhle für Heimkehrer aus der kneipenbewehrten Stadt. Aber auch das soll uns nicht weiter kümmern. Überhaupt, dieses Göttingen ist ja bloß der Aufhänger für unsere Geschichte, und was wir hier darüber berichten, das haben wir uns vorher aus Reiseführern angelesen. Wer also mehr darüber erfahren möchte, soll selbst dort nachlesen.

      Auch benötigen wir keinen Stadtplan und kein Hinweisschild, wissen wir so, dass wir uns auf die rechte Linksabbiegerspur einordnen müssen. Aus dem Wohnbunker rechter Hand glotzen uns schwarze Fenster entgegen. Sind das wohl moderne Spukhäuser, Spukpaläste mit Gängen, in denen sich tagtäglich die Bewohner verlaufen. (Das ist natürlich nicht die Wahrheit. Aber es könnte die Wahrheit sein.)

      Ariadne so weit.

      Stinken die Gänge nach Pisse? Putz bröckelt, High-Noon während des Tages und fürchten sie jähes Klingeln an der Wohnungstüre. Wollen alle so schnell wie möglich entrinnen, könnten sie auf dem Klingelbrett draußen vor der Tür Ziehharmonika spielen und brächten dennoch keine Melodie zustand’.

      Und die Ampel zeigt grünes Licht, beinahe einen Radfahrer, einen Studenten wohl, angefahren. Droht er uns mit der Faust, schimpft, wer weiß, ob er des Nachts auch Licht am Rad gehabt hätte. Wissen wir doch, dass Studenten manchmal sehr rechthaberisch sind und behaupten, sogar des Nachts leuchtende Wissenschaftler zu sein. Vorüber am Bahnhof. Stehen wir schon wieder an einer Ampel, schleichen uns durch den Stau an die nächste Kreuzung heran. Hat’s einen kleinen Unfall gegeben, sind sie Gott sei Dank ja alle bestens versichert. Blaulicht rotiert auf dem Dach eines Polizeiwagens, wir werden noch zu spät kommen. Denken nur kurz darüber nach, wie wir uns zu gut ins Blech gewickelt, als dass wir uns im Notfall umarmen könnten. Immerzu Raubritter auf dem Weg zum täglichen Kleinkrieg.

      Weiter geradeaus, biegen wir bald rechts ab, lassen die Universität links liegen. Schrauben uns in die Innenstadt. Suchen. Suchen eine ganz bestimmte Adresse. Ja, wir haben sie gefunden. Nur dass es hier keinen Parkplatz. Kurven wir weiter, in die Burgstraße, vorüber an einem Beerdigungsinstitut, an einem Kopierladen, gegenüber eine Galerie. Nennt sich Apex und ist doch bestimmt seit mindestens fünf Jahren out of time, wie alles hier in dieser Stadt. Finden wir endlich einen Parkplatz vor der Post. Parkscheibe in bester Ordnung.

      So vieles versäumt unterwegs, was uns allerdings auch nicht interessierte. Nicht der Biologische Garten, nicht das Deutsche Theater, nicht die alte Laterne auf dem Theaterplatz. Nun Sommer: Der Boden rings umher