Daneben ein Fenster, durch das die Flaschen vor und hinter der Theke zu sehen sind. Die Kneipe jedoch interessiert uns nicht.
Wir donnern über eine Eisentreppe in einen Raum, an dessen weißgetünchten Wänden für kunstsachverständige Göttinger Bürger beeindruckende Gemälde hängen. Peter Piechowiak hingegen schaudert beim Anblick der wüsten Pinselstriche – wie mit einem Malerquast, den ein Lehrling – Willi Be: ein Azubi – am ersten Lehrtag in die Hand gedrückt bekommen hat, zusammen mit dem Auftrag, alle vorhandenen Farben gleichzeitig auszuprobieren. Er bevorzugt stille Heidelandschaften und Bilder von Mädchen mit langem blondem Haar. – Willi Be: David-Hamilton-Gedächtnis-Kitsch. Dass Peter Piechowiak ein solches Mädchen, springlebendig, einmal treffen würde, kann er gegenwärtig beim besten Willen noch nicht ahnen. Oder? –
Da sitzt an einem runden Tisch hinter der Glastür ein nicht weiter bemerkenswerter Mann. Lächelt Peter Piechowiak an. „Möchtest du auch zur Lesung?“ Der nickt. „Kostet zwei Mark Eintritt.“
Peter Piechowiak legt ein Zweimarkstück in die Pappschachtel neben ein paar anderen. Wir als Presseleute können kostenlos hinein. Obwohl wir ja gar keinen Bericht über diese Lesung verfassen werden. Aber das weiß der Mensch an der Kasse nicht. „Setzt euch irgendwo hin“, leutseligt der Mann.
Links in der Ecke, auf einem roten Klappstuhl, sitzt Walter Traunstein, umringt von ungefähr zehn anderen Leuten, die gerade laut lachen. Nur ein Wort ist bis zu Peter Piechowiak vorgedrungen: „Wien.“ Wien. Was weiß er von Wien? Stadt in Österreich, Hauptstadt. Wien. Die anderen lachen wieder, er lacht mit, unwissend, um was es gerade geht. Sieht sich neugierig um. Direkt neben ihm ein Mann mit einer Glatze und einer dunklen Brille mit runden Gläsern. Er trägt einen altmodischen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte, und Peter Piechowiak fragt sich schon, weshalb dieser Herr hier ist, der so gar nicht zu den anderen Zuhörern passen will. Er ist übrigens auch der Einzige, der nicht mitlacht, sondern sich offenbar sehr genau umschaut, die anderen Leute, sogar Walter Traunstein, mustert, als ob er sie bis in deren tiefstes Inneres erkennen wollte. Als sein Blick an Peter Piechowiak hängenbleibt, stutzt er, und dann spielt ihm tatsächlich so etwas wie ein Lächeln um die Lippen, und er nickt ihm sogar zu. Aufmunternd.
Der Blick und das Lächeln irritieren Peter Piechowiak so sehr, dass er wegsieht, zu einer Frau hinüber, deren Alter er nicht einschätzen kann. Ist sie Anfang zwanzig oder doch schon Anfang dreißig? Oder sogar noch älter? Nein, das kann nicht sein. Auf jeden Fall sieht sie besser aus als die wild hingepinselte Frau hinter ihr auf dem Bild an der Wand. Peter Piechowiak wird das Gefühl nicht los, sie schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Sie hat kurzes, dunkles Haar, und ihre dunkelblauen Augen ruhen scheinbar traurig auf Peter Piechowiaks Gesicht. Seine Gedanken werden jedoch von einer Bemerkung des Vortragenden abgelenkt.
„Ich glaube, ich fange jetzt an“, sagt Walter Traunstein und schiebt einige Zettel zusammen – nervös?
„Ach, was“, sagt der Mann am Eingang. „Wir haben doch erst kurz nach neun. Warten wir noch ein paar Minuten.“
„Na gut.“ Wenig überzeugt.
Peter Piechowiak mustert ihn halblaut. Er mag keine Leute mit Bart, erst recht keine mit Vollbart. Unwillkürlich streicht er sich über die eigenen stoppeligen Wangen. Auch mal wieder fällig … Er muss herausfinden, wie alt die Frau ihm gegenüber ist. Bei der schäbigen Beleuchtung jedoch ein Ding der Unmöglichkeit. So schäbig ist die Beleuchtung, dass die Frau sogar irgendwie verschwommen wirkt, wie hinter einer Glasscheibe oder unter Wasser.
