Adele Mann

Bittersüß - davor & danach


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Stimme, die ich nie wieder vergessen werde, sagt immer wieder zu mir: „Das wird wieder. Jetzt ist alles vorbei.“

      „Tut mir leid. Ich … Das alles hat mich ziemlich erschrocken“, erkläre ich ihm schniefend. Er lacht über meinen Versuch, mir den Regen vom Gesicht abzuwischen, obwohl ich tränenüberströmt bin.

      „Na, komm schon. Ich bring dich sicher nach Hause“, bietet er an. „Wenn das okay für dich ist.“

      Gerade habe ich ihm heulend im Arm gelegen. Daher ist es bestimmt okay für mich, wenn er mich nach Hause bringt, wo ich diesen schrecklichen Vorfall für immer vergessen möchte. Ich nicke, da ich meiner Stimme nicht zutraue, zuversichtlich zu klingen. Als wir die Straße zu meiner Wohnung entlanggehen, werfe ich verstohlene Blicke zu ihm. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber auch wenn ich noch immer Angst habe, wegen dem, was vorhin passiert ist, geht dieses Gefühl einfach weg, wenn ich ihn ansehe. Das ist so seltsam. Ich kenne ihn doch gar nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass er groß ist, durchtrainiert, dunkelhaarig, verdammt gut aussieht und die blauesten Augen hat, die ich je bei einem Mann gesehen habe. Kurz vor meiner Wohnungstür bemerkt er, dass ich ihn musterte. Sein selbstbewusstes Grinsen verrät es mir. Irgendwie scheint es ihm zu gefallen. „Wenn du mich weiter so anstarrst, werde ich mein Ego nie in den Griff kriegen. Und es gibt Leute, genauer gesagt Frauen, die das gar nicht gerne hören.“ Ich weiß nicht genau, wie ich auf diese Bemerkung reagieren soll. Will er mir damit sagen, dass die Frauen ihn für zu arrogant oder zu selbstbewusst halten? Nicht, dass es nicht nachvollziehbar wäre. Wenn ich ehrlich bin, sieht er aus, als wäre er für die Frauenwelt gemacht.

      Er ist absolut nichts für mich. Auch wenn das gar nicht zur Diskussion steht. Denn er ist genau der Typ Mann, der umwerfende Typ Mann, mit dem ein Mädchen wie ich nie was anfangen wird. Er und ich, wir spielen nicht in derselben Liga, das sieht man sofort. Jemand wie er geht mit Frauen aus, die photoshopgestylte Profilbilder auf Facebook haben oder Vorsprechtermine. Herrgott, worüber denke ich bloß nach? Ich bin überfallen worden auf dem Weg zu meiner Wohnung. Darüber sollte ich mir Gedanken machen, nicht über das Privatleben meines Helfers in der Not.

      „Entschuldige, ich wollte dich nicht anstarren. Ich weiß einfach nicht, wie ich dir danken soll für deine Hilfe.“ Sanft lächelnd sieht er mich an. „Da es fast drei Uhr ist, könnte ich wirklich einen warmen Ort gebrauchen, bis ich mir ein Taxi rufen kann. Über etwas Warmes zu trinken würde ich mich auch freuen.“ Ich starre auf mein Handy, das ich von der Straße aufgelesen habe, und auf die Wohnungsschlüssel in meiner Hand. Was wäre schon dabei? Er hat mich vor diesem Kerl bewahrt, und außerdem möchte ich nicht allein sein, auch wenn mir meine Wohnung als ein sicherer Ort erscheint, gibt es einen erschütterten Teil in mir, der jetzt nicht allein und schutzlos sein möchte.

      „Natürlich. Das ist doch das Mindeste.“ Ich stecke den Schlüssel in das Tor. „Komm rein.“

      Er folgt mir durch den dunklen, stillen Hausflur. Ich wohne in der einzigen Wohnung hier unten. Es ist ein sehr kleines Apartment in einem Altbau, das früher bestimmt dem Portier oder Hausmeister gehört haben muss, denn es ist wesentlich billiger und kleiner als die übrigen Wohnungen. Doch in den letzten Jahren ist es mein kleines Reich geworden. Und noch nie war ich so froh wie heute, hierher zurückzukehren und die Tür hinter mir abzuschließen. Auch wenn die ungeplante Anwesenheit eines völlig fremden Mannes die Vertrautheit meiner vier Wände verändert.

      Er ist sehr still, als er durch meinen kleinen Flur tritt, um in den großen Raum zu gelangen, der im Grunde schon so ziemlich alles ist, was ich zu bieten habe. Dahinter gibt es noch ein kleines Bad und eine Küche. Normalerweise stört es mich nicht, dass sich mein Bett gut sichtbar im Hauptraum befindet. Doch jetzt, hier mit ihm, macht es mich nervös und befangen. Wenn er nur endlich etwas sagen würde.

      „Schöne kleine Wohnung. Du hast das Beste aus ihr gemacht.“

      Dieser Kommentar irritiert mich. Fragend starre ich ihn an.

