Klaus-Dieter Müller

Zukunft möglich machen


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Lehrer für die Betreuung der Kinder vorgesehen. Das Haus war für ehelich geborene Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren vorgesehen, deren Eltern verstorben waren oder nicht mehr für sie sorgen konnten. Aber auch Kinder von Hingerichteten oder Findelkinder fanden hier eine Aufnahme. Für unter 4jährige wurden Pflegefamilien gesucht und für die Erziehung und Pflege vom Waisenhauskollegium vergütet. Im ersten Jahr wurden 79 Kinder aufgenommen, von denen aber einige entliefen oder dem Armen- und Zuchthaus überstellt wurden.

      In der Zeit des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) und in seiner Folge stieg der Bedarf an Unterstützung für Arme und ihre Kinder sowie für Findelkinder und Waisen. Die zu Anfang des 16. Jahrhunderts organisierte Armenfürsorge in der Zuständigkeit der Kirchen war dem jedoch nicht mehr gewachsen. Die Zahl der durch das Waisenhaus zu versorgenden Kinder stieg an, ohne dass eine ausreichende Finanzierung durch die Kirchen erfolgte. 1682 kam es daher zu einer Neuordnung des Zusammenwirkens zwischen dem Waisenhaus und der kirchlichen Armenfürsorge, indem das Waisenhaus die innerhalb der Ringmauern der Stadt aufgefundenen Kinder aufzunehmen hatte und dafür von jedem Kirchspiel einen jährlichen Beitrag in Höhe von 300 Talern erhielt.

      Zu jener Zeit war die Fürsorge für Kinder auch mit dem Problem zunehmender Kindstötungen nach der Geburt konfrontiert. Um diesem Problem zu begegnen wurde beim Waisenhaus ein Drehkasten („Torno“) installiert, in den Kinder abgelegt werden konnten. Diese „Babyklappe“, wie sie heute genannt wird, führte zu einer weiteren Erhöhung der zu versorgenden Kinder. Im Jahr 1713 waren von 1173 Waisenhauskindern 473 so genannte „Tornokinder“.{6} Der zweimalige, großzügige Zuschuss des wohlhabenden Bürgers Jobst von Overbeck für dieses Projekt reichte dennoch nicht, um die Geldnöte des Waisenhauses dauerhaft zu lösen, so dass das Waisenhaus 1778 erstmals einen regelmäßigen staatlichen Zuschuss erhielt.

      Im Zuge der Diskussion über einen Neubau des Waisenhauses, das zu eng und baufällig geworden war, wurde erörtert, ob die Erziehung überhaupt in einer Anstalt erfolgen sollte oder nicht besser gegen ein Kostgeld in Familien. Da man aber befürchtete, dass der jeweils bestehende Bedarf an Betreuungsplätzen nicht durch Familienpflege befriedigt werden könnte, wurde das Mischsystem beibehalten und das neue Waisenhaus in der Admiralitätsstraße errichtet.

      Als wegweisendes Vorhaben der Stadt galt 1788 die Reform des Armenwesens. Die Bürgerschaft genehmigte die Errichtung einer Armenanstalt. Zur Reform gehörte auch die Schaffung von Pflegebezirken, in denen arme Bewohner von ehrenamtlich tätigen Bürgern betreut wurden. Vor allem Schwangere, Mütter und Kinder profitierten von der Reform durch medizinische Versorgung und Bildung. Die französische Besatzung zu Beginn des 19. Jahrhunderts führte zu einem wirtschaftlichen Niedergang und zur Erhöhung der Armut. Die Armenanstalt versorgte 1809 17% der Einwohnerschaft und benötigte hierfür einen Zuschuss der Stadt zur Deckung des Defizits in Höhe von 190 Tausend Talern. Dies überforderte die Finanzen der Stadt. Die Armeneinrichtungen wurden daraufhin geschlossen.{7}

      Der große Brand im Jahr 1842 vernichtete weite Teile der Stadt. Dem Feuer fiel auch das Rathaus zum Opfer. Für die Fortführung der Amtsgeschäfte wurde als Provisorium das Gebäude des Waisenhauses in der Admiralitätsstraße auserkoren. Die Kinder brachte man vorübergehend an einem anderen Ort unter. Für den Neubau des Waisenhauses wurde ein Grundstück im Stadtteil Uhlenhorst bestimmt. Zwischen dem Hofweg und dem Winterhuder Weg wurde zwischen 1856 und 1858 das neue, große und repräsentative Gebäude mit Parkanlage errichtet. Es umfasste neben einem Mädchen- und einem Jungenflügel die Verwaltung und die Wohnung des Direktors. Auch bei diesem Neubau wurde erörtert, ob man die Verbindung zwischen „Anstalts- und Familienpflege“ beibehalten sollte. Und auch dieses Mal änderte man die Praxis nicht.{8}