„Wien“, hallt es erneut in seinen Ohrmuscheln. Und irgendetwas in der Weise, wie es klingt, deutet darauf hin, dass es sich dabei um etwas ganz Besonderes handeln muss. Die Lesung beginnt. Sie ist erstaunlich lang, Willi Be gähnt bereits seit einer Viertelstunde, aber im Anschluss erkennen wir Peter Piechowiak nicht mehr wieder. Wie verzaubert von den Geschichten, die da vorgelesen wurden, erscheint er. Trancegehen, wir müssen ihn gelegentlich davor bewahren, von einem Auto angefahren zu werden. Er duldet es, dass wir in seine enge Wohnung mitkommen. Von oben dröhnen die neuesten Disco-Songs und lassen Herz und Lungen und Magen vibrieren. Jetzt greift er zum Telefon, wählt und sagt: „Hallo? Hier Peter. Ich habe mich entschieden. Du kannst die Wohnung haben.“ … „Was soll das heißen: Weißt du, wie spät es ist? Bist du nicht froh?“ … „Was ich mache? Erst mal ’ne ganz große Reise.“ … „Kann ich genau sagen: nach Wien.“ … „So? Das ist doch Wahnsinn? Fahre ich, oder fährst du?“ … „Nein, ich bin’s leid, ganz einfach leid, mich irgendwo, irgendwie für umsonst zu engagieren. Und dieses Arbeitslosenselbsthilfezentrum kann mir den Buckel runterrutschen.“ … „Jetzt sei doch nicht gleich beleidigt … ach, ihr … ihr selbstlos Engagierten! Lebt doch gut von denen, die ihr betreut … ja, ja, ihr wollt nur alles Gute, und davon lebt ihr gut.“ … „Verdammt, willst du nun die Wohnung oder ja? Kannst mit den Sachen machen, was du willst. Wirf sie auf den Sperrmüll oder behalte sie.“ … „Ja, ich weiß, dass das Regal auseinanderfällt. Ist mir doch egal. Ich fahre morgen los. Gute Nacht!“
Er knallt den Hörer auf die Gabel, packt ein paar Sachen zusammen, so viel, wie halt in einen Rucksack hineinpassen. Dann geht er, schließt die Wohnungstür hinter sich ab und wirft den Schlüssel in seinen Briefkasten. „Die hat meinen Briefkastenschlüssel“, erklärt er uns, bevor er hinaus auf die Straßen geht. Noch mitten in der Nacht ist es, und auf dem Weg zum Bahnhof begegnet uns so gut wie kein Mensch. Willi Be wieder hellwach und ganz in seinem Element. Die Kamera fährt die Straße hinauf, hinab, an den Hausfassaden entlang, so schnell, dass sie völlig verschwommen werden in dem Schein der Laternen. Dann wippt das Kopfsteinpflaster unter uns, Peter Piechowiaks Beine steigen auf, fallen herab. An einer Straßenecke, da haben wir das Gefühl, als ob uns jemand beobachten würde. Willi Be richtet die Kamera dorthin, aber zu dunkel ist es, als dass wir etwas erkennen könnten.
Berührt Peter Piechowiak die ganze Nacht über alle Stätten, die ihm hier jemals etwas bedeutet haben. Das und die Nacht scheinen nur so lang zu sein, so endlos. Streift er alles, alles mit einem entschlossenen Ruck seines Kopfes beiseite, wie das halblange blonde Haare fliegt dabei!, wird alles ohne Bedauern hier zurücklassen.
Am Bahnhof, ja, die Schalter öffnen gerade. Göttingens Bahnhof rumort. Ach, und die Uhr springt so langsam von einer Minute zur nächsten. Der Intercity Prinz Eugen erwartet. Oder die Kaiserin von Österreich? (Dabei gibt es gar keinen IC mit diesem Namen.) Pizzageruch weht uns um die Nasen. Die Fahrt nach Wien gar nicht so billig. Prinz Eugen hat schon jetzt Verspätung. Lieber den Vorzug eines Vorzugs benutzen. Zumindest bis Passau schläft’s sich dann leichter. Und anschließend? Die E-Lok sieht nicht so aus, als ob sie wüsste, was „Anhalten“ bedeutet. Zwölf Uhr. Pfiff.
Zwölf Minuten aus vierundzwanzig Stunden. Willi Be filmt, bis der Vorzug entschwunden ist.
Unterwegs
(Da wir substanzlos sind, haben wir den Vorzug natürlich sofort eingeholt.)
Dauert die Bahnfahrt mehr als acht Stunden, und Peter Piechowiak ganz in sich selbst versunken. Hat er seine Heimat schon vergessen – war Göttingen je seine Heimat? Dabei fuhr er so gerne mit dem großen Transporter über Göttingens Straßen. – Was für eine Übersicht! Vorüber, vorüber. Zu schnell auf den Bürgersteig der Tatsachen zurückgeholt, sitzt er bis Passau allein im Abteil. Öffnet er an jedem Haltebahnhof das Fenster, lässt Lautsprecherdurchsagen zu sich ins Abteil quellen.
Das gleichmäßige Rattern entleert seinen Kopf von jedem Gedanken. Er nimmt Landschaft wahr, nicht auf, koppelt sie nicht mit Worten, hält sie nicht fest. Drängt sich am späten Nachmittag die Sonne ins Abteil, er zieht die Vorhänge vor. Die Hitze weicht nicht.
„Was erwarten Sie in Wien, Herr Piechowiak?“
Der Zug lässt sich kurz auf ein Wettrennen mit einem Auto auf der Bundesstraße ein – oder umgekehrt. Nach der nächsten Biegung gibt’s weder Sieger noch Besiegten.
„Denken Sie zum Beispiel noch an Martina, Tina, wie Sie sie nannten, der Sie Ihre Wohnung überlassen haben?“
„Ach, Tina und Klaus und Reinhard und Günther, mit „th“, darauf legt er größten Wert, trotz aller