dass das Seil immer länger und dünner wurde, auf dem er tanzte. Der Fremde blickte zum Fenster, wo ihn Alwins Blick traf. Ein paar Minuten schwiegen alle, die Stimmung war angesapnnt, Lisa hätte am liebsten in ihr Buch gebissen.
„Wir kommen bald in Mallaig an“, sagte Alwin schließlich, bloß um irgendetwas zu sagen.
„Ja, und ich steige eine Station früher aus. Aber wenn es ihr Zeitplan zulässt, besuchen Sie mich doch einmal auf meinem Anwesen!“ Alwin hob die Augenbrauen und Lisa sah eine Spur zu schnell auf. Der Fremde genoss es sichtlich, seine Mitreisenden in Erstaunen zu versetzen und legte lächelnd seine Visitenkarte auf das Amaturenbrett des Wagonfensters.
„Ich hoffe, Sie haben sich durch meine Anwesenheit in keiner Weise belästigt gefühlt. Ich weiß, ich habe nichts mehr von der britischen Reserviertheit an mir, die man uns gemeinhin zuschreibt, dafür habe ich schon zulange in Amerika gelebt. Ich bitte Sie, meine Geste nicht als Höflichkeitsfloskel abzutun. Es würde mich wirklich freuen, Sie in meinem Haus als Gäste begrüßen zu dürfen! Wie ich heraushören konnte, darf ich Sie ja in gewissem Sinn als Landsleute betrachten. Danke für Ihre kurzweilige Präsenz, ich wünsche Ihnen noch eine angenehme Reise.“ Mit diesen Worten erhib sich der Fremde. „Ach, und, ich hätte es beinahe vergessen…“ Er öffnete seine Aktentasche und nahm ein Mobiltelefon heraus. „Zur Zeit entwickeln wir ein Gerät, das bereits 46 verschiedene audiovisionelle Zusatzfunktionen beinhaltet…! Tja, unser Mobiltelefon kann schon einiges… und noch viel mehr...!“ Beflissen legte er das Telefon neben seine Karte. „Ein kleines Werbegeschenk, sozusagen. Ich wünsche Ihnen noch alles Gute!“
Lisa versuchte abermals zu lächeln und es gelang ihr sogar etwas. Ein Hochseilkünstler erblickte das Ende der Seilstrecke. Als der Fremde die Abteiltür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte sie den Kopf.
Alwin lachte laut auf und nahm die Karte in die Hand. „Mister Mac Futuroy, Director of ‚Mobiles Word Wide’, Frebur Elm, Massachusets, USA.“ Darunter stand eine Telefonnummer. Lächelnd steckte er die Karte ein, griff nach dem Telefon und schaltete es ein. „Na, wunderbar!“
„Alwin, bitte lass es da!“
„Wieso? So ein Handy kann man immer brauchen, sogar mit Internetzugang, nicht schlecht.“
„Du weißt doch, mir gehen diese Dinger schrecklich auf die Nerven und ich lege keinen Wert darauf, ein Andenken an diesen netten Zeitgenossen mit uns herumzutragen! Bitte!“
„Lisa, ich weiß, du bist…“
„Alwin, lass es liegen!“
„Und wenn Bruce Springsteen mit uns gefahren wäre? Hättest du es von ihm angenommen?“ Grinsend warf er das Telefon auf den Sitz gegenüber.
„Bruce Springsteen hat es nicht nötig, Mobiltelefone zu verschenken!“
Alwin lachte noch ziemlich oft an diesem Abend. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie Mallaig erreichten, wo sie sich in einem Hotel ein Zimmer nahmen.
Noch am selben Abend fuhr der Zug nach Glasgow zurück, um am nächsten Tag pünktlich zur Generalüberholung bei Whisley und Co, zwischen Containerhallen, etwas außerhalb Glasgows, bereit zu sein. Doch es war seine letzte Fahrt. Er stand auf dem Abstellgleis, als ein Mobiltelefon klingelte. Es klingelte einmal. Es klingelte zweimal. Es klingelte dreimal…
Die Anrainer rundherum weckte eine ohrenbetäubende Detonation, dichte Rauchwolken erhoben sich über die Containerhallen.
10 Kapitel Die Grenze schreitet voran
Eulalia und Lord Waxmore bildeten die Vorhut. Die Amerikanerin war wieder zu Kräften gekommen, überzeugt davon, doch noch nicht im Jenseits gelandet zu sein. Obwohl die Nebel an Dichte nichts zu wünschen übrig ließen, kam die Gruppe gut vorwärts. Hinter dem Kapuzenmann und den beiden Jugendlichen bildete Jim, der die amerikanische Nationalhymne in allen Vierteltonlagen sang, zusammen mit dem blinden Vampir die Nachhut. „Wann gehen denn endlich seine Alkoholreserven zu Ende?“, jammerte Pat.