      „Ich arbeite als Trainee in einem Architekturbüro. Beim Studium haben wir auch Räume in Altbauwohnungen wie dieser hier durchgenommen. Nicht jeder kann aus einer Raumstruktur wie deiner eine gemütliche Wohnung machen.“ Er lächelt mich an. „Du schon.“ Wie von selbst erwidere ich sein Lächeln. Erst als ich meine wringenden Hände bemerke, weiß ich, wie nervös er mich wirklich macht.

      „Danke. Ich musste mit wenig auskommen. Aber ich wollte mich hier wohlfühlen … Auch wenn ich fürchte, dass das heute unmöglich ist.“ Müde lasse ich mich auf die Couch fallen. Er kommt zu mir rüber und setzt sich neben mich. Wir haben immer noch unsere Jacken an.

      „Wir können weiter über Einrichtungen reden, wenn du willst, oder du sagst mir, wie es dir wirklich geht … Hey, sieh es mal so. Wir kennen uns nicht. Das heißt …“ Sein Blick wechselt von fürsorglich zu frech. „… deine Geheimnisse sind bei mir sicher.“

      Mir entkommt ein nervöses Lachen. Seine Stimme und seine Blicke stellen komische Dinge mit mir an, vor allem mit meinem Magen und meiner Haut. Als würde ein elektrisches Prickeln über sie streichen. Ich weiß, der Kerl will nur nett sein, versucht mich aufzumuntern und ist es bestimmt gewohnt, immer und überall zu flirten. Aber er sollte damit aufhören. Denn auch wenn mir mein Verstand sagt, dass es dazu nie kommen wird, versucht mir mein Körper etwas ganz anderes vorzuspielen. Dabei bin ich gar nicht der Typ, der gleich so auf einen Mann reagiert, nur weil er gut aussieht und eine unleugbare Anziehungskraft besitzt.

      „Was, wenn ich keine Geheimnisse habe, die ich dir anvertrauen könnte?“

      „Dann solltest du das schleunigst ändern. Ein Mädchen wie du sollte ein paar Geheimnisse haben.“ Ich streife die Jacke ab, während ich lächelnd klarstelle: „Du flirtest wohl immer und bei jeder Gelegenheit. Selbst nachts um drei nach einer Rettungsaktion.“ Schmunzelnd zuckt er mit den Achseln. Als er mein Kleid sieht, das zugegeben offenherziger ist als das, was ich normalerweise trage, verschwindet sein Grinsen und ein konzentrierter Ausdruck legt sich über sein Gesicht. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich mir jemals meines eigenen Körpers so bewusst war wie in diesem Moment, als er ihn sich so ungeniert ansieht. Fast so, als wäre das Kleid gar nicht da.

      „Gegenfrage: Wie soll ich nicht flirten, wenn du so ein Kleid anhast?“ Mit sich selbst zufrieden beißt er sich lächelnd auf die Unterlippe, woraufhin ich den Kopf schüttele. Der Kerl ist ein echter Herzensbrecher. Das weiß ich so sicher, wie ich weiß, dass die Heizkosten jedes Jahr steigen. Aber auch wenn ich nicht der Typ Frau bin, der ständig flirtet, möchte ich mich nicht blamieren. Nicht vor ihm.

      „Das Argument lasse ich gelten. Doch ich laufe nicht immer so herum. Also … willst du nun etwas trinken?“

      „Na gut. Ich bin nicht wählerisch. Was immer du mir bringst, ich werde es trinken.“ Erleichtert, seiner unmittelbaren Nähe zu entkommen, gehe ich in die winzige Küche und schenke uns zwei Eistee ein. Als ich mich umdrehe, steht plötzlich jemand vor mir und ich zucke merklich zurück. Ich erkenne, dass er es ist. Doch es ist zu spät. Mein Verhalten ist mir peinlich. Es gelingt mir einfach nicht, die Gläser in meiner Hand vom Zittern abzuhalten, derart habe ich mich erschrocken.

      „Ich denke, die Sache hat dich mehr mitgenommen, als du denkst“, ermahnt er mich sanft und nimmt mir dabei vorsichtig die Gläser ab, bevor ich sie noch fallen lasse. Ich bin vollkommen verkrampft und fühle mich erbärmlich. Dieser Angriff und was passieren hätte können, nagen an mir, auch wenn ich es lieber verdrängen möchte.

      „Vielleicht hast du recht“, gebe ich zu, sehe ihn dabei aber nicht an. „Was hältst du davon, wenn ich heute auf deiner Couch schlafe, bis morgen die erste U-Bahn fährt? … Ich verspreche, jeden, der diese Wohnung betritt, grün und blau zu schlagen. Freund oder Feind.“ Abwartend sieht er mich an, bis ich zurückblicke.

      „Deal?“ Dankbar lächele ich zurück. „Deal“, antworte ich.

      „Gut, dann bestehe ich auf mindestens einer Decke.“

      „Geht in Ordnung.“

      Während ich ihm ein improvisiertes Bett auf der Couch herrichte, kommt mir in den Sinn, dass dies der mit Abstand merkwürdigste Abend meines bisherigen Lebens ist. Ich wurde angegriffen,