Adele Mann

Bittersüß - davor & danach


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erinnere ich ihn.

      „Du kannst es gar nicht erwarten, mich loszuwerden. Dabei war ich gestern noch so nützlich.“ Das war nicht fair. Er versucht mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

      „Na gut, ich schulde dir etwas für deine Hilfe gestern. Was möchtest du als Dank gerne haben?“

      „Oh, da würde mir einiges einfallen … Aber im Moment reicht mir schon deine Handynummer, fürs Erste.“ Selbstbewusst zuckt er mit den Augenbrauen. Der Kerl weiß, dass er mich am Haken hat, wenn er mich am Haken haben will. Doch ich halte das nur für leeres Gerede. Ich werde ihm meine Nummer geben und schon bei der nächsten umwerfenden Frau vergisst er mich anzurufen. Wie Madline aus dem Hotelmanagement-Seminar immer sagt: Traue nie umwerfenden Kerlen mit blauen Augen. Ich sollte auf Madline hören, doch ich merke, wie meine Finger, diese Verräter, nach dem Handy fassen, um ihm meine Nummer zu geben. Er tippt sie ein, ruft mich testweise an und legt dann auf.

      „Zu spät. Jetzt habe ich deine Nummer. Kein Rückzieher mehr möglich“, warnt er mich bestens gelaunt und steht dabei auf. Was soll’s. Er ruft ohnehin nicht an.

      „Ich bringe dich noch raus.“

      Da er in ziemlichem Tempo vorgeht, bleibt mir keine Zeit mehr, mir was überzuziehen. Also folge ich ihm in Shorts in den kalten Eingang meines Wohnhauses. Zum Glück ist niemand hier. Kurz vor dem Tor dreht er sich um und fragt: „Wie heißt du eigentlich?“ Ich muss lachen, weil ihm anscheinend jetzt erst auffällt, dass er meinen Namen nicht kennt. Aber flirten konnte er mit mir.

      „Ich heiße Ella.“

      „Ein schöner Name. Woher kommt er?“

      „Meine Mutter war total verrückt nach France Gall.“ Verständnislos sieht er mich an. „Ihr Song … Ella, elle l’a … Na jedenfalls ist ihr ausgerechnet bei meiner Geburt wieder eingefallen, wie toll sie doch diesen französischen Popsong findet. Also – Voilà – hat sie mich nach dem Song benannt.“

      Strahlend lächelt er mich an. „Und wie heißt du?“ Seine Mundwinkel sacken ein wenig nach unten.

      „Meine Leute haben mich Jan genannt … Und ich bezweifle, dass es dafür einen Grund gegeben hat. Vermutlich haben sie einfach nach einem Namen mit J gesucht.“ Bitter schnaubt er.

      Dieser Laut passt so gar nicht zu dem lebenslustigen, ständig flirtenden Kerl, den ich die letzten Stunden kennengelernt habe. Doch so schnell es gekommen war, verschwindet es wieder und er scheint wieder ganz der Alte.

      „Also, deine Nummer habe ich ja jetzt, Ella. Sei gewarnt, denn ich werde sie auch benutzen“, warnt er mich mit dem Handy wedelnd. Ich schüttle zur Antwort grinsend den Kopf und versuche dabei, die herrliche Nervosität, die mich in seiner Nähe fest im Griff hat, abzuschütteln. Erfolglos.

      Jan nimmt die Klinke des großen Eingangstors in die Hand. Knarrend öffnet sie sich.

      „Mach’s gut, Jan. Und … danke für alles“, verabschiede ich mich. Er gibt der Tür einen Stoß, murmelt ein „Bis bald“ und verschwindet dann. Auf dem Weg zurück zur Wohnung kann ich immer noch nicht glauben, dass das alles passiert ist. Tief in Gedanken zupfe ich an meiner Unterlippe und höre schnelle Schritte hinter mir, als mich jemand plötzlich an der Schulter packt und umdreht. Jan steht schwer atmend vor mir. Ehe ich noch wirklich begreifen kann, dass er nochmal zurückgerannt ist, drängt er mich schon gegen die kalte Mauer. Seine blauen Augen bohren sich in meine. Er drängt mich gegen die Wand und küsst mich, wie ich noch nie geküsst wurde. Ich fühle den Druck seiner Fingerspitzen überdeutlich auf meiner Schulter. Seine Lust und meinen Hunger. Er packt mich an der Hüfte und drückt seinen Mund auf meine Lippen. Eigentlich sollte ich erstaunt sein. Ich bin es auch. Doch mein Mund scheint wie für diesen Kuss gemacht. Ich erwidere ihn, ohne darüber nachzudenken, öffne den Mund für ihn. Sein heißer Atem macht mich ganz schwindelig, und als unsere Zungen sich berühren, explodiert etwas in mir.

