Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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1985 aus den damaligen, staatlichen Erziehungsheimen gegründet. Seine Wurzeln liegen tiefer und gehen bis in das 17. Jahrhundert zurück, als sich der Hamburger Senat noch eher halbherzig für die Jugend engagierte. Für den Landesbetrieb ist daher der Beginn der modernen, staatlichen Jugendfürsorge im späten 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Deutschland und speziell in Hamburg der markante historische Bezugspunkt, der auch für den Teil I, „Wurzeln“, der Ausgangspunkt ist. Der Hamburger Sonderweg wurde in den 1920er Jahren aufgrund einer politischen Strategie beschritten. Der Senat entschied sich damals bewusst für staatlich betriebene Einrichtungen für junge Menschen, um „auf den Geist der Anstalt einen Einfluss zu besitzen“, wie das Landesjugendamt diese Politik 1925 begründete. Das nationalsozialistische Regime übernahm 1933 die politische Macht und nahm auf ihre, verbrecherische Weise Einfluss auf die staatliche Erziehung. In der Nachkriegszeit verfolgte der Senat die Politik der 1920er Jahre im Grundsatz weiter, so dass Hamburg Ende der 1970er Jahre über einen relativ großen Bestand an Einrichtungen in öffentlicher Trägerschaft verfügte.

      Teil II befasst sich mit der Gründung und Etablierung des Landesbetriebes im Zuge der in Hamburg verspätet begonnenen Heimreform und der folgenden rechtlichen und institutionellen Modernisierung der Jugendhilfe, dem umfassenden „Aufbruch“ zwischen 1980 und der Jahrtausendwende. Der Teil III geht der rund 10-jährigen Phase eines „Umbruchs“ nach, die auf den Regierungswechsel nach der Bürgerschaftswahl im Jahr 2001 folgte. Die neue Politik verfolgte eine Fokussierung auf staatliche Kernaufgaben. Der Landesbetrieb wurde in dieser Phase erheblich verkleinert und inhaltlich neu ausgerichtet. Eine in diesem Zusammenhang wesentliche, politische Entscheidung war die Integration des Kinder- und Jugendnotdienstes in den Landesbetrieb im Jahr 2003.

      Der Teil IV, „Backbone“, bewegt sich in der Zeit nach dem „Umbruch“, in der die Funktion des LEB als ein struktureller Kern in der Hamburger Jugendhilfe etabliert war und der Betrieb sich in dieser Rolle bewähren musste.

      Die Geschichte des LEB ist eingebettet in gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse. Als staatlicher Träger wurden seine Aufgaben stets vom sozialpolitischen Programm und dem daraus folgenden Regierungshandeln des Senats und der jeweils für die Jugendhilfe zuständigen Behörde bestimmt. Er unterlag öffentlicher Kontrolle durch die Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg und der Medien. Dieser Blickwinkel spielt daher in dieser Abhandlung eine bedeutende Rolle. Erziehungswissenschaftliche Diskussionen haben in der langen Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt und werden insoweit aufgegriffen, stehen jedoch nicht im Vordergrund.

      Ich war über 18 Jahre Geschäftsführer des Landesbetriebes und vorher in leitender Position in der Behörde, welche die Aufsicht über den Betrieb führte. Einen wesentlichen Teil meines Berufslebens habe ich mich mit dem Landesbetrieb befasst und seine Entwicklung mitgestaltet. Mit der vorliegenden Abhandlung möchte ich diese, mich beindruckende „Hamburger Institution“ und die sie tragenden Menschen würdigen.

      In den nachfolgenden Kapiteln möchte ich die Geschichte erzählen und mit einem Rückgriff auf Alltagsepisoden und zeitgenössischen Äußerungen auch erzählen lassen. Das Buch soll vor allem für am Thema Interessierte zugänglich sein und dazu inspirieren, die Gegenwart vor dem Hintergrund der Geschichte zu reflektieren und besser zu verstehen.

      Klaus-Dieter Müller

      Hamburg, im Februar 2022

      Teil I: Wurzeln

      Kinder der Armut

      Der Hamburger Sommer 1892 war heiß und seine großen Gewässer Alster und Elbe erwärmten sich auf über 20 Grad. In den engen Gassen des Gängeviertels und anderer Arbeiterquartiere ertrugen die Menschen die Sommerhitze nur schwer. Auch stellten sich die im Sommer gehäuften Verdauungsprobleme ein. Die Abwässer landeten in den Fleeten und verbreiteten einen elenden Gestank. Und auch das Hamburger Trinkwasser, das der Elbe entnommen wurde, war durch mitgeführten Schmutz sowie tierische und pflanzliche Organismen trübe und unrein. Der Naturfreund Hartwig Petersen wies in den 1870er Jahren 18 Tierspezies von kleinen Schnecken bis hin zu Fischen und dem Aal im Trinkwasser nach. Es gab in der Stadt aber nichts anderes und so war selbst diese widerliche Brühe in der sommerlichen Hitze die einzige Quelle.{1}

      Am 15. August inspizierte der bei der Stadt angestellte Bauarbeiter Sahling wie üblich die Sieleinläufe und drehte dabei seine Runde über den gesamten Grasbrook. Auf dem Heimweg von der Arbeit fühlte er sich nicht gut und erkrankte wenig später heftig an Durchfall und Erbrechen. Der ihn behandelnde Arzt diagnostizierte die asiatische Cholera. Allerdings gelang ihm nicht der bakteriologische Nachweis, so dass nach dem Tod des Patienten noch am selben Tag als Todesursache „Brechdurchfall“ vermerkt wurde.

