Wenigstens einen.“
„Und warum suchen Sie trotzdem nach ihm?“
Die ältere Frau atmet einmal tief ein, bevor sie sich wieder ganz zu mir dreht. „Mir war klar, dass Sie das fragen werden und doch fällt es mir schwer darüber zu sprechen.“
„Wenn Sie wollen, dass ich meine Arbeit gut mache, müssen Sie offen und ehrlich zu mir sein.“
„Ich habe eine unheilbare Krankheit.“ platzt es aus ihr heraus.
„Verraten Sie mir welche?“
„Ich habe Krebs. Leider wurde er viel zu spät entdeckt, so dass die Ärzte im Grunde genommen nichts mehr für mich tun können. Sie wollten mich zu einer Chemotherapie überreden. Ich würde zwar noch etwas länger leben, aber was bringt mir das, da ich schlussendlich doch keine Chance mehr gegen meine Krankheit habe? Ich möchte die mir noch verbleibende Zeit geniessen und nicht ständig von einem Arzttermin zum anderen springen. Wenn ich nur schon daran denke, was diese Therapie mit dem Körper anstellt, wird mir ganz unbehaglich.“ Sie sieht mich über den Schreibtisch hinweg an. „Nein. Der Krebs hat mich besiegt. Das habe ich akzeptiert. Aber mein grösster Wunsch ist, dass ich noch einmal meinen Sohn sehen kann und er mir verzeiht, was ich ihm angetan habe.“
„Es tut mir leid.“
Frau Kyssen zuckt kurz mit den Schultern, bevor sie entgegnet. „Wahrscheinlich habe ich es nicht anders verdient.“
„Ich melde mich bei Ihnen, wenn ich etwas herausgefunden habe.“
„Danke.“
Ich begleite Sie aus dem Büro und sehe ihr nach, wie sie mit einem aufrechten Gang auf dem Bürgersteig die Strasse entlang geht, zu ihrem Auto das sie nur wenige Meter entfernt geparkt hat. Obwohl sie mehrere Schicksale ertragen musste und weitere einstecken muss, lässt sie sich nicht unterkriegen, wie mir in diesem Moment bewusst wird.
„Hast du einen neuen Auftrag?“ ertönt Tinas Stimme und reisst mich aus meinen Überlegungen.
„Sie sucht Ihren Sohn.“
„Das müsste kein Problem für dich sein, oder?“ meine Schwester lächelt mich zuversichtlich an.
„Das wird sich herausstellen.“
„Ach ja, bevor ich es vergesse. Herr Kampmann hat vorhin angerufen. Er hat deine Nachricht erhalten und einem Treffen mit seiner Nichte zugesagt.“
„Das sind ja gute Neuigkeiten.“ Ich kann meine Freude kaum verbergen und sehe meine Schwester mit einem strahlenden Lächeln an.
„Soll ich mich um einen Treffpunkt für die beiden kümmern?“
„Ja, gerne.“
2.
Vor bereits zwei Wochen kam Frau Kyssen in mein Büro, um sich meine Dienste zu sichern. Nur leider bin ich mit meinen Nachforschungen nicht weit gekommen. Weder Tina noch ich haben eine Spur von diesem Ian Kyssen verfolgen können.
Nachdem er in drei verschiedenen Erziehungsanstalten war, die in der ganzen Ostschweiz verstreut sind, in ein weiteres Kinderheim im Kanton Luzern kam, in dem er anscheinend mit fünfzehn aufgenommen wurde, verlieren wir seinen Weg. Und obwohl mir sein letzter Aufenthaltsort bekannt ist, kennt niemand von den Angestellten im Kinderheim Schorenstein einen Ian Kyssen. Auch auf den Listen der eingetragenen Kinder wurde kein solcher Name gefunden.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ian nicht gefunden werden möchte und eine falsche Fährte gelegt hat, um solche wie mich, die nach ihm suchen, zu verwirren. Entweder wurde absichtlich ein falsches Heim angegeben oder aber er hat seinen Namen geändert. Aber an dem Tag, an dem Ian im Schorenstein hätte aufgenommen werden sollen, kam kein einziger Neuling in das besagte Kinderheim.
