Wange eine hellrosa Ader durch seine dunklen Bartstoppeln Richtung Kinn. Ansonsten sieht er aus wie eine wildere oder dünklere Version seines vier Jahre jüngeren Ichs. Abgesehen von dem kalten Blau seiner Augen, die absolut jeden zur Distanz auffordern. Ich schlucke, ehe ich mich gezwungen sehe, etwas zu sagen. Selbst Philip, ebenfalls verstummt, starrt mich an, als würde er meine Reaktion abwarten, ehe er wagt, noch etwas zu sagen.
„Es … Es ist schön, dich zu sehen.“
„Möchte ich wetten.“ Schnaubend schnappt Jan sich sein Bier und leert es in einem Zug. So langsam macht er mich wütend.
Als er sich zur Seite dreht, so als wäre er mit mir fertig, kocht etwas in mir über. Fahrig dränge ich mich an einem perplexen Philip vorbei und starre Jan von der Seite an.
„Was ist dein Problem?“
„Du“, antwortet er schnaubend und reibt sich über den Mund.
„Hey, wenn hier einer wütend auf den anderen sein müsste und sein gutes Benehmen vergessen darf, dann doch wohl ich!“ Schließlich hatte er mich belogen und unsere Beziehung zerstört.
„Na, dann müsste das hier“, er deutet auf sich, seine Narben und auf mich, „doch genau, das sein, was du dir erträumt hast.“
Verwirrt starre ich ihn an. Was soll das denn?
„Mal ehrlich, wie oft hast du mir den Tod gewünscht, als ich es mit uns versaut habe? Nun ja, ganz hat’s nicht gereicht, aber fast. Immerhin laufe ich ziemlich krumm und die meisten sehen mich nur ungern an … Genügt dir das?“ Wütend starrt er mich in Grund und Boden.
Philip ist die ganze Szene derart peinlich, dass er sich die Hand vors Gesicht hält. Ich kann gar nicht glauben, was er da von sich gibt. Glaubt er das wirklich? Was an mir macht ihn denn nur so wütend? Das Ganze ist absolut untypisch für den Jan, den ich kenne – wohl eher … kannte.
„Hey!“ Ich packe ihn an der Schulter. „Du spinnst, wenn du denkst, ich würde mich irgendwie über das freuen, was dir passiert ist. Das ist vollkommener Blödsinn! Es tut mir leid, ehrlich leid … Aber es gibt dir noch lange nicht das Recht, mich hier ohne guten Grund so anzufahren.“ Meine Stimme ist viel zu laut und ich habe Magenschmerzen. Vor allem jetzt, wo er mich mit seinen traurigen blauen Augen derart ansieht.
„Mein Grund ist nicht gut“, gibt er zu, „aber ich habe einen. Wenn ich dich ansehe, völlig unversehrt, sogar noch hübscher als damals, dann fühle ich mich um etwas betrogen … aber, vergiss es.“ Wieder fährt er sich über den Mund, als müsse er etwas abwischen. Vielleicht seine Bitterkeit?
„Das verstehst du ja doch nicht!“
Jan will immer noch aufgebracht aus dem leeren Glas trinken, was mir merkwürdigerweise einen Stich in die Brust versetzt. Mit aufeinandergepressten Lippen mustert er jeden Zentimeter meines Gesichts, das leere Glas fest in der Hand.
„Geh, lauf nach Hause, Ella! Und leb dein perfektes, kleines, unversehrtes Leben … Aber lass mich in Ruhe.“
Wieder dreht er sich von mir weg, als wäre er fertig mit mir. Doch dieses Mal schlage ich nicht kühn zurück wie vorhin, was mich selbst erstaunt hat. Dieses Mal steigen mir die Tränen in die Augen, die ich aufzuhalten versuche. Denn sein Schlag hat gesessen und tat verdammt weh, mehr, als ich zugeben möchte. Ich fühle mich elend, abgefertigt, von einem Mann mit Narben weggestoßen. Nicht seine Narben stören mich dabei, es sind seine Worte. So hat Jan nie mit mir gesprochen. So kenne ich ihn nicht. Was ist nur mit ihm geschehen, dass er mich, nach allem, was zwischen uns passiert ist, derart verletzen und demütigen muss?
Scham steigt in mir hoch, mitten in diesem vollen Lokal. Verstohlene Augenpaare mustern mich mit abschätzigen Blicken. Ich fühle Röte, die mir in die Wangen schießt. Noch wütender machen mich allerdings meine Tränen, die zu fließen beginnen, als er mich kurz von der Seite ansieht, ehe er auch Philips halbvolle Flasche runterkippt. Das laute Klirren der Flasche, die er auf die Theke knallt, weckt mich aus meiner Starre. Zornig wische ich mir dir Tränen von der Wange, bevor ich endlich richtig reagiere und aus dem verdammten Lokal stürme. Vorbei an vergnügten Männern und Frauen dränge ich mich so lange vor, bis meine Hände endlich die Glastür des Ausgangs aufstoßen.
