haben treffen wollen. Den wir uns für unsere Reportage ausgesucht haben. Von dem wir hoffen, dass er uns nicht im Stich lassen wird (Er wird uns nicht im Stich lassen. So viel sei schon jetzt verraten.).
Aufbruch
„Nachdem sie mich jetzt entlassen haben“, erzählt Peter Piechowiak, „besitze ich noch genau zweitausendfünfhundert Mark. Natürlich überlege ich mir, was ich tun kann. Der Gedanke, mich beim Arbeitsamt zu melden, behagt mir nicht.“
Ein Passant hat das Kamerafeld gekreuzt. Willi Be schreit uns ärgerlich zu, er müsse diese Einstellung noch einmal drehen.
„Nachdem sie mich jetzt entlassen haben“, erzählt Peter Piechowiak, „besitze ich noch genau zweitausendfünfhundert Mark. Natürlich überlege ich mir, was ich tun kann. Der Gedanke, mich beim Arbeitsamt zu melden, behagt mir nicht.“
„Gibt es denn in Göttingen nicht auch eine Arbeitslosenselbsthilfe?“
„Natürlich. Die Überlegung, es dort zu versuchen, ist gewiss nicht die schlechteste. Die meisten meiner Bekannten haben mir sogar dazu geraten. Aber es widerstrebt mir.“
„Können Sie das näher erläutern?“
Sitzen wir inzwischen im Cheltenham-Park (Cheltenham: Partnerstadt Göttingens in England). Hinter einem kleinen Häuschen liegt ein verträumter Teich neben dem Wall, unter vielen hohen Bäumen. Ein malerischer Anblick, könnte ich mir vorstellen.
Klappe: Peter Piechowiak die zweite.
„Ich habe sogar einmal die Telefonseelsorge angerufen. Die Frau am Apparat bemühte sich auf geradezu vorbildliche Weise, mich zu einer eigenen Entscheidung zu führen. Das lernen die nämlich da.“
„Aha. Und, hat sie?“
„Sie fragte mich: ‚Wollen Sie wirklich aufs Arbeitsamt und Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe beantragen und warten, dass man etwas für Sie tut?‘“
„Eine Zwischenfrage, Herr Piechowiak. Was sind Sie von Beruf?“
„Von Beruf?“ Peter Piechowiak lächelt in Willi Bes Kamera. „Das ist ja das Elend. Was heißt, Elend! Das ist ja die Freiheit. Genau genommen habe ich keinen Beruf. Ich bin Student der Germanistik, der Chemie, der Mathematik, der Philosophie und was weiß ich nicht noch alles. Aber eben halt nix, das bürgerlich anerkannt wäre.“ Erneut lächelte Peter Piechowiak in Willi Bes Kamera. Haben sich eine Menge Göttinger und -innen um uns versammelt. Eine Kamera zieht die Welt an sich und ist die Welt in dieser Provinzstadt, die ihre Filmvergangenheit restlos und blind verspielt hat.
„Wie kann ich das verstehen?“
„Tja, wie Sie das verstehen können – woher soll ich das wissen? Aber Sie dürfen mich, wie vereinbart, heute gern begleiten.“
Willi Be, jetzt sind wir dran. Jetzt müssen wir uns einen Tag ausdenken. Nehmen wir an, wir hätten Piechowiak an einem Dienstag um Viertel nach elf Uhr getroffen, dann wäre das erste Gespräch vermutlich gegen fünf vor halb zwölf schon wieder beendet.
Willi Bes Kamera verfolgt Peter Piechowiaks Turnschuh-Schritt, das graue, eckige Straßenpflaster, wechselt die Perspektive, fährt zu dessen Händen mit dem Dreckrand unter den Fingernägeln hoch, zu dessen grobgestrickten blauen Pullover – eigentlich viel zu warm für diesen Sommertag –, zu dessen Kinn, dessen Mund, dessen Nase, dessen Augen. Peter Piechowiak nicht im Geringsten irritiert. Um uns herum Stadtdröhnen: stinkende Busse, Schritte, Rufen, Lachen, Schreien, Fahrradklingeln. Music in front of some shops. Gäbe es keine Schaufenster, flögen uns allerorten Jeans und T-Shirts, Schaufensterpuppen, Ringe, Uhren, Fischbrötchen, Videorekorder, Apfelsinen, Bücher um die Ohren.
So eine Weile lang weiter, immer weiter, zehn Minuten, zwölf Minuten, eine Viertelstunde lang, eine weitere Viertelstunde. Und noch eine. Einmal die Weender Straße hinauf, einmal hinunter. Noch einmal hinauf, noch einmal hinunter. Immer wieder Blicke in Schaufenster, halb neugierig, halb interesselos. Hin und wieder lässt er sich auf eine Frage meinerseits ein.