Weder das Suchen auf Facebook oder Twitter, als auch alles googeln, half uns nicht weiter. Erneut gehe ich alle Informationen durch, die ich über diesen Jungen, der bald seinen dreissigsten Geburtstag feiert, gesammelt habe ohne etwas Neues zu entdecken.
Ich stemme den Kopf in meine Hände und überlege angestrengt, was ich weiter unternehmen könnte, um den Sohn von Emma Kyssen aufzuspüren. Bin ich vielleicht an dem Punkt angelangt, wo ich die Suche beenden sollte? Ian möchte nicht gefunden werden, daran zweifle ich nicht mehr. Aber wenn ich an den Gesichtsausdruck und an die verzweifelten Augen seiner Mutter denke, kann ich nicht einfach aufgeben und alles in den Aktenordner legen, ohne doch noch alles in meiner Macht stehende unternommen zu haben, um meiner Kundin zu helfen.
Ein Klopfen unterbricht meine verzweifelten Gedanken. Ich hebe den Kopf und erkenne Tina in der Tür, die ein gewinnendes Lächeln auf dem Gesicht trägt.
„Du hast einen Gast.“ verkündet sie mir fröhlich. „Hast du Zeit?“
„Wer ist es denn?“ Hoffentlich nicht Frau Kyssen, füge ich im Stillen hinzu.
„Herr Kampmann möchte dich sehen.“
„Ich komme gleich.“
Nachdem meine Schwester das Büro verlassen hat, erhebe ich mich aus meinem Stuhl, streife meinen Rock glatt und werfe einen Blick in den Handspiegel, den ich aus der obersten Schublade genommen habe und fahre mit meinen Fingern kurz durch die Haare, die während meinem quälendem Grübeln etwas durcheinander geraten sind.
Schon wenige Sekunden später stehe ich vor meinem ehemaligen Kunden und strecke ihm meine Hand entgegen.
„Guten Tag Herr Kampmann. Schön Sie zu sehen.“
„Die Freude ist ganz meinerseits.“
„Wollen wir in mein Büro gehen?“
„Gerne.“
Wir gehen nebeneinander in mein Arbeitszimmer.
„Nehmen Sie bitte Platz.“ und deute auf den runden Holztisch, der in der linken Ecke meines Büros steht. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Einen Kaffee, Wasser, Orangensaft?“
„Kaffee klingt gut.“
Ich mache einen Schritt in den Flur heraus und bitte Tina um zwei Kaffees. Danach setze ich mich Herr Kampmann gegenüber hin und noch bevor ich ihn fragen kann, was seinen Besuch zu bedeuten hat, kommt er mir zuvor.
„Ich möchte mich persönlich recht herzlich bei Ihnen bedanken, dass Sie mir geholfen haben, meine Nichte zu finden und dass Sie sie dazu gebracht haben, mich zu treffen. Susi und ich sind nachher zum Mittagessen verabredet. Das wird bereits unser drittes Beisammensein.“ Die Augen des etwas älteren Mannes leuchten vor Glückseligkeit auf, als er von seiner Nichte spricht und mir von seinen ersten beiden Treffen berichtet.
„Es freut mich, dass Sie zueinander gefunden haben.“
„Das verdanke ich nur Ihnen.“
„Es gibt nichts schöneres, als jemandem wie Ihnen helfen zu können.“
„Dann möchte ich Sie mal nicht länger aufhalten. Sie haben doch bestimmt allerhand zu tun.“
Wir erheben uns aus den Stühlen und gehe zur Tür. Noch im selben Moment, als ich ihm die Hand zum Abschied entgegenstrecke, kommt mir eine Idee.
„Da fällt mir gerade etwas ein, Herr Kampmann. Sie waren doch Institutionsleiter in einem Kinderheim?“
„Ja, das war ich. Aber das ist mittlerweile schon einige Jahre her.“
„Welches Heim war es schon wieder?“
„Im Finkenheim.“
„Das war im Kanton Luzern, nicht wahr?“
„Ja, warum fragen Sie mich das?“ verwirrt blickt er mich an.
„Na ja. Ich bin gerade an einem Fall, bei dem sich alle Spuren im Sand verlieren.“
„Dann möchte diese Person nicht gefunden werden und Sie sollten es dabei belassen.“