Kalte Luft empfängt mich und lässt die Tränenspuren in meinem Gesicht brennen, was mich wütend macht. Ich brauche mein Handy, um mir schnell ein Taxi zu rufen. Nur weg von hier. Doch meine zitternden Finger sind nutzlos. Sie kramen in der winzigen Tasche und finden das ansonsten riesig wirkende Smartphone nicht. „Verdammt!“
Endlich ist es in meiner Hand. Die Namen und Nummern auf dem Display verschwimmen. Ich kann die richtige Nummer nicht entziffern, weil ich nicht aufhören kann, zu heulen. Dabei habe ich mir geschworen, dass ich mich nie wieder so fühlen würde – schon gar nicht seinetwegen.
Ohne zu wissen woher, spüre ich seine Anwesenheit hinter mir und drehe mich um. Jan steht da. Zerknirscht und blass sieht er mich an. Seine Schultern hängen herab. Keine Spur mehr von dem Mann, dessen Selbstvertrauen mich beinahe schon erschlagen hat. Der Moment kommt mir ewig vor. Endlich öffnet er den Mund. Ich bin nicht fähig, etwas zu sagen.
„Ella, es tut mir leid … Es liegt nicht an dir, nicht wirklich.“ Mehr als ein tadelndes Kopfschütteln bringe ich nicht zustande. Das hat vorhin noch ganz anders geklungen.
Jan kommt ein paar Schritte näher. Da ich ihn und sein Gesicht anstarre, fällt mir gar nicht auf, ob er nun hinkt oder nicht. Er stoppt mit einem kleinen Sicherheitsabstand und vergräbt die Hände in seiner Jackentasche.
„Seit dieser Sache komme ich nicht mehr mit Menschen aus meiner Vergangenheit klar, die den alten Jan kennen. Eigentlich … komme ich mit keinem mehr so richtig klar. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“
Die Art, wie Jan vor mir steht, nur ein Bein voll belastend, bitter und ehrlich, wirkt er verloren, so ganz anders als der harte, anklagende Kerl von vorhin. Ich kann es nicht erklären, doch am liebsten würde ich zu ihm gehen, diesen letzten Schritt zwischen uns überwinden und ihn fest umarmen, egal ob es ihm gefällt oder nicht. Und das, obwohl ich gerade noch seinetwegen weinen musste. Verrückt, aber es ist das, was ich will. Doch die vier Jahre zwischen uns, eine schmerzliche Trennung und das, was immer mit ihm passiert ist und ihn so verändert hat, halten mich davon ab. Ich sehe ihn an und wünsche mir, dass das Basecap nicht da wäre, weil ich ihn dann besser sehen könnte. Erstaunlicherweise bin ich es jetzt, die einen Schritt auf ihn zu macht, und die Worte, die ich zu ihm sage, sind einfach so da, ohne dass ich groß darüber nachdenken muss.
„Jan, ich werde nicht so tun, als wüsste ich, was du in den letzten Monaten durchgemacht hast. Du weißt ja auch nicht, wie es mir in den letzten Jahren so erging. Aber falls du, warum auch immer, mit jemandem reden willst … hier ist meine Nummer.“
Ich krame eine meiner Visitenkarten vom Hotel hervor und notiere meine private Handynummer auf der Rückseite. Als ich sie ihm hinhalte, zögert er und sieht mich vorsichtig überrascht an. Ich halte die Luft an und atme erst wieder aus, als er die Hand aus der Jacke nimmt, um nach der Karte zu fassen. Kurz berühren sich unsere Fingerspitzen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken, der mich ihm in die Augen sehen lässt. Sie sind immer noch unglaublich blau und das Einzige an ihm, das nicht dunkel und düster wirkt. Lahm versuche ich zu lächeln. Ich muss den Verstand verloren haben. Ganz klar.
„Du nimmst dir doch ein Taxi nach Hause, so spätnachts?“
Diese simple Frage löst eine Flut an Erinnerungen aus, die mich zu überwältigen drohen. Nun klingt er wie Jan, mein Jan, der vielleicht genau das nie gewesen ist. Dennoch löst es etwas in mir aus, diese Sorge um mich. Ihn so heute wiederzusehen, war unerträglich. Und damit meine ich weder seine Narben noch die Tatsache, dass er humpelt.
Das gefällt mir nicht. Kurz geht mir durch den Kopf, dass ich ihm entgegnen könnte, er wollte doch vorhin noch, dass ich nach Hause laufe, in mein kleines perfektes Leben. Als er mich besorgt ansieht und sogar meinen Oberarm umfasst, verschwindet der Drang so schnell, wie er gekommen ist.
„Ella? Du rufst doch ein Taxi, oder?“
„Ja, ja.