      Ich bin bereits zweiundzwanzig, doch noch nie habe ich mich so gefühlt, wenn mich ein Mann mit seinem ganzen Körper küsst. Wir können gar nicht mehr aufhören. Ich presse ihn fest an mich. Es ist mir vollkommen egal, ob mich jemand sieht. Sein Unterbleib drückt noch drängender gegen mich, als unsere Zungen sich umeinanderschlingen. Ich habe noch nie solchen Hunger in mir verspürt, als wäre er das Einzige, was mich nährt, und egal wie viel ich esse, ich werde nicht satt, sondern immer nur hungriger und hungriger.

      Er keucht auf, presst mich immer wieder an sich. Nie zuvor konnte ich derart deutlich spüren, dass ein Mann mich will. Ich halte mich an seinem Hals fest, weil ich den Boden unter mir nicht mehr richtig spüren kann. Alles an diesem Kuss macht mich benommen und erschreckend lebendig zugleich. Seine Fingerspitzen, die sich immer fester in meine Oberarme bohren, als er mich nochmals an sich zieht, um mich hart auf den Mund zu küssen, fast so, als wolle er etwas klarstellen, senden Schauer über meine Haut. Verdammt. Das ist es. Das ist es, worauf ich immer gehofft hatte. Ich bin verloren. Und es gefällt mir.

      Langsam lässt er mich los. Ich schaffe es kaum, den Mund zu schließen. Meine Lippen brennen und mein ganzer Körper schreit nach mehr. Diese gierige Seite an mir ist mir völlig fremd. Erstaunt sieht er mich an, blickt immer wieder von meinen Augen zu meinen Lippen, bevor er mich endgültig loslässt und verschwindet.

      Was zur Hölle war das denn?

      Wie kann man jemanden so küssen? Ich habe bisher nur mit zwei Männern geschlafen, doch diesen Hunger und dieses Hochgefühl hatte ich bei keinem von ihnen. Dabei hat Jan mich nur geküsst. Doch gerade als ich jede Sekunde des Kusses in meinem Kopf abspule, wird mir klar, dass er nicht anrufen wird, deshalb hat er mich so geküsst. Unverbindlich und ohne jede Scham. Wenn man sich nie wiedersieht, gibt es nichts zu verlieren. Sein Kuss war genau so, ohne jede Reue.

      Noch immer high und ein wenig schwankend gehe ich zur Wohnung zurück. Ich höre schwach, dass mein Handy klingelt, und eile dem Klingeln entgegen. Aber ich bin so durcheinander, dass ich gar nicht weiß, wo ich es liegengelassen habe. Alles, woran ich denken kann, ist dieser Kuss. Wo liegt dieses verdammte Ding?

      Ich stoße mir wieder den Fuß an derselben Stelle wie heute nach dem Aufwachen. Leise fluchend schnappe ich mir das Telefon und hebe ab, ehe noch die Mailbox rangeht.

      „Ella hier“, keuche ich außer Atem.

      „Und …“, höre ich Jans Stimme, die ich sofort erkenne. Sein Männerlachen fährt mir direkt in den Bauch. „… wie ist es dir in der Zwischenzeit ergangen, Ella?“

      Kapitel 3

       Ella - 2014

      Bin ich denn vollkommen wahnsinnig geworden? Nicht nur, dass ich ihm meine Nummer gegeben habe, ich habe ihn auch noch darum gebeten, mich anzurufen, wenn er reden will. Wieso tue ich so etwas? Habe ich vergessen, wie lange es gedauert hat, darüber hinwegzukommen?

      Und jetzt liege ich hier, wach um zwei Uhr morgens, unfähig einzuschlafen, weil ich nur an eines denken kann: Jan Herzog. Ausgerechnet der Mann, der mir das Herz gebrochen hat, bereitet mir nun eine schlaflose Nacht. Inzwischen machen mir schon meine eigenen, verrückten Gedanken Sorgen. Und was für verrückte Gedanken das sind. Ich kann nicht aufhören, daran zu denken, wie er damals war, und noch mehr quält mich der Gedanke, wie er jetzt ist und wie er mit alledem zurechtkommt, was ihm zugestoßen ist. Unfassbar, dass er wirklich dachte, ich würde mich darüber freuen, ihn so zu sehen. Kennt er mich denn so wenig? Als würde ich Freude empfinden können über seine Narben, seine Verletzungen und die bleibenden Schäden. Egal, wie sehr ich es möchte, ich bekomme diese Bilder nicht aus dem Kopf. Jan, wie er mich dunkel und gequält ansieht, ein Schatten seiner selbst und wie er mich stehen lässt, um mit seinem lahmen Bein von mir wegzugehen. Ich sollte es nicht so an mich heranlassen. Es ist immerhin fast vier Jahre her und doch zerreißt es mich, ihn so zu sehen, zu ahnen, wie verzweifelt und frustriert er sein muss. Ich kenne ihn. Das ist nichts, was er einfach so wegstecken kann. Für Jan war die Welt immer ein Ort, der zu sagen schien: „Komm, nimm dir, was du willst, und genieße es.“ Und das hat er auch getan. Nur jetzt ist alles anders.

      Ich