      Diese Zeit erforderte bei den Ärzten eine erhöhte Aufmerksamkeit. Ein paar Jahre zuvor hatte Robert Koch den Erreger der Tuberkulose entdeckt, der damals häufigsten Infektionskrankheit mit tödlichem Ausgang. Und auch der Erreger der Cholera war damals bereits bekannt. Bei Verdachtsfällen waren zum Nachweis des Erregers seine Isolierung vom Kranken und eine anschließende Kultivierung erforderlich. Allerdings hatten sich dieser wissenschaftliche Fortschritt und die darauf beruhenden Maßnahmen zu einer Eindämmung der Infektion noch nicht bei allen Ärzten und vor allem nicht bei verantwortlichen Politikern im deutschen Reich durchgesetzt.

      In den Tagen nach dem Tod des Arbeiters Sahling häuften sich die Fälle mit eindeutigen Symptomen der asiatischen Cholera. Immer mehr Meldungen von Ärzten und Krankenhäusern liefen bei dem Leiter der Hamburger Gesundheitsbehörde ein. Doch dieser reagierte nicht, da er die Erkrankten als Einzelfälle bewertete. Auch nach dem gelungenen bakteriologischen Nachweis war er nicht überzeugt. So erfolgte erst eine Woche nach dem ersten Verdachtsfall die Meldung an die zuständige Reichsbehörde. Und es dauerte weitere zwei Tage, bis der Hamburger Senat sich mit dem Thema befasste. Es verstrich damit wertvolle Zeit, in der Schutzmaßnahmen hätten ergriffen und Verhaltensregeln für die Bevölkerung bekannt gegeben werden können. So verbreitete sich der Erreger aus Abwässern in der hochsommerlich warmen Elbe und erreichte um den 19. oder 20. August den Haupteinlass der Hamburger Trinkwasserversorgung. Der „blaue Tod“{2} wanderte durch die Wasserleitungen in die Trinkbecher der Hamburger. Am 21. August wurden für diesen Tag 113 neue Fälle gemeldet, 17 Erkrankte starben. In den Folgetagen eskalierte die Infektionsrate und erreichte am Monatsende ihren Höhepunkt mit rund eintausend Neuerkrankten pro Tag. Am 24. August traf der von der Reichsregierung entsandte Robert Koch in Hamburg ein und war fassungslos über den Dilettantismus, mit der der Senat und seine für die Gesundheit zuständigen Fachbeamten den Ausbruch der Epidemie bewerteten und darauf reagierten. Erst auf sein Drängen hin wurden Maßnahmen ergriffen. Nach diesen Erlebnissen mit den Verantwortlichen und einer Inspektion des Gängeviertels, die ihn offenbar an seine Erlebnisse während der Cholera-Ausbrüche in Alexandria und Kalkutta erinnerte, äußerte er seine bekannt gewordenen Worte zur Kritik an den politischen und sozialen Verhältnissen der Stadt: „Meine Herren, ich vergesse, daß ich in Europa bin.“{3}

      Nach dem öffentlichen Bekanntwerden des Cholera-Ausbruchs in Hamburg brach der Warenverkehr durch Quarantänemaßnahmen zusammen. Schiffe liefen den Hafen nicht mehr an und konnten ihn nicht verlassen. Auch auf dem Landweg gab es Einschränkungen. Die Auswirkungen auf die übrigen Wirtschaftssektoren ließen nicht lange auf sich warten. Die Überlebenden der Epidemie erfasste eine Welle der Arbeitslosigkeit und stürzte sie ins materielle Elend.

      Die Cholera raffte über 8600 Menschen dahin und setzte sich damit an die Spitze der Todesursachen des Jahres 1892, gefolgt von Säuglings- und Kinderkrankheiten, Tuberkulose und anderen Infektionskrankheiten. Verstorbene Eltern hinterließen 4867 Kinder, die ganz oder halb verwaist waren und versorgt werden mussten.{4}

      Um Kinder, die nicht mehr bei ihren Eltern leben konnten, kümmerte sich damals das Waisenhauskollegium, das erstmals am 14. November 1600 gebildet wurde und aus drei Senatoren und acht Bürgern bestand.{5} Es hatte damals die Aufgabe, in Hamburg das erste Waisenhaus zu errichten und zu betreiben. Finanziert