die Menschen in dieser Dimension anders sind als ihr es vermutet.“
Wie zwei wissbegierige Schüler hängen Yassin und Fynn an seinen Lippen.
Malik verzieht den Mund zu einem arroganten Grinsen. „Hier kennt und respektiert mich jeder. Ich muss daher viel weniger manipulieren als bei euch.“
„Hört, hört ...“, wirft Fynn ironisch ein.
Malik ignoriert ihn. „Du wirst bald merken, dass dir die Freundschaft zu mir gewaltige Vorteile bringen wird ...“, ergänzt er hochmütig. „Und nein … Yassin … du wirst hier nicht die ganze Zeit durch die Gegend flattern wie ein übergroßer Gockel“, erklärt er den um Aufmerksamkeit heischenden und mit beiden Armen herumfuchtelnden Hünen. „Das ist nämlich auch in unserer Dimension nicht üblich!“
„Ooch!!“ Wie ein launisches Kind stapft Yassin einmal mit dem Fuß auf.
Unerwartet geduldig geht Malik auf ihn ein. „Wenn wir wieder mal da draußen spazieren gehen, darfst du fliegen, okay? Aber hier in der Stadt würden die Menschen ausflippen, genau wie bei euch zuhause. Unfälle würden geschehen und die Leute bekämen vor Schreck einen Herzanfall, da du keiner der bekannten Mantikore bist. Mal davon abgesehen, dass auch wir nicht durch die Gegend flattern wie aufgescheuchte Hühner!“
Yassin sieht es schließlich ein und zuckt zustimmend mit den Schultern. „Na gut, ich will ja niemandem schaden!“, lenkt er ein.
„Gut! Dann lasst uns weiter gehen. Habt ihr denn gar keinen Hunger?“ Malik dreht sich um und schlendert weiter. Währenddessen fragt ihm Yassin Löcher in den Bauch.
„Spinn' ich oder benimmt sich Malik hier ganz anders?“, flüstert Fynn Valerie zu. Sie lächelt.
„Du hast Recht“, stimmt sie ihm zu. „Er fühlt sich hier einfach wohler; das wird es sein. Ich selber spüre auch, wie ich mich verändere. Das ist wirklich schwer zu beschreiben. Hier herrscht eine andere … Energie … es fällt mir kein besseres Wort ein. Du wirst es sicher selbst bald spüren. Je länger wir hier sind, umso friedlicher und ruhiger fühlt es sich für dich an. Als würde unsere Welt versuchen, nur das Positive aus den Menschen zu holen. Natürlich sind wir nicht perfekt … doch diese unterschwellige Aggression, die es oft in den Großstädten deiner Dimension gibt – also, überall wo viele Menschen aufeinander treffen – die gibt es hier nicht. Die Menschen sind freundlich und unbedarft, bis auf ...“ Sie beißt sich verlegen auf die Unterlippe. Nein, sie will lieber nicht weiter erzählen. Wenn der Mantikor es nicht tut, steht es ihr erst recht nicht zu. Doch Fynn horcht natürlich auf.
„Was denn, Valerie? Bis auf … wen? Was?“ Fynns Alarmglocken schrillen. Er wusste doch, dass hier irgend etwas nicht stimmt.
Valerie lächelt ihn beschwichtigend an. „Ach, mein lieber Fynn. Es wird schon alles gut werden.“
„Valerie!“, warnt er sie leise. „Mach' mich nicht wahnsinnig und rück' endlich mit der Sprache raus!“
Sie schiebt ihre Hand unter seinen Oberarm und zieht ihn damit noch ein wenig näher zu sich.
„Über irgend etwas müssen die Leute doch reden“, beruhigt sie ihn. „Denn lediglich die Mantikore haben direkten Kontakt zum 'Hohen Rat'. Wir Menschen brauchen eigentlich keine Regierung oder so was. Wir leben miteinander und kommen gut zurecht. Doch der 'Hohe Rat' und die Mantikore haben ebenfalls eine Daseinsberechtigung. Es gibt sie seit Menschengedenken. Niemand würde es wagen, ihr Wirken oder ihre Entscheidungen anzuzweifeln. Es ist … kompliziert. Ich kann dir das nicht in ein paar Sätzen erklären. Sei einfach so wie du bist, dann wird schon alles gut werden, mein Junge!“
„Ich wurde gezeugt, um einmal hierher zu kommen, Valerie. Sie haben Pläne mit mir. Irgendetwas soll mit mir geschehen!“ Ein kalter Schauer läuft ihm über den Rücken. Die Frage nach dem 'Warum' verkneift er sich, denn ihm ist klar, dass Valerie genauso wenig eingeweiht wurde wie er.
Sie tätschelt weiter seinen Arm.