„Leider nie, solange wir im Nichtigen Reich sind!“, antwortete Elester, während er mit den Metallspitzen gegen einen herabhängenden Ast schlug.
„Hier bleibt alles so, wie es war, als wir am ersten Tag in diese Welt geschleudert wurden: es gibt keine wesentliche Veränderung. Habt ihr euch nicht gefragt, warum eure Kleider nicht schmutzig und zerfetzt werden?“
„Aber essen und trinken müssen wir!“, stellte Penny Lo fest.
„Ja, das schon, aber sonst bleibt immer alles gleich!“
Irgendwann würde man hier wahrscheinlich vor Langeweile sterben!“, sinnierte das Mädchen weiter, während Draculetta tief schlafend über ihrem Schulterblatt baumelte, die Krallen im Mantel festgehakt.
„Was passiert mit den Tieren, die wir essen, und dem Wasser, das wir trinken, wenn hier alles gleich bleibt?“, wollte Pat wissen, der gerne länger über ein Problem nachdachte.
„Sie reproduzieren sich, als wäre nichts gewesen“, gab Elester zur Antwort.
„Das heißt, es gibt hier auch keinen Tod?“, wandte Penny Lo ein. Eulalia hielt mitten in ihren Ausführungen inne. Lord Waxmore musste leider darauf verzichten, schnell etwas über den Vorteil von Flachbildschirmen gegenüber herkömmlichen Fernsehgeräten zu erfahren.
„Wir können hier also nicht sterben…?“, fragte die einzig normale Erwachsene nach und fügte schnell hinzu, „aber wir lösen uns doch auf, wenn wir mehr als sieben Stunden an einem Ort verweilen. Das ist doch unlogisch!“
„Nun, auflösen schon, aber dann würden wir als Partikel herumschwirren. Stelle ich mir nicht gerade lustig vor! Tatsache ist, dass wir in dieser Welt keine Verbindung zu den Menschen und zu anderen Wesen haben. Niemand weiß etwas von uns, wir haben keinen Kontakt zur Erde, auf der Pflanzen wachsen und verblühen, hier ist alles so unveränderlich wie in einer Konservendose! In gewisser Hinsicht können wir also nicht sterben. Aber, wie gesagt, leben können wir hier auch nicht! Und irgendwann würden wir in Nichtigkeit vergehen.“
„Aber, Mister Claw...!“, nuschelte Merlot, „dann könnte ich ja alle aussaugen, und sie würden sich wieder regenerieren. Das würde mir die ewige Jagd in der Nacht ersparen!“
„Sie vergessen, lieber Vampir, es würde uns Schmerz bereiten, und Schmerz ist hier nur zu gut zu spüren, da diese Welt in ihrer Eintönigkeit selbst schon fast als schmerzlich bezeichnet werden kann!“, entgegnete Lord Waxmore und war froh, einen Moment lang eine andere Stimme als die von Eulalia zu hören. Die Sicht betrug nur noch ein paar Meter, die Nebel schienen sie einzukreisen.
„Ach, ich finde es hier gar nicht so unbequem, außer dass wir keine Unterkunft haben. Ich meine, so ein kleines grünes Waldhäuschen vielleicht, das sich nicht sofort auflöst, mit einem netten Garten und einem sehr süßen Gartenzwerg, ich liebe Gartenzwerge. Gut, das Klima ist nicht so besonders und ich vermisse ‚Das Liebesnest von Charlie und Ann’ am Dienstag Nachmittag um halb drei, aber man könnte doch… Aua!!“ Eulalia hatte sich während ihren Mitteilungen zu Elester und den Jugendlichen umgedreht. Da auch Lord Waxmore nicht geradeaus, sondern auf den Moosboden geschaut hatte, hatte die Vorhut den Metallmasten nicht gesehen, gegen den Eulalia soeben gerannt war.
„Die Grenze…, sie kommt näher!“, flüsterte Elester beinahe andächtig. Alle starrten den Pfosten hoch, der vom Waldboden aufragte.
„Ahhhh! Wie nah ist denn diese Grenze?“, fragte Eulalia entsetzt. Grenzen waren für sie seit jeher etwas Unbequemes mit all dem Fremden, das dahinter lauern mochte.
„Das weiß nur die Grenze selbst. Sie entscheidet, wann sie sich ganz offenbart. Aber eines ist gewiss: wir müssen achtsam sein!“
„Achtsam, wieso?“, fragte Pat unruhig.
„Je näher die Grenze kommt, desto näher rückt der Sumpf der Banalen Belanglosigkeiten. Das ist die Grenze des Nichtigen Reiches auf unserer Seite. Wenn wir nicht genau überlegen, was wir sagen, dann reden