„Fahrer“, sagt er irgendwann vor einem Schaufenster. „Sachen ausgeliefert. An Geschäfte. Auch an das hier.“ Eine Buchhandlung. „War manchmal anstrengend, wenn die Sachen schwer waren.“ Weitergehen. „Firma war wohl zu klein. Aufträge zurückgegangen. Haben mich nicht mehr gebraucht.“ Ganz sachlich, ohne Bitterkeit. „Und da stehe ich jetzt also mit zweitausendfünfhundert Mark. Aber das habe ich, glaube ich, bereits erwähnt.“
Kommen wir an einem Straßenmusikanten vorbei. Jemand, der schlecht Gitarre spielt und noch schlechter singt. Schlager. Grinst Peter Piechowiak und sagt, er könne das viel besser. Übt er fast täglich zu Hause. Alle möglichen Lieder, erzählt er. Vielleicht, so fügt er hinzu, könne er sich damit ja noch einen kleinen Nebenverdienst sichern. Aber nicht hier. Hier würde das nichts einbringen. Und so gehen wir weiter, und Willi Be lässt die Kamera laufen, ununterbrochen.
Zwölf Uhr dreißig. Peter Piechowiak betritt eine Fleischerei. Bestellt das angebotene Mittagessen: Rotkohl, Bratwurst, Püree. Mikrowellenheiß. Stellt er sich an einen schmalen kunststoffweißen Tisch und isst. Ruhig, ohne Hast, gemächlich, habe Zeit, viel Zeit. Hat uns die Verkäuferin extra freundlich angeschaut wegen der Kamera. Hat sie extra deutlich gesprochen: „Vorsicht, der Teller ist heiß.“ Sprang ein Junge hoch und winkte, jetzt fürs Leben geadelt. Wird seinen Enkeln noch erzählen, dass er im Fernsehen. Wir beide, Willi Be und ich, wir brauchen nichts zu uns zu nehmen, substanzlos, wie wir sind. Mag die Kamera auch noch so schwer sein, Willi Be macht es nichts aus. Er trägt sie, als würde sie schweben.
„Manchmal habe ich Lust, etwas völlig Verrücktes zu tun“, sagt Peter Piechowiak zwischen zwei Bissen. Hier wird Willi Be natürlich sofort hellhörig.
„Und was?“
„Das weiß ich doch jetzt noch nicht“, entgegnet er, kaut, schiebt etwas Rotkohl nach, kaut weiter.
„Machen Sie sich keine Sorgen, von was Sie demnächst leben sollen?“
Peter Piechowiak hält inne, jetzt offenbar irritiert, schüttelt den Kopf.
„Nein, merkwürdigerweise nicht. Ich mache mir keine Sorgen, vertraue meinem Glück, das mich bisher noch nie im Stich gelassen hat. Sehen Sie, bevor ich Auslieferungsfahrer wurde, war ich auch völlig abgebrannt. Zufällig hörte ich im Bus, mit dem ich zum Rathaus, zum Sozialamt, fahren wollte, jemanden erzählen, diese Firma, die jetzt mehr oder minder pleite ist, suche einen Fahrer. Bin ich also gleich hin und habe die Stelle bekommen. So einfach war das damals.“
Er wischt sich mit der Serviette den Mund. „Warum sollte das jetzt anders sein?“
Willi Be und ich hatten uns beim Herkommen darauf geeinigt, dass schönes Wetter sein soll. Daher hat es Peter Piechowiak auch nicht nötig, noch einmal in die Fleischerei zurückzugehen, um seinen Regenschirm zu holen, nachdem wir sie verlassen haben.
Die Jacobi-Kirchturmuhr schlägt die volle Stunde. Die akademische Buchhandlung nebenan zieht sich aus dem nach wie vor brodelnden Trubel vornehm akademisch zurück und schließt ihre Glastüre. Wahrscheinlich stehen die Studenten in der Mensa mittlerweile Schlange. (Aber auch das zu erzählen ist nicht unsere Aufgabe.) Wir heften uns weiterhin an Peter Piechowiaks abgelatschte Turnschuhfersen. Wenn Willi Be gehofft hat, dass er ein gewisses Interesse an den Pornos im Royal zeigen würde, so sieht er sich getäuscht. Er hätte Peter Piechowiak liebend gern dort beobachtet, wie er sich einen runterholt, während auf der Leinwand Bumsfrauen vor sich hin stöhnen, Muskelpakete hinter ihrem Arsch – alles natürlich nur zu Reportagezwecken.
Stattdessen: Stehenbleiben vor dem Schaufenster eines Reisebüros. Von einem Plakat strömt uns der Amazonas entgegen. Traumreise nach Brasilien. Dorthin fahren, so sagt Peter Piechowiak zu uns, vielleicht sogar dort leben, das könnte ein Traum sein. Vielleicht. Er habe sogar einmal angefangen, auf eine solche Zukunft zu sparen. Bevor er sich überlegt habe, dass das naturgemäß kompletter Blödsinn sein müsse. Denn Peter Piechowiak hat niemals Portugiesisch gelernt, erst recht kein brasilianisches.
Trotzdem: In den Ufersümpfen müsse noch