      In der Folge der Reform der Hamburgischen Verfassung von 1860 wurde im Jahr 1863 auch die Verwaltung neu geordnet. Die Waisenhausverwaltung unterstand von dieser Zeit an einer staatlichen Deputation, einem Ausschuss von ehrenamtlich tätigen Bürgern unter dem Vorsitz eines Senators. Ihr oblag die Verwaltungsarbeit für jeweils einen von insgesamt bis zu 34 Verwaltungszweigen. Für diese Tätigkeit wurde ihr ein Budget von der Hamburgischen Bürgerschaft zugewiesen, um die notwendigen Ausgaben tätigen zu können. Für einen modernen Staat war diese, aus der ferneren Vergangenheit stammende Form der öffentlichen Verwaltung wenig geeignet, die Anforderungen eines sich rasch entwickelnden Wirtschafts- und Gesellschaftslebens zu erfüllen. Auch wenn die Zahl der Deputationen und damit auch das immer wieder beklagte Kompetenzwirrwarr mit der Verfassungsreform von 1860 eingegrenzt wurde, blieb die Arbeit, die sich nicht auf qualifizierte, höhere Beamte stützte, eine Laienveranstaltung. Der schwerfällige, „amateurhafte“{9} Regierungsapparat drohte daher immer wieder zusammenzubrechen, und war weder der Vorbeugung noch der Bewältigung einer Katastrophe wie dem Ausbruch der Cholera von 1892 gewachsen.

      Im Juli 1892 wurden das „Gesetz über die öffentliche Waisenpflege im hamburgischen Staate“ und parallel dazu ein Gesetz über das Armenwesen erlassen, die erst nach dem Höhepunkt der Cholera in Kraft traten. Mit den Gesetzen wurden zwar organisatorische Regeln für die Versorgung von armen Menschen und schutzlosen Minderjährigen getroffen, die aber noch nicht umgesetzt waren. Auch vergrößerte sich der Personenkreis für die öffentliche Jugendfürsorge erheblich, da nun auch die armenrechtlich hilfebedürftigen Kinder der Verantwortung des Waisenhauskollegiums unterstellt wurden. Ihnen sollte Hilfe vor allem in der Familienpflege, aber auch in einem Heim zuteilwerden. Zum Jahresbeginn 1892 befanden sich im Waisenhaus 435 Kinder und 34 in der Familienpflege. Allein während der Cholera-Epidemie sind 492 Kinder in das Waisenhaus verlegt worden. Letztendlich befanden sich Ende Dezember 1892 „3464 Kinder in der öffentlichen Waisenpflege, in der Anstalt 556, in Familienpflege 2857, in Heilanstalten 58“{10}. Der Erfolg, eine solch hohe, in kurzer Zeit angewachsene Zahl an Kindern zu versorgen, war dem „durch die Cholera allgemein erweckten Mitleid“{11} zu verdanken: zahlreiche Familien meldeten sich als Pflegestellen an. In der ganzen Stadt bildeten sich Notstandskomitees, vorwiegend aus dem Bürgertum, die Hilfe leisteten. Aber auch Geldspenden gingen aus Deutschland und der ganzen Welt ein. „Allein Kaiser Wilhelm II stiftete 50 Tausend Mark für die Versorgung der Waisen“{12}, die in einen Fonds von fast 140 Tausend Mark einflossen, den das Waisenhaus verwaltete.{13}

      Die Krise durch die tödliche Epidemie war bald überwunden, doch war eine Rückkehr zu den gewohnten Bahnen der Politik und Verwaltung nicht mehr möglich. Zu heftig war die Kritik an dem Regierungssystem, das als überkommen, unfähig und damit ungeeignet für eine Großstadt am Ende des 19. Jahrhundert befunden wurde. Die Herrschenden taten sich aber schwer mit Veränderungen. So gelang zwar keine Änderung des Wahlrechts mit einer wesentlichen Verbreiterung der Wählerschaft, aber zumindest wurde der Widerstand gegen die Professionalisierung der Verwaltung aufgegeben, und das Berufsbeamtentum nach preußischem Vorbild eingeführt. Diese und weitere Veränderungen führten dazu, dass das Ende der „alten Amateur-Regierung“ eingeläutet wurde. „Und schon nach eineinhalb Jahrzehnten war die politische Szene der Stadt nicht mehr wieder zu erkennen“{14}. Das dramatische Ereignis der Cholera bildete eine Zäsur, die sich auch auf die Entwicklung der öffentlichen Jugendfürsorge auswirkte.

      Der Staat greift ein

      Johannes Petersen war vermutlich von Pathos erfüllt, als er 1911 das Vorwort zu seiner Abhandlung über die öffentliche Jugendfürsorge verfasste. Er blickte auf die letzten zwei Jahrzehnte zurück, in denen sich der Staat hilfsbedürftigen Kindern und Jugendlichen zuwendete und seine Verwaltung entsprechend organisierte: „Die Organisation soll im wesentlichen dafür sorgen, daß der Jugendliche überhaupt persönlicher Hilfe teilhaftig wird, daß jeder Jugendliche, der dieser Hilfe bedarf, sie in geeigneter Form findet.“{15} Dabei merkte er an, dass den in der Jugendfürsorge Tätigen bewusst sei, dass die Arbeit „von Mensch zu Mensch“ für den Erfolg der Erziehung entscheidend ist. Was war geschehen, dass der erste Direktor der Jugendbehörde in Hamburg diese Worte niederschreiben konnte?

      Ab 1892 nahmen die Aktivitäten zur Entwicklung einer einheitlichen Wahrnehmung der staatlichen Aufgaben gegenüber jungen Menschen zu. Die gesetzlichen Regelungen aus diesem Jahr hatten die Verantwortung für armenrechtlich hilfsbedürftige Kinder vom Werk- und Armenhaus auf das Waisenhauskollegium übertragen. Im Waisenhaus wurde „eine Aufnahmestation eingerichtet zwecks ärztlicher