„Auch ich mache mir Sorgen um dich“, gesteht sie, doch ihre Stimme bleibt fest. „Aber eines darfst du nie vergessen: Dein Name ist Fynn Lichtermeer und das bedeutet in dieser Welt … unglaublich viel!“
Mehr kriegt Fynn aus seiner Freundin einfach nicht heraus. Wie kann sie nur annehmen, er würde sich auf seinen ausgefallenen Nachnamen verlassen?! Irgendwie war sie schon immer ein wenig verdreht … aber was soll's?!
Er atmet tief durch. Ja, jetzt spürt er es auch. Er fühlt sich super. Die Sonne scheint und ein laues Lüftchen streicht durch sein Haar. Es sind mindestens 20-23 Grad; sehr sehr angenehm. Auf der Straße herrscht wenig Verkehr und die paar Autos, die herumfahren, sind erstaunlich leise. Die Menschen schlendern, statt zu hasten. Die ganze Szenerie erinnert Fynn an seine Kindheit, als er alles noch mit anderen Augen sah. Die Sonne schien heller, die Vögel zwitscherten unschuldiger und sogar die Menschen waren friedlicher. Das stimmt natürlich nicht, doch als Kind empfindet man seine Umwelt eben anders.
Er streckt sich ein wenig und versucht, das Schild in ungefähr fünfzig Metern Entfernung zu lesen. Es hat auf jeden Fall große Ähnlichkeit mit dem Schild zu Hause. Doch als er näher kommt, lächelt er versonnen.
„Café Bohnen“ liest er und staunt. Na, da würde sich Mika aber wundern, grinst Fynn in sich hinein und beschließt, einen Blick ins Innere zu wagen. Vielleicht sieht dem blonden Kellner ja hier auch jemand ähnlich. Das wäre der Hammer!
Doch leider wird Fynns Vorfreude enttäuscht. Im Vorbeigehen erhascht sein Blick lediglich einige Gäste, die an den Tischen sitzen und Kaffee trinken. Im Hintergrund erkennt er eine junge Frau mit langen Haaren, die gerade an einer monströs großen Kaffeemaschine herumhantiert. Kein Mika, kein Wiedererkennungseffekt in welcher Form auch immer. Die Inneneinrichtung ähnelt so gar nicht dem 'Café Bohne' und die Gäste wirken irgendwie anders. Enttäuscht zieht Fynn eine Schnute. Was hatte er gedacht? Eine originalgetreue Reproduktion seiner Welt? Oder dass sie DOCH einfach nur nach Hause kommen würden? Der kurze Moment, in dem die Vier an diesem Café vorbeigehen, öffnet ihm endgültig die Augen. Es ist wirklich so! Seine Heimat ist weit weit weg … unerreichbar für ihn. Außerdem kann er nicht einfach in einen Zug steigen und nach Hause fahren! Die brutale Wirklichkeit zeigt ihr wahres Gesicht.
Yassin scheint die Verwirrung seines besten Freundes zu spüren. Er schiebt sich neben Fynn und legt einen seiner starken Arme um dessen Schultern.
„Erschreckend, was?“, murmelt er beipflichtend. „Aber wir haben ja noch uns, Mann! Wir beide, wir wissen, dass unser Zuhause woanders ist. Unsere gemeinsamen Erinnerungen kann uns keiner nehmen!“ Mit sanftem Druck zieht er Fynn noch etwas näher an sich heran.
Dieser bedankt sich mit einem beklommenen Lächeln.
„Ja, du hast Recht, Yassin! Ich bin so froh, dass du mitgekommen bist! Ohne dich wäre das alles kaum zu ertragen!“
Während sie sich leise unterhalten, folgen sie Malik den bekannten und gleichzeitig neuen Wegen in Richtung der kleinen Altstadt von Löwenherz. Lediglich an einigen Häuserfassaden erkennen sie, dass sie sich nicht in ihrer Welt befinden. Sie wurden anders gestaltet. Entweder hatte man eine andere Fassadenfarbe gewählt oder es wurden andere Fenster und Türen eingebaut.
Das Zentrum des Marktplatzes von Loewenherz bildet ein aus alten Bruchsteinen gemauerter Brunnen, der mit aus Gusseisen geschmiedeten Rosenranken und einigen Tauben verziert ist. Fynn bleibt abrupt stehen und verschränkt nachdenklich die Arme vor der Brust. Auch dieser Brunnen hier wurde wie ein mittelalterliches Zeitzeichen gemauert, doch als zusätzliche Verzierung wurden ein Lamm und ein Löwe gewählt. Das Lamm liegt zusammengekauert mit eingeknickten Vorderläufen vor dem großen Raubtier. Der riesige Löwe baut sich mit wild flatternder Mähne halb vor ihm auf. Bei seinem lautlosen Brüllen blitzen die langen Reißzähne dem Betrachter gefährlich entgegen. Beschützt oder bedroht er das wehrlose Tier? So richtig ist das nicht zu deuten.
Zuhause nennen die Einheimischen ihren Brunnen gerne „Friedensbrunnen“. Irgendwie will diese Bezeichnung